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Jetzt wirds ernst

Robert Seethaler

 

Verlag kein & aber, 2012

ISBN 9783036991146 , 304 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

KASPERLS TOD

Mit sechs Jahren kam es zu meiner ersten Begegnung mit dem Theater. Eines Morgens lag ein kleines rosarotes Kärtchen neben meiner Kakaotasse auf dem Frühstückstisch. Eine Eintrittskarte mit gestanzten Abrisslöchern. Immer wieder musste mir Mutter die ernsten Anweisungen darauf vorlesen: Eintritt für ein Kind, keine Ermäßigung, Beginn dann und dann, Reihe dort und dort, Sitz so und so. Der Titel des Stückes lautete Kasperls geraubtes Picknick.

An einem trüben Regennachmittag bestiegen wir die Straßenbahn und fuhren die paar Stationen bis ans andere Ende der Stadt. Es war über Nacht kalt geworden. Draußen dampfte der nasse Asphalt und die Menschen hasteten mit Hüten, Schirmen und hochgeschlagenen Krägen geduckt durch die Straßen, während ich wohlig eingezwängt zwischen meinen Eltern saß, das unregelmäßige Ruckeln der Straßenbahn unterm Hintern und eine seltsam prickelnde Erregung in der Brust.

Gleich gegenüber der Haltestelle befand sich das Theater. Beziehungsweise das in den Fünfzigerjahren hingewürfelte Volkshochschulgebäude mit angeschlossener Mehrzweckhalle. Die Veranstaltung schien jedenfalls gut besucht zu sein. Da es mittlerweile wie aus Kübeln schüttete, drängelten sich die Leute im Eingangsbereich. Es herrschte ein brutales Geschiebe und Getrampel wie bei einer dieser afrikanischen Rinderherden während der verzweifelten Überwindung einer lehmigen Flussbettböschung.

Mutter nahm den Kampf auf. Entschlossen packte sie Vater und mich an den Händen, stürzte sich ins Gewimmel und begann sich wild durch die dampfenden Leiber zu rempeln.

Drinnen dann die Verabschiedung. Mutters Gesicht glänzte nass. Ein Gemisch aus Schweiß und Trennungstränen. Vater nickte mir zu und lächelte aufmunternd. Ein Typ in grauer Uniform nahm meine Karte entgegen und riss sie in der Mitte auseinander. Danach wurde ich an den Schultern gepackt und in den hell erleuchteten Saal geschoben, wo schon Hunderte Kinder in langen Stuhlreihen dicht gedrängt nebeneinanderhockten und gespannt auf die leere Bühne starrten. Ich wurde an meinen Platz geschoben, ziemlich weit vorne und fast in der Mitte. Da saß ich, eingeklemmt zwischen einem winzigen Mädchen und einem fetten Riesen von mindestens sieben Jahren, und traute mich nicht, mich zu rühren.

Es war laut, warm und feucht. Ein unangenehmer Geruch lag in der stickigen Treibhausluft. Ich dachte an die Eltern. Ich sah sie draußen auf der Straße durch den Regen eilen, Hand in Hand, mit wehendem Mantel und flatterndem Rock. Ich sah sie über die Pfützen hopsen, lachend, mit vor Vergnügen weit aufgerissenen Mündern. In immer weiteren und höheren Bögen sah ich die beiden davonspringen, bis sie schließlich endgültig abhoben und in Regenrinnenhöhe um die nächste Häuserecke flogen. Ganz leise hörte ich Mutters helles Quietschen hinter der grauen Regenwand verklingen.

»Abbeißen?«

Der fette Riese hielt mir seine Semmel entgegen. Eine gelbliche, dickflüssige Masse quoll daraus hervor und lief über seine Finger. Ich schüttelte stumm den Kopf und bemühte mich, nicht hinzusehen.

»Macht nichts«, sagte der Riese ernst, stopfte sich die komplette Semmel in den Mund und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich der Hosenstoff eng über den weich bebenden Schenkelspeck spannte.

Das Klingelzeichen ertönte. Gleich darauf wurde es dunkel. Musik erklang und plötzlich erstrahlte die Bühne im grellen Licht. Da, wo eben noch ein dunkles Loch in der Mehrzweckhalle klaffte, erschien nun ein sonniger Wald aus bemalter Pappe und Draht. Eine Weile passierte nichts, dann wurde die Musik leiser, etwas regte sich hinter einem Busch, und Kasperl trat auf.

»Da sind ja die Kinder! Seid ihr alle daaa?!«, schrie er und ließ den Zipfel seiner Mütze kreisen. Sofort brüllte der komplette Saal einstimmig auf:

»Jaaaa!«

Ich blieb still. Dieser Kasperl gefiel mir nicht. Unsympathischer Bursche. Spazierte einfach so im Wald herum, hatte eine Idiotenmütze auf dem Kopf und stellte dumme Fragen.

Aber jetzt war er nun mal da und die Kinder auch, und es konnte mit der Geschichte losgehen. Es gab nämlich ein Problem: Eigentlich wollte Kasperl mit seinen Kumpeln Eichhorn und Frosch ein Picknick veranstalten, doch der Picknickkorb war weg. Einfach verschwunden. Und natürlich hatte Kasperl dazu eine eigene Theorie entwickelt: Ein Zauberer sollte hinter der Angelegenheit stecken. Und zwar nicht irgendein Zauberer, sondern der größte, gemeinste und hässlichste Zauberer der ganzen Gegend!

Ein Raunen durchlief die Sitzreihen. Eine Welle der Empörung. Entsetzen. Wut.

Kasperl hatte natürlich gleich einen Plan. Schnell wurde aus ein paar Blättern und Ästen ein zweiter Picknickkorb gebastelt und danach mit Hilfe des Hauruck-Gebrülls des Publikums eine Grube im Waldboden ausgehoben. Mit einem Seil wurde der Korb hinuntergelassen, die Grube wurde abgedeckt, die Falle war fertig, alle freuten sich, Kasperl klatschte in die fingerlosen Hände, Eichhorn und Frosch machten groteske Sprünge, und es wurde ein Lied gesungen.

Die Drei waren so beschäftigt mit ihrer blödsinnigen Freude, dass sie nicht bemerkten, wie sich im Hintergrund ein paar Zweige teilten und den Blick auf einen grauge-sichtigen alten Knacker freigaben.

Der Saal brüllte wie aus einer Kehle. Die Kinder sprangen aus ihren Sitzen hoch, trampelten, klatschten und schrien. Mir war nicht klar, warum dieser Zauberer so schlecht ankam. Alles in allem schien er recht harmlos zu sein. Gar nicht unsympathisch. Er war dürr, stand etwas verloren in der Gegend herum und hatte einen ziemlich depressiven Gesichtsausdruck. Unter seinem mit silbrigen Sternen bestickten Hut quollen graue Haare hervor, die ihm in langen Strähnen über die Schultern flossen und einen ordentlichen Haarschnitt gut hätten gebrauchen können.

Er beobachtete die drei Idioten für einen Moment. Nickte kurz und sondierte nachdenklich die Umgebung. Ich war mir nicht sicher, ob er Kasperls Plan durchschaut hatte. Ob er überhaupt kapierte, was hier eigentlich los war. Und plötzlich war mir klar, dass ich ihn warnen musste.

»He, Zauberer!«, schrie ich so laut ich konnte. »Der Kasperl und seine blöden Kumpels wollen dich in eine Falle locken! Die wollen, dass du in ein Loch fällst, und dann wollen sie dich aufspießen und braten und mit deinen Knochen Mikado spielen!«

Der Zauberer schien mich für einen Moment anzusehen. Dann tauchte er ab und es war es still im Saal. Völlige Geräuschlosigkeit. Ich hatte einen dieser magischen Augenblicke geschaffen, an dem eine ganze Halle wie auf ein Kommando einzuatmen scheint und das gemeinschaftliche Gebrüll für ein paar Sekunden erlischt.

Nur meine Worte standen hell und klar im Raum.

Auch die drei Freunde standen eine Weile regungslos und schweigend im Wald. Leise knarrte die Pappe, irgendjemand räusperte sich unter der Bühne.

Kasperl fing sich als erster wieder.

»Aha …«, sagte er und ließ ein bisschen unmotiviert seinen Mützenzipfel kreisen, »Kinder, ist denn der Zauberer wirklich hier gewesen?«

»Jaaa!«, schrien alle.

»Da müssen wir uns aber was einfallen lassen, oder Kinder?«, sagte Kasperl und schien jetzt wieder einigermaßen den Überblick zu haben.

»Jaaa!«, brüllte der Saal.

Und mitten drinnen ich, zitternd vor Wut und hilfloser Aufregung. Diese Idioten. Diese hirnverbrannten Idioten! Offenbar kapierten sie nichts. Nicht das Geringste. Nur ich, ich als Einziger sehe das Unheil nahen. Die Ungerechtigkeit. Die Katastrophe.

Und auf einmal geht alles schnell. Die drei Helden stecken ihre Köpfe zusammen, tuscheln, kichern, tun wichtig, beratschlagen sich mit dem Publikum, alle sind sich einig, alle freuen sich, ein weiteres Lied wird gesungen, dazu wird ausgiebig im Kreis getanzt, anschließend versteckt man sich am Bühnenrand und wartet. Tatsächlich erscheint gleich darauf auch wieder der Zauberer. Er zittert ein wenig hilflos mit seinem Zauberstäbchen in der Luft herum und marschiert dann nichts ahnend direkt auf den Picknickkorb zu. Kasperl grinst. Das Publikum feixt. Neben mir beginnen die Backen des fetten Riesen zu beben vor Aufregung. Der Zauberer spaziert nickend und murmelnd auf das teuflische Loch zu. Die Kinder halten den Atem an. Kasperl kichert. Seine Augen glänzen starr wie die Augen eines Raubvogels. Seine Nase ist spitz wie ein Schnabel. Ich spüre, wie mein Herz rast. Meine Stirn brennt. Mein Hemd klebt an der pochenden Brust. Und da halte ich es nicht mehr aus. Ich springe auf, drängle mich am fetten Riesen vorbei, stolpere den Mittelgang nach vorne, remple ein Plastikblumengesteck um und klettere auf die Bühne.

Es ist heiß, das Licht ist gleißend grell, im Hintergrund höre ich die Kinder toben wie hinter einem Wall aus Watte, und vor mir hockt Kasperl mit seinem grinsenden Raubvogelgesicht. Und jetzt platzt etwas in mir. Mit beiden...