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Mord in stiller Nacht - Zwei knisternd spannende Weihnachtskrimis von Charlotte MacLeod

Charlotte MacLeod

 

Verlag DuMont Buchverlag , 2015

ISBN 9783832188993 , 464 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Zweites Kapitel

Die Ungeheuerlichkeit seines Tuns wurde Peter Shandy erst schlagartig bewußt, als er am Weihnachtsmorgen halbwegs durch das Frühstück war. Gerade, als er dabei war, eine Gabel voll ausgezeichneter Sülze zum erwartungsvollen Munde zu führen, stockte ihm die rechte Hand.

»Was ist, Mr. Shandy?« fragte der mitleidige Zahlmeister. »Sie werden uns doch nicht seekrank, oder?«

»Die Maschinen – sie haben gestoppt.«

Obwohl dies nicht der eigentliche Grund für Shandys Bestürzung war, stimmte es zufällig. Ohne erkennbare Ursache hatte der große Puls des Schiffes plötzlich zu schlagen aufgehört. Der Maschinist warf seine Serviette auf den Tisch, ließ eine blasphemische Äußerung hören und sprang die Kajütstreppe hinab. Der Kapitän stürzte zur Brücke, der Rangordnung gemäß gefolgt von seinem Ersten, Zweiten und Dritten Offizier. Der Steward räusperte sich respektvoll.

»Je nun, Zahlmeister, es sieht so aus, als müßten Sie und Mr. Shandy die Sülze allein aufessen.«

»Bitte geben Sie meinen Anteil mit festlichen Glückwünschen der Bordkatze«, erwiderte der Professor. »Ich glaube, ich werde meine Schwimmweste anprobieren.«

Er war nicht besonders aufgeregt. Verglichen mit dem, was ihn vielleicht daheim in Balaclava Junction erwartete, ermangelte die Aussicht auf einen plötzlichen Tod durch Ertrinken nicht eines gewissen Reizes. Außerdem schien keine unmittelbare Gefahr zu bestehen, insbesondere, da sie die Küste nach Süden hinabgefahren waren. Man warf einen Treibanker aus, um gemächlich zu dümpeln, bis die hochseetüchtigen Schlepper kämen, um sie zum Hafen zu bugsieren. Ein Hubschrauber flog über sie hinweg, um Aufnahmen für das Fernsehen zu machen. Shandy blieb außer Sicht und grübelte über seine Verruchtheit nach.

Als durchaus ehrenwerter Mann konnte er nur eine Handlungsweise erkennen, und dafür entschied er sich. Als sie im Trockendock von Newport News anlegten, packte er seine Tasche, wünschte seinen neuen Kameraden Lebewohl und nahm den nächsten Greyhound nach Balaclava Junction.

Es war, wie der Busfahrer mit sehr häufigen Wiederholungen bemerkte, eine gräßliche Art, Weihnachten zu verbringen. Als er an einer Raststätte einen fettigen Cheeseburger aß, dachte Shandy an Elizabeths Roastbeef und ihren Yorkshire-Pudding. Während sie im gefrorenen Matsch über glatte Straßen holperten, träumte er von ihren Zitronen-Törtchen. Aus verkrampftem Schlummer wachte er steif und fröstelnd auf, um zu bedauern, daß er die Sülze der Bordkatze gespendet hatte, und fiel wieder in den Traum, in dem ihn daheim im Backsteinhaus auf dem Crescent jemand erwartete, um ihm ein heißes Mahl zu bereiten.

Natürlich würde niemand da sein. Mrs. Lomax war über die Feiertage zu Besuch bei ihrer verheirateten Tochter und hätte heute ohnehin nicht gearbeitet. Als er in der kühlen Dämmerung des 26. Dezember ausstieg, war kein einziger verspäteter Zecher zu sehen – nicht einmal das Teer-und-Feder-Komitee, das er halbwegs erwartet hatte. Der Professor schlug seinen Mantelkragen so hoch, wie es ging, und begann den steilen Aufstieg zum Crescent, wobei er sich fragte, an welcher Stelle er mit dem blinkenden und dröhnenden Beweis seines schlecht bedachten Streiches konfrontiert würde.

Er wurde nicht. Das Backsteinhaus stand still und dunkel da. Er hätte sich denken können, daß die wackeren Männer von Balaclava mit solchen Kleinigkeiten wie verschlossenen Türen und einbruchsicheren Schaltkästen fertig würden. Irgendein Ingenieurstudent mit widerrechtlichem Eindringen als Nebenfach mußte die Schalter ausgeschaltet haben.

Erleichtert, aber etwas pikiert, seine ästhetische Bombe so völlig entschärft zu finden, steckte Shandy den Schlüssel ins Schloß, stieß die Haustür auf, die seine Mitverschwörer wie ein riesiges Weihnachtsgeschenk mit einer Krebsgeschwulst aus kitschigen Fliegenpilzen in der Mitte eingewickelt hatten, und stapfte hinein. Er zog Mantel, Hut und Schal aus und hing sie in den Schrank in der Diele. Dann streifte er seine Galoschen und Schuhe ab, denn seine Füße waren vom kalten und zu langen Sitzen geschwollen. Er wackelte mit den Zehen. Trotz allem war es gut, daheim zu sein.

Jetzt etwas essen. Auf Socken tappte der Professor den engen Flur hinab. Die Fakultätsmensa würde erst in ein paar Stunden öffnen. Außerdem hatte er sowieso kein Bedürfnis, sich aus dem gerade erst wiedergewonnenen Heiligtum zu wagen. Es mußte doch etwas Eßbares in der Küche sein. Heiße Suppe wäre genau das richtige. Shandy war ziemlich gut im Dosenöffnen.

Auf Nahrung versessen, vergaß er, darauf zu achten, wohin er trat. Ein scharfer Schmerz bohrte sich in seine rechte Fußsohle, der Fußboden bewegte sich, und er landete platt auf dem Rücken.

Peter Shandy war nicht verletzt, denn der Flurläufer war dick, aber er war überaus verärgert. Er erinnerte sich an die blasphemische Äußerung des Maschinisten, als die Schiffsmotoren ausgefallen waren, und bedachte damit die Männer aus Boston und ihre Sorglosigkeit, mit der sie irgend etwas dort hatten fallen lassen, wo er mit Sicherheit darauf treten würde.

Als er das Deckenlicht angedreht hatte, bediente er sich einer weiteren Verwünschung. Die Ursache seines Sturzes war eine Murmel gewesen, eine seiner eigenen, die ihm vor langer Zeit eine Nichte von Elizabeth geschenkt hatte. Dies ungebärdige Wesen namens Alice hatte ihn immer gern im Backsteinhaus besucht. Alice war mittlerweile verheiratet, wohnte weit weg und schickte ihm Schnappschüsse von ihren Babys statt der Pastell- und Buntstift-Kreationen, mit denen sie sich in vergangenen Jahren so liebevoll abgemüht hatte.

Die meisten von Alices Geschenken waren zerfallen, aber Peter Shandy hatte noch ihre achtunddreißig Glasmurmeln in der kleinen Glasschale, in der sie gekommen waren. Ab und zu zählte er sie nach und rief sich den atemlosen Bericht des kleinen Mädchens ins Gedächtnis, wie man das faszinierende innere Craquelé herstellte.

Es war eine blaue Murmel, auf die er getreten war. Es gab sieben blaue Murmeln, vier helle und drei dunkle. Dies war eine dunkle, die auf dem gemusterten Läufer kaum zu erkennen war. Das erklärte seinen Sturz, nicht aber, wieso die Murmel auf dem Fußboden lag statt auf der Wohnzimmer-Etagere.

Einstweilen von seinem Streben nach etwas Suppe abgelenkt, trat Shandy ins Wohnzimmer. Weitere Murmeln rollten unter seinen ungeschützten Füßen. Alle achtunddreißig mußten verstreut worden sein, aber wie? Die Arbeiter aus Boston waren geschickt und versiert gewesen. Außerdem hatten sie keine Gelegenheit gehabt, sich der Etagere zu nähern, die weitab von jeder Tür und jedem Fenster genau in derselben Ecke stand, wo er sie vorgefunden hatte, als er das Haus vor achtzehn Jahren von einem scheidenden Professor übernommen hatte.

Ihm fiel ein, daß er unmittelbar vor dem Aufbruch eine letzte Runde durch alle Zimmer gemacht hatte, um sich zu vergewissern, daß sein Plan in allen Teilen treulich befolgt worden war. Er konnte sich zwar nicht daran erinnern, die Murmeln auf der Etagere gesehen zu haben, hätte sie aber mit Sicherheit unter den Füßen gespürt. Konnte ein kleines Tier, eine Maus oder ein Eichhörnchen, sie vom Bord gestoßen haben? Das hätte schon ein muskulöser Nager sein müssen. Jedenfalls würde er sie besser aufsammeln, bevor er noch einmal ausrutschte.

Die Schale lag, glücklicherweise ganz, auf dem Teppich. Shandy kroch über den Fußboden und zählte laut mit, während er die flüchtigen Kugeln in ihr Behältnis legte.

»Vierunddreißig, fünfunddreißig, sechsunddreißig, und die eine, auf die ich im Flur getreten bin. Eine muß noch da sein. Gelb mit braunen Schlieren.«

Aber wo? Die Zimmer waren klein und übersichtlich. Nicht einmal, als er sich platt hinlegte und über die Dielen spähte, konnte Shandy einen brüchigen Schimmer entdecken. Er durchsuchte den Flur, rückte Stühle, und zuletzt fiel ihm ein, hinters Sofa zu schauen. Seine Murmel fand er nicht. Er fand Jemima Ames.

Die Hilfsbibliothekarin war tot, kein Zweifel. Sie lag auf dem Rücken und starrte mit demselben kalten, fischigen Blick zu ihm hinauf, den er gesehen hatte, als sie ihm das aus der Weichspüler-Flasche ausgeschnittene Bouquet überreicht hatte. Ihr Mund stand ein bißchen offen, als ob sie im Begriff wäre, eine letzte Mahnung über die Pflichten eines Crescent-Bewohners loszulassen, aber das würde sie nie mehr tun. Die Leiche hatte etwas Gesetztes an sich, als ob sie schon eine Weile da gelegen hätte.

Die Todesursache schien klar zu sein. Eine kleine, aus der Küche geholte Trittleiter lag neben ihr, und ihr Kopf lehnte an der Kante der flachen obersten Stufe. Warum sie den Schemel bestiegen hatte, darüber gab ein Nikolausgesicht aus Plastik, das auf ihrer Brust lag, schweigend Auskunft. Shandy fühlte sich wie ein Mörder, als er zum Telefon hinübertappte und die Universitätswache anrief. »Grimble, Sie kommen besser hierher. Hier spricht Peter Shandy.«

»Ja? Wo haben Sie gesteckt?«

»Ich wurde, eh, unerwartet aus der Stadt gerufen.«

»Sie haben wohl nicht Mrs. Ames mitgenommen, so ganz zufällig?« Grimble meinte offenbar, er sei witzig.

»Nein, aber ich, eh, habe sie jetzt hier bei mir. Deswegen rufe ich an.«

»Warten Sie. Ich bin gleich drüben.«

Shandy legte den Hörer auf die Gabel. Grimble hatte Ausschau gehalten nach Jemima, also mußte sie am Weihnachtstag oder sogar einen Tag früher als vermißt gemeldet worden sein. Das konnte bedeuten, daß sie fast die ganze Zeit, die er weg gewesen war, hier gelegen hatte. Ihr Mann würde mindestens vierundzwanzig Stunden...