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Todesmärchen - Thriller

Andreas Gruber

 

Verlag Goldmann, 2016

ISBN 9783641163143 , 544 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

1

Donnerstag, 1. Oktober

Das bleigraue Wasser der Aare floss träge durch die Stadt und kräuselte sich an den massiven Pfeilern der alten Steinbrücken. Sobald sich die Sonne über die bewaldete Schlosshalde geschoben hatte, würde der Fluss türkis funkeln.

Rudolf Horowitz liebte diesen Anblick. Er saß in eine karierte Steppdecke gewickelt vor dem geöffneten Fenster und sah von seiner Wohnung aus auf Bern hinunter. Bis jetzt war der Herbst eher mild gewesen. Aber das würde nicht so bleiben. In den Nachrichten hatten sie von einer heranziehenden Kaltwetterfront berichtet. Dann würden seine alten Knochen wieder zu schmerzen beginnen. Er schlug den Kragen seiner Strickweste hoch und beugte sich näher zum Fenster. Er liebte den frischen Duft des Morgens. Früher war er jeden Tag vor der ersten Tasse Kakao eine Runde gejoggt, doch vor fünf Jahren hatte er damit aufgehört. Nun vertrieb er sich die Morgenstunden anders.

Er griff in die Papiertüte, holte Brotkrumen hervor und fütterte damit die Tauben, die ein Stockwerk tiefer gurrend über das Balkongeländer seines Nachbarn hüpften. Der hasste ihn dafür, was Horowitz freute. Wer eine junge Frau schlug, für den war Taubenscheiße auf dem Balkon noch das Mindeste, was er verdiente.

Horowitz’ Handy klingelte. Er blickte kurz auf das Display, ließ es aber erst einmal weiter läuten. Er kannte diese Nummer. Wenn Berger anrief, war die Kacke am Dampfen. Erst nachdem er noch eine Handvoll Brotkrumen an die Tauben verfüttert hatte, hob er ab.

»Horowitz«, knurrte er.

»Guten Morgen«, sagte Berger. »Ich nehme an, du bist schwer beschäftigt.«

»Wie immer.« Horowitz leerte die Papiertüte aus dem Fenster. Eine neugierige Taube hüpfte sogar auf seine Fensterbank. Horowitz scheuchte sie weg. Unten darfst du alles vollscheißen. Hier nicht.

»Kannst du zur Untertorbrücke kommen?«, fragte Berger.

»Ich bin nicht mehr im Dienst.«

»Ich weiß, aber … wir brauchen dich.«

»Es dauert ziemlich lange, bis ich dort bin.«

»Ein Wagen ist bereits unterwegs zu dir. Ein bequemer großer Van. Deine ehemaligen Kollegen holen dich ab.«

»Ihr müsst es ja ziemlich eilig haben.«

»Sieh es dir an, dann weißt du, warum. Bis später.« Berger hatte aufgelegt.

Horowitz schloss das Fenster, dann fuhr er mit seinem Rollstuhl ins Wohnzimmer und holte Kamera und Diktiergerät aus einem alten verstaubten Koffer.

Die Untertorbrücke war die älteste Steinbrücke Berns und stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Sie bestand aus drei massiven, langgezogenen Rundbögen, die sich über die Aare spannten und die Landzunge der Innenstadt mit dem anderen Ufer verbanden.

Die Feuerwehr hatte neben der Brücke eine zwei Meter tiefer gelegene Plattform aus Eisentraversen errichtet, deren Pfeiler im Fluss standen. Die Brücke war gesperrt, und der Verkehr wurde umgeleitet. Auch der Bereich zu beiden Seiten des Ufers war großräumig abgesperrt worden, damit keine Schaulustigen die Arbeit der Kripo störten. Nicht zu vermeiden gewesen war, dass die Menschen aus ihren Fenstern stierten oder auf ihren Dachterrassen standen und mit Feldstechern zu Brücke und Baugerüst hinübersahen. Bestimmt gab es bereits die ersten Videos im Internet.

Horowitz fuhr mit dem Rollstuhl durch die geöffnete Schiebetür des Polizeivans über eine Rampe hinunter und wurde sogleich von Berger begrüßt. Dieser trug Anzug, Krawatte, einen schwarzen Steppmantel und hatte – seit Horowitz ihn das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen hatte – graue Schläfen bekommen.

»So schick?«, fragte Horowitz, dem keine Zeit zum Umziehen geblieben war und der immer noch seine Strickweste und eine braune Flanellhose trug.

Berger ignorierte den Kommentar. »Morgen, Rudolf«, sagte er nur.

»Mein Gott, bist du alt geworden«, brummte Horowitz.

Berger hielt sich sichtlich zurück. »Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen.« Eigentlich hätte er sagen können, was er wollte, da er als Staatsanwalt des Kantons Bern fast niemandem Rechenschaft ablegen musste. Aber anscheinend hatten ihn die Jahre ruhiger gemacht.

Statt sich also mit Horowitz auf irgendwelche Wortgefechte einzulassen, deutete Berger jetzt auf einen jungen Beamten Anfang dreißig, der an seiner Seite stand und hier offensichtlich die Ermittlungen leitete. »Das ist Kommissariatsleiter Rüthy von fedpol.«

Horowitz kniff die Augen zusammen. fedpol? »Und was ist mit dem kriminaltechnischen Dienst der Kantonspolizei Bern?«

Berger schüttelte den Kopf. »Nicht zuständig. Ich habe gleich fedpol mit den Ermittlungen beauftragt.«

Horowitz nickte. Die Bundeskriminalpolizei von fedpol ermittelte nur dann direkt, wenn wirklich etwas im Argen lag oder wenn die Zeit drängte und die Staatsanwaltschaft sämtliche bürokratischen Amtswege außen vor lassen musste.

Der junge Mann mit den roten Haaren, Sommersprossen und Segelohren trug legere Jeans und eine Windjacke. Er streckte Horowitz die Hand entgegen, die dieser jedoch nicht nahm. »Ich freue mich, Sie kennenlernen zu dürfen und dass Sie sich Zeit nehmen für …«

»Sag dem Jungen, er soll wieder aus meinem Hintern kriechen.«

Berger blickte seinen jungen Kollegen an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Er mag es nicht, wenn man ihm die Hand gibt.«

»Verstehe.« Rüthy zog die Hand zurück.

Berger wandte sich wieder an Horowitz. »Auch im Ruhestand bist du immer noch der beste Profiler, den es gibt, und kennst die Psyche sämtlicher Serientäter. Deshalb möchte ich dich bitten, ein wenig …«

»Ihr geht von einem Serienmörder aus?«

Berger blickte zur Brücke. »Sieht ganz danach aus. Ich habe schon vieles gesehen, aber so etwas noch nicht. Während das Gerüst aufgebaut wurde, haben die Leute von fedpol und ich den Tatort diskutiert und vom Boot aus jeden Winkel studiert. Aber wir kommen nicht dahinter.«

Horowitz sah ihn fragend an. »Hinter was?«

»Was bezweckt der Killer damit? Warum hier? Warum so? Warum heute? Und warum ausgerechnet … dieses Opfer?«

»Sehen wir es uns an«, schlug Horowitz vor.

Berger steckte die Hände in die Manteltaschen und blickte auf die andere Straßenseite zu seinem Wagen. »Die Spurensicherung hat soeben mit der Arbeit begonnen«, erklärte er. »Ich würde dich ja gern zum Tatort begleiten, aber ich muss zu einer Pressekonferenz.«

»Deswegen?«

»Ja, deswegen. Rüthy zeigt dir alles. Ihr werdet sicher gut miteinander auskommen.«

»Bestimmt«, knurrte Horowitz. »Habe ich freie Hand?«

»Hast du. Ich muss los.« Berger drückte Horowitz kurz die Schulter. »Danke.« Dann warf er Rüthy einen beschwichtigenden Blick zu und wandte sich ab.

Horowitz sah ihm nach, wie er zu seinem Auto lief und bereits nach wenigen Schritten hektisch ins Handy sprach.

»Immer im Stress«, seufzte Horowitz. »Wollen Sie wissen, ob ich diese Arbeit vermisst habe? Nein, keine Minute lang.« Er blickte Rüthy erwartungsvoll an. »Und?«

»Soll ich Sie hinfahren?«

»Nein verdammt, Sie sollen mir einen Becher heißen Kakao holen, mit so viel Milch und Honig, dass der Löffel drin stecken bleibt. Ich brauche Zucker beim Denken.«

»Ich bin nur deshalb freundlich zu Ihnen gewesen, weil Sie eine Legende und ein guter Freund von Staatsanwalt Berger sind, aber ich bin nicht Ihr …«

»Mit viel Milch und Honig«, wiederholte Horowitz.

Rüthy atmete tief durch. »Ich wüsste nicht, woher … Ich meine …«

Horowitz sah sich um. Die Kaffeehäuser hatten noch geschlossen. »Vergessen Sie es«, knurrte er. »Kommen Sie mit.« Er wendete den Rollstuhl, fuhr mit ein paar kräftigen Schwüngen zur Rampe, ließ sich auf die Hinterräder kippen und hievte die Vorderräder schwungvoll auf die Plattform. Unter der Brücke ankerte ein Boot der Seepolizei, auf dessen Heck zwei uniformierte Beamte soeben ein Stativ für Scheinwerfer errichteten.

Mit einem weiteren kräftigen Schwung rollte Horowitz auf das Gerüst zum ersten Rundbogen. Seit er vor fünf Jahren aus dem Dienst scheiden musste, waren seine einst muskulösen Beine im Rollstuhl zu dünnen Ästen verkümmert. Von Anfang an hatte er absichtlich auf den Elektromotor verzichtet, den ihm das Bundesamt für Polizei sicherlich bezahlt hätte. Aber er wollte von keinem Akku abhängig sein oder durch einen Kurzschluss lahmgelegt werden, sondern selbst über sein Schicksal bestimmen. Binnen kürzester Zeit waren seine Arme immer kräftiger geworden, und auf seinen Händen hatten sich harte Schwielen gebildet. Auf diese Weise war er körperlich fitter als so manch anderer Siebzigjährige – zumindest von der Taille an aufwärts.

Horowitz erreichte den ersten Rundbogen aus massivem Stein und stoppte den Rollstuhl. Hier roch es nach brackigem Wasser. Einige Krähen saßen im Gebälk unter der Brücke, andere flatterten aufgeregt herum. Horowitz fuhr über das Metallgerüst in den Schatten der Brücke. Schlagartig wurde es kühler, doch wirklich innerlich erstarren ließ Horowitz erst der Anblick der Leiche. Von ihr ging eine ganz andere Kälte aus, die ihm die Kehle zuschnürte.

Ein Kripofotograf, der Rechtsmediziner und zwei Männer von der Spurensicherung in weißen Overalls arbeiteten bereits vor Ort. Für einen Moment nahm Horowitz das blendende Licht eines Scheinwerfers die Sicht. Ein Mann rollte soeben ein Stromkabel von einer Kabelrolle ab. Hier ging es zu wie auf dem Hauptbahnhof.

»Wissen Sie, was ich mir denke …«, begann Rüthy.

»Wie lange sind Sie schon bei...