dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Somnia - Tagebuch 1991

Walter Kempowski

 

Verlag Knaus, 2009

ISBN 9783641019105 , 560 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

Juni 1991 (S. 202-203)

Nartum

So 2. Juni 1991
Jahrestag der Pionierorganisation der Ungarischen Volksrepublik

«Wenn man das Leid aus dem Fenster schütten könnte.» Lese Kafkas Tagebücher. Über seine Reise nach Weimar und in den Harz zu einer Nacktkur. «Auch alte Herrn, die nackt über Heuhaufen springen, gefallen mir nicht.» So was wird in Schulen nicht behandelt. Seit gestern mittag alleine hier. – Im Vorraum liegen Rostockiensien, die ein Rostocker über Mittag dort abgelegt hat, ein rotes Feuerversicherungsschild aus Emaille, ein (gedrucktes) Agitprop-Bild und ein FdJ-Schiffchen, das ich der FdJPuppe oben aufsetzte.

Die Angst weicht dem Triumph. Am Abend dann absolute Stille. Trotz der vielen Menschen (oder ihretwegen) Einsamkeitsgefühle. Auch jetzt. Da kennt man Tausende, und niemand, den man rufen könnte. 2007: Und niemand, der einen tröstet?

In der ZEIT über Susanne Albrecht:

Ganz unscheinbar und blaß sitzt sie zwischen ihren beiden sich väterlich gebärdenden Advokaten auf der Anklagebank, den mageren Oberkörper leicht nach vorne gebeugt, aber mit geradem Rücken. Susanne Albrecht sieht mädchenhaft aus mit ihrem kinnlangen Pagenschnitt, der weißen kurzärmeligen Hemdbluse, den grünen Blazer schützend über die Schultern geworfen.

Vor ihr liegt eine dicke Mappe mit Unterlagen, auf denen sie sich ab und zu Notizen macht… Eine Gisela Dachs hat das geschrieben. Heute früh kamen unsere Bremer Freunde noch einmal und brachten 20 000 Dias. Ich bummelte und machte die nächste Sendung für «Hörzu» fertig und den 15. Januar. Morgen geht das «Echolot» per Eilpost nach München. Der Versuch, auch noch das Register auszudrucken, mißlang. Die Hühner waren sehr zudringlich, als ich Kaffee trank, eins hüpfte auf meinen Arm und pickte mir Kuchen von den Lippen. Aber streicheln lassen sie sich nicht. Nach dem Kaffee gruppieren sie sich um mich herum, Augendeckel zugeklappt.

Eine einzelne Krähe kommt und sieht sich das an. TV: «Giulia», italienischer Film, gute Unterhaltung. Mit Hildegard telefoniert, sie will unbedingt, daß ich sie mit der Bahn besuche beziehungsweise abhole. Obwohl ich doch ein Auto gemietet habe. – Dort gehe es wie im Taubenschlag raus und rein. Und sie denkt, es sei nur bei uns so. Ich sei übrigens der einzige Mensch gewesen, der ihm in seiner Misere Geld angeboten hat, sagte Raddatz.

Das ist für ihn wichtig, obwohl er es doch bestimmt nicht braucht. Läßt er sich seine Freundschaft bezahlen? Oder: Nur wer Geld gibt, dem ist es ernst? Prof. Brake, damals, 1957 in Göttingen, als er von meiner Verlegenheit hörte, der mir 20 Mark schenken wollte. – Es ist schon was dran. Er griff zur Brieftasche. Die Zudringlichkeit der Hühner: Ich entdeckte später, daß ich sie des Morgens nicht gefüttert hatte. Sie waren also einfach sehr hungrig. – Für Musik sind sie nicht empfänglich. Oder doch? Sie zeigen es nicht, sie lassen es sich nicht anmerken. Man sollte ihnen mal van Goghs Sonnenblumen zeigen, was sie dann wohl sagen.