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Gefühlspolitik - Friedrich II. als Herr über die Herzen?

Ute Frevert

 

Verlag Wallstein Verlag, 2012

ISBN 9783835323995 , 152 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz frei

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9,99 EUR


 

II.   Formierungen des Gemüts: Die Gefühlserziehung eines Königs


In den Briefen über Don Carlos erläuterte Schiller 1788, es sei ihm darum gegangen, »einen Fürsten aufzustellen, der das höchste mögliche Ideal bürgerlicher Glückseligkeit für sein Zeitalter wirklich machen sollte«. Was er nicht zeigen wollte und konnte, war, wie der Fürst zu diesem Zweck erzogen wurde und wie er »Hand anleg[te]«, denn das hätte die »engen Grenzen eines Trauerspiels überschritten«.24 Da die Grenzen eines Buches weiter gefasst sind, kommen hier zunächst die Gefühlserziehung des preußischen Königs und dann die Praktiken zur Sprache, die seine Gefühlspolitik kennzeichneten. Ob sie allerdings tatsächlich dazu dienten, Schillers »Ideal bürgerlicher Glückseligkeit« zu verwirklichen, wird sich zeigen.

Honnêteté


Das 18. Jahrhundert trägt nicht nur den Beinamen der Aufklärung. Es gilt auch – und wusste sich dadurch der Aufklärung verpflichtet – als pädagogisches Jahrhundert. Erziehung und Bildung hatten nicht nur auf dem Papier und in den Köpfen maßgeblicher »Erneuerer« einen hohen Stellenwert, sondern auch in der Praxis, bis hinunter zu den Elementarschulen in Stadt und Land.25 Erzogen wurden die Kinder der Bauern und Bürger, aber auch und vor allem die Zöglinge des Adels und die Sprösslinge aus fürstlichem Haus. Schon in jungen Jahren kamen Letztere in die Obhut sorgfältig ausgewählter Erzieher, die sie auf ihre Rolle als künftige Monarchen vorbereiteten.

Als der preußische König Friedrich Wilhelm I. seinen sechsjährigen Sohn Friedrich 1718 dem Feldmarschall von Finckenstein und dem Oberst von Kalckstein überantwortete, gab er ihnen eine Instruktion mit auf den Weg, die die Ziele und Methoden der Prinzenerziehung exakt festschrieb. In weiten Teilen ähnelte sie den Anweisungen, die seine eigene Kindheit und Jugend geprägt hatten, bis in den Wortlaut hinein. Gleich zu Beginn war davon die Rede, wie wichtig es sei, »daß das Gemüth, woraus alle menschliche Handlungen herfließen, der Gestalt formirt werde, daß es von der ersten Jugend an, eine Lust und Hochachtung zur Tugend, hergegen einen Abscheu und Eckel vor die Laster bekomme«. Dazu verhelfe »wahre Gottesfurcht« sowie »Begierde zum Ruhme, Ehre und zu der Bravour«. Bevor er jene Begierde ausbilde, solle der Kronprinz allerdings »erst den Ruhm, daß er ein honnête homme ist, erwerben«.26

Das Ideal des honnête homme, wie es seit dem 16. Jahrhundert entworfen wurde, erfreute sich in den Kreisen des europäischen höfischen Adels großer Beliebtheit. Wie 1528 in Baldassare Castigliones Buch vom Hofmann ausgewiesen, beinhaltete es eine allgemeine Bildung, Weltgewandtheit, gute Umgangsformen und die Fähigkeit zu geistreicher Konversation. Anstatt dem ritterlichen Heldenideal früherer Zeiten nachzueifern, sollte sich der honnête homme in den schönen Künsten auskennen und geistigen Genüssen frönen, vorzugsweise in ländlicher Abgeschiedenheit und fern von den Intrigen der Hofgesellschaft. Mit dieser Haltung verbanden französische Moralisten wie Michel de Montaigne oder François de La Rochefoucauld eine tiefe, historisch und anthropologisch informierte Skepsis gegenüber den Geltungsgrundlagen von Macht und Gesetz. Weder Vernunft noch Gerechtigkeit, argwöhnten sie, führe Letzteren die Feder, sondern schierer Zufall oder bloße Gewohnheit. Auch die landauf, landab gepriesenen Tugenden seien häufig nichts anderes als verkappte Laster und leiteten sich fast immer aus egoistischen Motiven ab.27

Es ist unwahrscheinlich, dass Friedrich Wilhelm I. diese skeptischen Reflexionen kannte. Vermutlich brachte er auch für die schöngeistigen Anteile einer Erziehung zur honnêteté wenig Interesse auf.28 Aber da sie nun einmal zum adligen Bildungsprogramm zählten (und seine Gattin darauf großen Wert legte), duldete er es, dass der Sohn französische Literatur las, die Flöte spielte und komponierte, Skulpturen sammelte und Bilder betrachtete. Wichtiger aber war es allemal, beim Thronfolger die »Begierde zum Ruhme, Ehre und zu der Bravour« zu fördern – was, wenn auch zu spät für den ungeduldigen Vater, tatsächlich Früchte trug.

In Friedrichs jugendlichen Jahren nahm ihn der strenge König als vollkommen unmännlich und unbravourös wahr, als »effeminirten Kerl« eben, »der keine menschliche Inklinationen hat, der sich schämt, nicht reiten noch schießen kann, und dabei malpropre an seinem Leibe« sei.29 Der sich schämt: Das ging dem Monarchen gegen die Ehre. Scham war wahrhaftig kein Stichwort, das in ein königliches Gefühls- und Benimmlexikon gehörte. Sie geziemte Frauen und nicht Männern, und sie zeichnete Menschen aus, die in der gesellschaftlichen Hierarchie unten standen. Ein Thronfolger, der bald die Spitze der Rangpyramide erklommen haben würde und sich schämte, war genauso unvorstellbar und untragbar wie ein König, der weinte.

Sensibilité


Aber es gab noch ein anderes Erziehungsideal, das im 18. Jahrhundert Furore machte: das des homme sensible. Er vereinigte Herz und Geist, cœur und esprit, und sollte vor allem eins nicht sein: indifférent. Ein homme sensible besaß nicht nur die physische Fähigkeit, sinnliche Eindrücke zu empfangen, sondern er verfügte auch und vor allem über die moralische Kraft, mit und für andere zu fühlen.30 Adligbürgerlicher Herkunft, wanderte dieses Ideal rasch durch die gebildeten Diskurse und Salons der europäischen Metropolen, Handels- und Residenzstädte. Der homme sensible wurde zur neuen Leitfigur, die dem aufgeklärten Säkulum einen weiteren Beinamen verpasste: Zeitalter der Empfindsamkeit. Empfindsame Romane fanden reißenden Absatz und gewannen Kultstatus. Dazu gehörten Samuel Richardsons Pamela (1740) und Clarissa (1748) ebenso wie Jean-Jacques Rousseaus Julie ou la Nouvelle Héloïse (1761) oder der später für den »Sturm und Drang« reklamierte Briefroman Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang Goethe (1774).31 Viele andere Texte sind heute zu Recht vergessen, fanden aber in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine begeisterte Leserschaft und inspirierten kulturelle Praktiken und Moden.

Teeschale mit Werther-Motiv, Meißener Porzellan, um 1789

In manchen adligen Kreisen und im gebildeten Bürgertum formte sich damals ein Stil des sozialen Umgangs und der Selbstpräsentation, der Gefühlen einen hohen Stellenwert einräumte. Starke, aufrichtige Gefühle zu haben gehörte ebenso zum empfindsamen Habitus wie die Fähigkeit, sie auf verständliche Weise mitzuteilen. Dabei galt die Introspektion, das Sich-selbst-Fühlen, als Bedingung für das, was Zeitgenossen als wichtigste menschliche Fähigkeit und Tugend rühmten: das Mitfühlen mit anderen. Ob Adam Smith, Rousseau oder Lessing: sympathy, pitié, Mitleid waren für sie alle, und für viele andere, der Kern von Humanität und das Fundament gesellschaftlicher Ordnung. Auch Don Carlos sang ihr Loblied, um den Vater von dessen herrischer Selbstbezüglichkeit und schmerzlich erlittenen Einsamkeit zu erlösen: »Wie entzückend und süß ist es, … zu wissen, daß unsre Freude fremde Wangen rötet, daß unsre Angst in fremden Busen zittert, daß unsre Leiden fremde Augen wässern«.32

Die Leitfigur des empfindsamen, mitfühlenden Menschen stand keineswegs im Gegensatz zur Aufklärung. La sensibilité est la mère de l’humanité, die Empfindsamkeit ist die Mutter der Menschlichkeit, hieß es 1765 im Schlüsselwerk der französischen Aufklärung, der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Encyclopédie.33 In ihrem Umkreis unternahmen es die médecins-philosophes, zu denen auch Schiller mit seiner frühen medizinischen Dissertation zu zählen wäre, die cartesianische Trennung von Körper und Geist zu überwinden. Empfindungen waren für sie sowohl physiologischer als auch mentaler Natur. Zu den schillerndsten Figuren dieser einflussreichen Schule zählte Julien Offray de La Mettrie34; gemeinsam mit dem Marquis Jean-Baptiste d’Argens, der sich ebenfalls für den existentiellen Stellenwert des Fühlens stark machte, gehörte er zu Friedrichs Tafelrunde.

Der Marquis, der 1741 auf Einladung des kurz zuvor inthronisierten preußischen Königs nach Berlin bzw. Potsdam kam, hatte vier Jahre zuvor sein Hauptwerk La philosophie du bon sens veröffentlicht. Darin führte er cœur und esprit zusammen, lobte das empfindsame Mitgefühl als Bedingung von Soziabilität...