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Keynes für Jedermann - Die Renaissance des Krisenökonomen

Gerald Braunberger

 

Verlag Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, 2010

ISBN 9783899814750 , 264 Seiten

Format ePUB

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2 PHILOSOPHIE, KUNST UND BLOOMSBURY


„Das wirtschaftliche Problem ist nicht – wenn wir in die Zukunft schauen – das permanente Problem der menschlichen Rasse.“

John Maynard Keynes

Moores Philosophie


John Maynard Keynes wuchs in einem Elternhaus auf, in dem Gespräche über Philosophie und Moralwissenschaften an der Tagesordnung waren. Während seiner Studentenzeit lehrten in Cambridge vier Philosophen, und seine Doktorarbeit schrieb er über ein philosophisches Thema, das sich mit Fragen der Logik befasste. „Die Philosophie lieferte die Grundlage von Keynes’ Leben“, schrieb Skidelsky. „Sie kam vor der Ökonomik; und die Philosophie der Ziele kam vor der Philosophie der Mittel.“ Die moderne Ökonomik hat ihre Verbindungen zur Philosophie weitgehend abgeschnitten, doch sind die ökonomischen Ansichten von Keynes ohne seine philosophischen Neigungen sowie seine engen Freundschaften zu Künstlern nicht vollständig erklärbar. Daher lohnt es sich, auf dieses lange Kapitel seines Lebens einen Blick zu werfen.

Als junger Student erhielt Keynes im Jahre 1903 in Cambridge die Einladung, Mitglied der Cambridge Conversazione Society oder kurz, der „Apostel“, zu werden. Es handelte sich um einen im Jahre 1820 gegründeten elitären Klub, in dem sich junge männliche Studenten untereinander und mit ehemaligen Studenten begegneten. Die Mitgliedschaft war exklusiv und geheim. Die Apostel trafen sich einmal in der Woche abends; dann las ein Mitglied ein selbst verfasstes Papier vor, über das die Runde anschließend diskutierte. Ziel des Klubs war „die Erkundung der Wahrheit mit absoluter Hingabe und ohne Zurückhaltung in einer Gruppe intimer Freunde“. Skidelsky schilderte die Apostel als „clever, philosophisch, respektlos und weltfremd“, die sich vor allem mit Philosophie und Ästhetik befassten. Keynes referierte dort unter anderem über „Tugend und Glück“, „Eine Theorie der Schönheit“, „Sollen wir Melodramen schreiben?“ und „Die gegenwärtige Rolle der Metaphysik in der Gesellschaft“.

Die Apostel betrachteten sich als eine geistige Elite und den Rest der Welt als inferior. „Ist es Monomanie – diese kolossale moralische Überlegenheit, die wir fühlen?“, schrieb Keynes einem Freund aus dem Klub. Keynes besaß zu viele handfeste Interessen, um sich, wie manche seiner Kollegen, in eine Weltfremdheit zu flüchten. Aber aus dem Kreis der Apostel entstanden Freundschaften, die ein Leben lang hielten – ebenso wie die Bekanntschaft mit den Lehren des Philosophen Gordon E. Moore, die Keynes lang prägen sollten.

Der Generation von Keynes’ Eltern war die Religiosität abhandengekommen, aber noch die Generation ihrer Kinder verspürte daraus eine Leere. Wonach sie verlangten, war eine Art Ersatzreligion, die ihnen Orientierungen für ihr Leben gab. Was Keynes aus dem Werk von Moore mitnahm, beschrieb er 35 Jahre später: „Nichts hatte Bedeutung außer Bewusstseinszuständen, unseren eigenen und natürlich auch denen anderer – aber vorzugsweise unseren eigenen … Grob gesprochen wussten wir ja alle genau, was gute Bewusstseinszustände waren, und wir wussten, dass sie in der Anteilnahme an Gegenständen der Liebe, Schönheit und Wahrheit bestanden … Diese Bewusstseinszustände standen in keinerlei Beziehung zu Handlungen, Leistungen oder Folgen … Unsere Religion folgte sehr eng der englischen puritanischen Tradition, insofern, sie sich hauptsächlich mit der Rettung unserer Seelen befasste … Vielleicht war es hinreichend, dass unsere Religion keinerlei weltliche Züge besaß – mit Reichtum, Macht, Popularität oder Erfolg gab sie sich nicht im geringsten ab, im Gegenteil, all dies wurde gründlich verachtet … So wurden wir erzogen – mit Platons Konzentration auf das Gute an sich, mit einer scholastischen Subtilität, die Thomas von Aquin übertrumpfte, in calvinistischer Zurückgezogenheit von den Freuden und Erfolgen des Jahrmarkts der Eitelkeiten und gedrückt von allen Leiden Werthers. Es hinderte uns nicht daran, die meiste Zeit zu lachen, und wir genossen eine unüberbietbare Selbstsicherheit, ein Gefühl der Überlegenheit und der Verachtung für den ganzen Rest der unbekehrten Welt. Aber es war dies kaum ein Bewusstseinszustand, den ein erwachsener Mensch wirklich bei Sinnen aufrechterhalten konnte.“

Aus jenen Jahren nahm Keynes mit, dass wirtschaftliche Bedürfnisbefriedigung nicht alles ist. Außerdem wandte er sich – und das nimmt seine spätere Kapitalismuskritik voraus – gegen die Prinzipien des wesentlich von Jeremy Bentham geprägten Utilitarismus, wonach die individuelle Nutzenmaximierung auch für das Gemeinwesen nützlich ist. „Mit dem Prinzip des Nutzens ist das Prinzip gemeint, das jede beliebige Handlung gutheißt oder missbilligt entsprechend ihrer Tendenz, das Glück derjenigen Partei zu erhöhen oder zu vermindern, um deren Interessen es geht“, hatte Bentham geschrieben. In einer Welt, die nur noch durch materielle Antriebe gesteuert würde, ließ sich daraus nach Auffassung von Keynes und seinen Freunden eine Bereicherungsideologie zu Lasten anderer Menschen ableiten.

Dementsprechend folgerte Keynes noch im Jahre 1938: „Da soziales Handeln als Zweck an sich und nicht nur als trübsinnige Pflicht aus unserem Ideal herausgefallen war – und nicht nur soziales Handeln, sondern das tätige Leben überhaupt; das ökonomische Motiv und der ökonomische Maß-stab spielten in unserer Philosophie eine noch geringere Rolle als für den Heiligen Franziskus (der zumindest für die Vögel Kollekten durchführte) –, da dem so war, zählten wir zu den ersten unserer Generation, den einzigen vielleicht, die der Benthamistischen Tradition entrannen. Ich sehe in ihr jetzt den Wurm, der an den Eingeweiden der modernen Zivilisation nagte und der verantwortlich ist für ihren gegenwärtigen Niedergang. Wir pflegten immer die Christen als den Feind zu betrachten, weil sie als die Repräsentanten von Tradition, Konvention und Hokuspokus erschienen. In Wahrheit war es das Benthamistische Kalkül, welches auf der Überschätzung des ökonomischen Faktors beruhte, das die Qualität des populären Ideals zerstörte.“

Doch alle Brücken zur Vergangenheit hatten er und seine Freunde nicht abgebrochen: „Eine andere Ketzerei des 18. Jahrhunderts beerbten wir reuelos als ihre letzten Apostel. Wir zählten zu den letzten Utopisten – oder Melioristen, wie man sie manchmal nennt –, die an einen fortwährenden moralischen Fortschritt glauben, kraft dessen das Menschengeschlecht bereits jetzt aus verlässlichen, rationalen, anständigen Leuten besteht, geleitet von der Wahrheit und von objektiven Maßstäben, Leuten, die man ohne Risiko aus den äußeren Zwängen der Konventionen und traditionellen Vorschriften und unveränderlichen Verhaltensregeln entlassen kann …“ Das war, wie Keynes später erkannte, eine ungebührlich optimistische Annahme.

Bloomsbury


Die Apostel bildeten eine wichtige Erfahrung des jungen Keynes, fast noch nachhaltiger wurde jedoch seine Prägung durch Bloomsbury, über das sich längst Legenden gebildet haben. „Bloomsbury“ kennzeichnet eine Gruppe von Freunden, die überwiegend in dem gleichnamigen Londoner Stadtteil lebten und sich über Jahrzehnte trafen. Die Gruppe bestand aus Künstlern, Schriftstellern, Kritikern und – mit Keynes – einem Ökonomen. Eine ganze Reihe dieser Bloomsberries („Bloomsbeeren“) wie sich selbst nannten, machte sich in ihrem jeweiligen Berufsfeld einen Namen, sie galten als abgehoben, einige auch als etwas weltfremd, und neben Anerkennung erfuhren sie zu ihrer Zeit überwiegend Kritik, weil sie sich dem Zeitgeschmack versagten und herrschende Konventionen attackierten. Viele Kritiker haben ihnen unterstellt, zwar getrennt geschlagen, aber über eine verbindende Agenda verfügt zu haben, die sie letztlich gemeinsam und in einem gesellschaftskritischen Sinne handeln ließ.

Diese Wahrnehmung wurde von keinem Mitglied der Gruppe bestätigt, aber von mehreren entschieden zurückgewiesen. „Es hat oft Gruppen von Menschen gegeben, Schriftsteller und Künstler, die nicht nur Freunde, sondern bewusst in einer künstlerischen oder sozialen Doktrin oder Zielsetzung verbunden waren“, erläuterte im Nachhinein der Schriftsteller und Historiker Leonard Woolf. „Unsere Gruppe war ziemlich anders. Ihre Grundlage war Freundschaft, die in einigen Fällen zu Liebe und Heirat führte. Aber wir besaßen keine gemeinsame Theorie, System oder Grundsätze, zu denen wir die Welt bekehren wollten. Wir waren keine Bekehrten, Missionare, Kreuzfahrer oder auch nur Propagandisten.“

Bloomsbury entstand vor dem Ersten Weltkrieg durch Treffen von zuvor in Cambridge ansässigen ehemaligen Studenten – meist „Apostel“ wie Keynes – mit den in Bloomsbury wohnenden Kindern, zwei Söhnen und zwei Töchtern, des verstorbenen englischen Autors und Kritikers Sir Leslie Stephen. Zum wichtigsten Begegnungszentrum wurde ein Mehrfamilienhaus am Gordon Square, in dem anfangs die erwachsenen Stephen-Kinder lebten, in das später aber andere Mitglieder der Gruppe, darunter auch John Maynard Keynes, einzogen. Später besaßen mehrere Mitglieder der Gruppe Landhäuser im Süden von London. Bloomsbury bildete für Keynes zumindest bis zu seiner Bekanntschaft und Heirat mit Lydia Lopokova eine emotionale Heimat.

Bloomsbury war kein Klub mit fester Mitgliedschaft, und insofern gehen die Schilderungen auseinander, wer alles dazugehörte. Weitgehend Einigkeit besteht darüber, dass der Kern aus rund einem Dutzend Personen gebildet wurde, zu denen unter anderem der Schriftsteller und Kritiker Lytton Strachey, John Maynard Keynes, der Kunstkritiker Clive und die Malerin Vanessa Bell (geborene Stephen), der Schriftsteller und Historiker...