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Vater unser - Theologische Meditationen zur Einführung ins Christsein

Jürgen Werbick

 

Verlag Verlag Herder GmbH, 2011

ISBN 9783451336751 , 280 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz frei

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14,99 EUR


 

I. Vater unser im Himmel
(Gen 18,20–32; Lk 11,1–13; Röm 8,15–17)


„Jesus betete einmal an einem Ort;
und als er das Gebet beendet hatte,
sagte einer der Jünger zu ihm:
Herr lehre uns beten,
wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat“

(Lk 11,1).

„Der Geist selbst bezeugt es unserem Geist,
dass wir Kinder Gottes sind.
Wenn aber Kinder, so auch Erben –
Erben Gottes, Miterben Christi,
wofern wir mitleiden,
um auch mitverherrlicht zu werden“

(Röm 8,16–17).

Beten lernen?


Beten führt ins Innerste und ins Äußerste, in den Ursprung, aus dem die Menschen immer wieder neu Subjekt werden, zum Ich- wie zum Du-Sagen herausgefordert werden – und in die Gemeinschaft. Man lernt und beginnt es, indem man in Glaubenstraditionen hineinwächst, mitbetet, sieht, wie andere beten. Die bei ihm waren und mit ihm zogen, sahen, wie Jesus betete. Selten nur trauen wir uns hinzuschauen, wenn Menschen beten. Es käme uns indiskret vor. Die Jünger Jesu schauen hin. So möchten sie beten können, voller Kraft und innerer Sammlung. Ihr Meister soll sie beten lehren, wie der Täufer Johannes seine Jünger beten lehrte. Wir erwarten kaum von den religiösen Experten, dass sie uns beten lehren. Meist wissen wir gar nicht, wie sie beten. Sie lassen uns nicht zuschauen und „reinschauen“ – von wohltuenden Ausnahmen abgesehen; Karl Rahner gehörte zu ihnen; und Martin Buber.1

Aber kann man das überhaupt lernen: ein Beten voller Kraft und Sammlung? Kann man es lernen, mit den elementaren Gebetsverlegenheiten zurechtzukommen: mit der ratlosen Frage, was das denn nützt? Kann man zurechtkommen mit den ins Leere gesprochenen Worten ohne Antwort und Resonanz; mit dem schlechten intellektuellen Gewissen, beim Beten etwas ganz Naives zu tun: Gott zu behelligen mit meinen kleinen und großen Sorgen? Wer könnte uns lehren, es mit dem Beten dennoch zu versuchen? Menschen, die wir beten sehen und denen wir zutrauen, dass das Beten bei ihnen von innen kommt und hindurchgeht durch alle Zweifel und Verlegenheiten, hindurchgeht durch ihr Leben, so dass wir es ahnend sehen können – ohne dass sie uns etwas vormachen oder „andemonstrieren“ wollen.

Damit fängt es immer wieder an, das Beten-Lernen. Andere haben damit angefangen; und ich staune, wenn ich sie beten sehe. Es geht leichter, wenn ich mitgenommen werde beim Beten, wenn andere es schon angefangen haben und ich mich anschließen darf. So ist es ja schon mein ganzes Leben lang: dass ich mich anschließen und meine Gebetsverlegenheiten mitbringen kann, nicht mit ihnen allein bleiben und nicht in ihnen geistlich verhungern muss. Glaube und Hoffnung und damit auch das Beten sind – so sagt es Fulbert Steffensky – „zu schwer für den Einzelnen. Man muss sich vergesellschaften, um zu leben“.2 Man muss sich zum gemeinsamen Gebet zusammenfinden, um den Mut zu fassen, dem allgegenwärtigen Zweifel standzuhalten.3 Vater unser: keiner ist allein, wenn er mit dem Beten anfängt, wenn er von dieser Anrede Gebrauch zu machen und sich selbst darin auszusprechen versucht.4

Wie kann ich beten?


Aber dann kommt es unvermeidlich doch zu der Frage: Wie kann ich beten? Ich bin es ja, der für sein Beten die Verantwortung übernehmen und den Mut aufbringen muss, damit anzufangen. Es fehlt meist nicht an den „guten Texten“. Das ja mitunter auch – man erinnere sich an die papierenen oder kunstgewerblichen Texte, die uns in der Liturgie oder in geistlicher Literatur so häufig zugemutet werden. Es fehlt noch viel mehr am guten Anfang. Wie kann ich es anfangen?

Vater unser im Himmel, so fängt Jesus an vorzubeten. Jetzt könnte man sich Informationen darüber holen, was Jesus gemeint haben könnte mit „im Himmel“ (oder wörtlich: „in den Himmeln“), Informationen über das „antike Weltbild“; Informationen auch darüber, warum das so nur bei Matthäus steht, nicht aber bei Lukas; Informationen schließlich darüber, warum Jesus lehrt, Gott mit „Vater“ anzureden. All das könnte beim Beten irgendwann weiterhelfen. Aber es wird mir kaum helfen, damit anzufangen. Lassen wir Jesus zuerst ganz unmittelbar zu uns sprechen, zu mir!

Im Himmel


Diese Unendlichkeit! Ein Mensch der Antike im ländlichen Palästina konnte sich das wohl noch weniger vorstellen als wir heute: das Welt-All, in dessen unendlichen Weiten man sich nur verloren vorkommen kann, weniger als ein Staubkorn. Bezogen auf die Zeiträume des Alls blitzt mein Leben kaum eine Nanosekunde auf, um sofort wieder zu verlöschen. In der Perspektive dieser Unendlichkeit bin ich ein Nichts, beinahe. Und Er, wenn Er Gott ist, Er ist der Herr dieses Alls. Es ist, weil Er es wollte. Auf Seinen guten Willen geht es zurück. Ist es nicht grenzenlos naiv – oder vermessen –, wenn ich Ihn anspreche: Mein Vater? Wenn ich Ihn ins Gespräch zu ziehen versuche über all das, was mich bedrängt, was mir fehlt?

Ich rede ja nicht nur von den großen Anliegen, die die ersten drei Bitten des Vaterunsers bestimmen: dass Gottes Name geheiligt werde, Sein guter Wille geschehe und das Reich Seiner Gerechtigkeit endlich komme. Ich rede von meinem Alltag; ich rede von dem, was mich leben ließe und mir doch so oft fehlt: Nahrung fürs Leben, für ein Leben, das ich gern lebe. Ich spreche von dem, was mich niederdrückt und an den Rand meiner Kräfte bringt: Schuld, Teufelskreise des Bösen, aus denen ich so wenig entrinnen kann. Ich spreche von meiner Mutlosigkeit, meiner Sisyphus-Existenz – hier unten auf der Erde, in den Niederungen, die kaum jemand wahrnimmt, eben nur von meinem und deinem Alltagsleben unter einem Himmel, der sich unendlich fern und unendlich teilnahmslos über allem Leben und Streben und Sterben und Totsein hinstreckt.

Vater


Zu Dem, Der die Himmel umfasst und hervorgehen ließ, zu Ihm soll ich Vater sagen – oder Mutter, darauf kommt es hier nicht entscheidend an.5 Zu Ihm darf ich kommen mit dem, was mich heute umtreibt. Er hat ein Ohr dafür. Er nimmt es wichtig. Es bedeutet Ihm etwas. Das ist kaum zu glauben. Völlig unvorstellbar. Verglichen damit sind alle weiteren Unvorstellbarkeiten und Verlegenheiten des Glaubens kaum der Rede wert. Wer zu beten anfängt, der versucht sich am Kaum-Verstehbaren. Er versucht einen Perspektivenwechsel.

Da ist die Perspektive der Beobachter. Sie nehmen in den Blick und analysieren, was sich in den unendlichen Zeit-Räumen abgespielt haben mag, noch abspielen könnte. Die Naturwissenschaften weisen uns ein in diese Beobachterperspektive, in der wir uns nur wie ein Fast-Nichts vorkommen werden. Aber immerhin sind wir es ja, die sich zu dieser Perspektive aufschwingen können. Wenn wir in ihr verharren, werden uns die Worte „Vater unser“ unsinnig erscheinen. In dieser Perspektive gibt es nur „Fakten“ – in unendlichen Räumen und Zeiten verschwindende Größen. Und wir selbst sind eine dieser verschwindenden Größen, kaum des Hinschauens wert; quantité négligeable, beim Blick aufs Große und Ganze zu vernachlässigen. Jesus ruft uns in die andere Perspektive: Es gibt eine Innenseite der Wirklichkeit, unsere Innen-Welt, die Innen-Welt Gottes, seines unendlichen Wohlwollens. Die Welt-Perspektive bloßer Beobachtung, in der es ganz und gar nicht auf mich ankommt, in der es praktisch keinen Unterschied macht, ob es mich gibt, was ich bin, erhoffe, erleide, was mir Freude macht – diese Weltperspektive ist nicht alles. Er nämlich, Er lässt es auf mich und auf jeden von uns unendlich ankommen.

Beten lehren hieße „über alles Worthafte hinaus: sich hinwenden lehren.“ Nicht die Abwendung muss sein, die Abwendung des beobachtenden Blicks von der Welt der Tatsachen, sondern darin und darüber hinaus die Hinwendung. Das All der Tatsachen und Fakten aber „bietet einem für den Akt der Hinwendung keinen Anhalt mehr. Nicht in die Ferne, nur in eine nicht mehr mit dem Weltraum koordinierbare Nähe und Vertrautheit hin kann sie geschehen.“ Und so ist hier „das erste, das aus dem Akt [der Hinwendung] selber hervorgehende Wort […] an den Vater gerichtet; erst danach wird der Herr der Basileia angerufen; so ist die Folge auch im jüdischen Gebet.“6

Größenwahn oder Gottvertrauen?


Es gibt nicht wenige, für die ist dieser Gebetsglaube nichts anderes als die kranke Ausgeburt des Größenwahns – oder der Hilflosigkeit von Menschen, die es nicht aushalten, angesichts unendlicher Weiten und Zeiten fast nichts zu sein. Aber wenn ich selbst fast nichts bin, wie könnte ich da die „Fast-Nichtse“, die die anderen wären, noch wichtig nehmen? Auch bei ihnen würde es ja fast keinen Unterschied machen, ob sie sind oder nicht und wie es um sie steht.

Der Gebetsglaube glaubt gegen das Fast-Nichts an. Er glaubt daran, dass es auf dich, auf mich, auf sie ankommt, weil Er es auf uns ankommen lässt. Der Betende nimmt sich ein Herz – und nimmt sich so wichtig, dass er Gott anzusprechen wagt, den Unendlichen, Unermesslichen. Es ist fast unbegreiflich, dass er das tut und das zu glauben wagt:7 den Unendlichen, der ein Herz für uns hat; und dass die Wirklichkeit eine Innenseite hat, in der es darauf ankommen kann; und dass wir uns ein Herz nehmen, zu Ihm zu beten, weil Er ein Herz für uns hat – eine Innenwelt, in der die Verlorenheiten in den unendlichen Erstreckungen der Räume und Zeiten bedeutungslos werden angesichts der Intensität, in der wir uns von Ihm...