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Die Ernte des Bösen - Roman

Robert Galbraith

 

Verlag Blanvalet, 2016

ISBN 9783641188580 , 672 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

3

Half-a-hero in a hard-hearted game.

BLUE ÖYSTER CULT, »THE MARSHALL PLAN«

Robins Schrei hallte von den Fensterscheiben wider. Sie wich vom Schreibtisch zurück, ohne auch nur für eine Sekunde den Blick von dem abscheulichen Objekt abzuwenden. Das blasse Bein war schlank und glatt; beim Öffnen der Schachtel hatte sie es mit dem Finger gestreift, die kalte, gummiartige Haut gespürt.

Sie schlug die Hände vor den Mund und war kaum verstummt, als auch schon die Glastür neben ihr aufflog und der gut eins neunzig große Strike mit finsterer Miene hereinstürmte. Er hatte nicht einmal sein Hemd zugeknöpft, sodass sein dichtes dunkles Brusthaar zu sehen war.

»Was zum …«

Er folgte ihrem entsetzten Blick. Sowie er das Bein entdeckt hatte, packte er Robin grob am Oberarm und schob sie ins Treppenhaus.

»Wo kommt das her?«

»Kurier«, sagte sie und ließ sich von ihm in die nächsthöhere Etage führen. »Motorradkurier.«

»Warte hier. Ich rufe die Polizei.«

Nachdem er hinter ihr die Wohnungstür zugezogen hatte, stand sie stocksteif und mit rasendem Herzen da und lauschte seinen verhallenden Schritten. Magensäure stieg in ihrer Kehle auf. Ein Bein. Sie hatte soeben ein Bein in Empfang genommen. Sie hatte soeben in aller Seelenruhe ein Bein – ein Frauenbein in einer Schachtel – die Treppe hochgetragen. Wem gehörte es? Wo war der Rest der Frau?

Sie steuerte auf den nächstbesten Stuhl zu – ein billiges gepolstertes Metallgestell mit Kunststoffüberzug – und setzte sich, die Finger immer noch auf die betäubten Lippen gepresst. Das Paket, kam es ihr wieder in den Sinn, war an sie persönlich adressiert gewesen.

Unterdessen hielt Strike mit dem Handy am Ohr in seinem Büro am Fenster, das zur Denmark Street hinausging, nach dem Motorradkurier Ausschau. Erst als er ins Vorzimmer zurückkehrte, um das geöffnete Paket auf dem Schreibtisch einer genaueren Prüfung zu unterziehen, wurde sein Anruf entgegengenommen.

»Ein Bein?«, wiederholte Detective Inspector Eric Wardle am anderen Ende. »Scheiße, ein Bein

»Und es hat nicht mal meine Größe«, erwiderte Strike. In Robins Anwesenheit hätte er sich einen solchen Scherz niemals erlaubt. Sein Hosenbein war hochgekrempelt, sodass die Metallkonstruktion darunter zu sehen war, die ihm als rechtes Sprunggelenk diente. Er war gerade erst dabei gewesen, sich anzuziehen, als er Robins Schrei gehört hatte.

Noch während er sprach, dämmerte es ihm, dass es sich um ein rechtes Bein handelte – genau wie der Körperteil, den er selbst eingebüßt hatte. Und dass es unter dem Knie abgetrennt worden war – exakt an der Stelle, an der man sein Bein amputiert hatte. Mit dem Telefon am Ohr nahm Strike die Extremität in Augenschein. Ein unangenehmer Geruch wie von aufgetautem Tiefkühlhühnchen stieg ihm in die Nase. Weiße Haut: glatt, bleich und bis auf einen beinahe verheilten grünlichen Bluterguss auf der nachlässig rasierten Wade makellos. Die Haarstoppeln waren blond, die unlackierten Zehennägel nicht ganz sauber. Der durchtrennte Schienbeinknochen stach schneeweiß aus dem umgebenden Fleisch hervor. Ein glatter Schnitt – entweder von einer Axt oder einem Fleischerbeil, vermutete Strike.

»Ein Frauenbein, sagten Sie?«

»Sieht zumindest …«

Dann fiel ihm noch etwas auf. Auf der Wade, in unmittelbarer Nähe des Schnitts, waren alte Narben zu erkennen, die augenscheinlich nichts mit der Amputation zu tun hatten.

Wie oft war er während seiner Kindheit in Cornwall hinterrücks überrascht worden, sobald er dem trügerischen Wasser den Rücken zugekehrt hatte. Wer das Meer nicht genau kannte, unterschätzte seine Härte und Brutalität. Umso erschreckender war es dann, wenn eine Welle mit der Wucht eiskalten Metalls gegen den Körper krachte. Strike hatte sich in seinem Berufsleben den verschiedensten Ängsten gestellt, sich mit ihnen auseinandergesetzt und sie im Zaum gehalten, so gut es ging. Doch beim Anblick dieser Narben und dem damit einhergehenden unerwarteten Grauen verschlug es ihm die Sprache.

»Sind Sie noch dran?«, fragte Wardle.

»Was?«

Strikes zweifach gebrochene Nase war mittlerweile nur mehr Zentimeter von der Stelle entfernt, an der der Unterschenkel vom Körper abgetrennt worden war. Er musste an das vernarbte Bein eines Mädchens denken, das er nie vergessen hatte … Wann hatte er sie zum letzten Mal gesehen? Wie alt war sie inzwischen?

»Sie haben mich doch angerufen, oder?«, fragte Wardle.

»Ja«, sagte Strike und zwang sich zur Konzentration. »Mir wär’s am liebsten, wenn Sie die Sache übernehmen könnten, aber wenn das nicht geht …«

»Schon unterwegs«, fiel Wardle ihm ins Wort. »Ich bin gleich bei Ihnen. Halten Sie durch.«

Strike beendete das Telefonat und legte das Handy beiseite, den Blick immer noch starr auf das Bein gerichtet. Jetzt erst bemerkte er das Blatt Papier darunter. Eine ausgedruckte Nachricht. Die Army hatte ihm eine gründliche Ausbildung in Sachen Spurensicherung angedeihen lassen, daher widerstand er der fast übermächtigen Versuchung, den Zettel hervorzuziehen und die Nachricht zu lesen. Keinesfalls durfte er Beweismittel kontaminieren. Stattdessen ging er etwas unsicher in die Knie, um den Adressaufkleber zu inspizieren, der verkehrt herum auf dem geöffneten Deckel angebracht worden war.

Das Paket war an Robin adressiert. Das gefiel ihm ganz und gar nicht. Ihr Name war korrekt buchstabiert und zusammen mit der Adresse des Büros auf den Aufkleber gedruckt worden. Darunter befand sich ein weiteres Etikett, das er mit zusammengekniffenen Augen musterte, ohne den Karton auch nur um einen Millimeter zu verschieben. Der Absender hatte das Paket zunächst an »Cameron Strike« adressiert, bevor er das zweite, mit »Robin Ellacott« beschriftete Etikett darübergeklebt hatte. Weshalb hatte er es sich anders überlegt?

»Scheiße«, flüsterte Strike.

Mühsam richtete er sich auf, nahm Robins Handtasche vom Haken hinter der Tür, schloss die Glastür ab und ging nach oben.

»Die Polizei ist unterwegs«, sagte er und stellte die Handtasche vor ihr ab. »Willst du einen Tee?«

Sie nickte.

»Mit einem Schuss Brandy?«

»Du hast doch gar keinen Brandy«, sagte sie mit leicht brüchiger Stimme.

»Hast du geschnüffelt?«

»Natürlich nicht!«

Dass sie derart empört über die Unterstellung war, seine Schränke kontrolliert zu haben, entlockte ihm ein Schmunzeln.

»Du bist nur … Ich kann mir einfach nur nicht vorstellen, dass du zu medizinischen Zwecken Branntwein im Haus hast.«

»Ein Bier vielleicht?«

Sie schüttelte den Kopf. Ein Lächeln brachte sie nicht zustande.

Sobald der Tee fertig war, nahm er mit seinem Becher in der Hand gegenüber Robin Platz. Strike war groß gewachsen, ein Exboxer, der zu viel rauchte und zu viel Fast Food zu sich nahm, und dementsprechend sah er aus. Er hatte buschige Augenbrauen, eine breite, schiefe Nase und trug – wenn er nicht gerade lächelte – stets eine verdrießliche Miene zur Schau. Seine dichten, dunklen Locken waren noch feucht vom Duschen. Robin kamen auf der Stelle wieder Jacques Burger und Sarah Shadlock in den Sinn. Der Streit mit Matthew schien plötzlich eine Ewigkeit her zu sein. Seit ihrer Ankunft in Strikes Wohnung hatte sie nur einmal kurz an ihren Verlobten gedacht. Sie würde ihm wohl oder übel von diesem Vorfall erzählen müssen. Und natürlich würde er wieder wütend werden. Er war ohnehin dagegen, dass sie für Strike arbeitete.

»Hast du … es dir angesehen?«, flüsterte sie, nachdem sie ihren Becher mit dem kochend heißen Tee erst angehoben und dann wieder abgesetzt hatte, ohne einen Schluck zu trinken.

»Ja«, sagte Strike.

Sie wusste nicht, was sie sonst hätte fragen sollen. Ein abgetrenntes Bein. Das Ganze war so grässlich, so grotesk, dass ihr jedes weitere Nachbohren lächerlich und unangemessen vorgekommen wäre. Hast du es erkannt? Weshalb hat man es hierhergeschickt? Und – was am wichtigsten war – warum gerade mir?

»Die Beamten werden dir Fragen über den Kurier stellen.«

»Ich weiß«, sagte Robin. »Ich versuche schon die ganze Zeit, mich an möglichst viele Details zu erinnern.«

Unten klingelte es an der Tür.

»Das wird Wardle sein.«

»Wardle?«, wiederholte sie erschrocken.

»Von allen Polizisten kann er uns noch am besten leiden«, erklärte Strike. »Du bleibst hier, ich hole ihn.«

Es war nicht allein Strikes Schuld, dass er in der Gunst der Metropolitan Police im letzten Jahr dramatisch gesunken war. Seine beiden großen detektivischen Glanzleistungen hatten ein überschwängliches Medienecho nach sich gezogen. Verständlich also, dass die für die Ermittlungen zuständigen und von ihm ausgebooteten Beamten nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen waren. Wardle dagegen – der ihm bei der Lösung des ersten Falles behilflich gewesen war – hatte sich zumindest für eine Weile in Strikes Ruhm sonnen können, sodass ihre Beziehung nicht ganz so stark gelitten hatte. Robin indes kannte Wardle nur aus Zeitungsartikeln über den Fall. Bei Gericht waren sie sich nie begegnet.

Wardle war, wie sich herausstellte, ein gut aussehender Mann mit dichtem braunem Haar und schokobraunen Augen. Er trug eine Lederjacke und Jeans. Amüsiert und verärgert zugleich bemerkte Strike, wie Wardle Robin bei Betreten des Zimmers begutachtete – blitzschnell wanderte sein Blick über ihr Haar und ihre Figur und verharrte dann eine Sekunde...