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Im Labyrinth der Lügen

Ute Krause

 

Verlag cbj Kinder- & Jugendbücher, 2016

ISBN 9783641192723 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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8,99 EUR


 

Paul strahlte. Das hätte er sich nicht träumen lassen! Er stellte sich die Zeitungsmeldung vor, die demnächst erscheinen würde.

Berliner Morgenpost

Geheimnis der ewigen Jugend enthüllt? Berliner Forscher macht sensationellen Fund im Pergamonmuseum. Geheimwissen der Ägypter in einem Stein des Ischtar-Tors versteckt. Pharmakonzerne wittern das Riesengeschäft: der Jungbrunnen bald auf Rezept?

Und daran war allein Onkel Henri schuld. Dabei hatte die Geschichte damals ganz anders angefangen. Und niemand, er schon gar nicht, hatte ahnen können, wie verwickelt und gefährlich sie werden würde …

Begonnen hatte alles viele Jahre früher an einem ganz gewöhnlichen Samstag.

»Komm, ich zeig dir ein Geheimnis«, hatte Onkel Henri gesagt und Paul in einen verlassenen Teil des Bahnhofs Friedrichstraße geführt. Hinter einer Absperrung stand ein Baugerüst, das mit einer Plane verhängt war. Als niemand sie beobachtete, kletterten sie über die Absperrung und schlüpften hinter die Bauplane. Dahinter verborgen lag eine hellgraue Metalltür. Sie führte in einen Tunnel, der sich im Dunkeln verlor.

»Das war mal ein Geheimgang«, sagte Onkel Henri. »Früher sind die Leute von hier aus in den Westen geflüchtet.«

»Wie soll das gehen?«, fragte Paul.

»Wart’s ab.«

Paul war seinem Onkel vorsichtig tastend gefolgt, bis ihnen eine Backsteinmauer den Weg versperrte.

»Siehst du, weiter kommt man heute nicht mehr«, flüsterte Onkel Henri. »Die Grenzsoldaten haben alles zugemauert. Aber jetzt pass auf. Hör genau hin, dann kannst du den Westen hören. Dann bist du fast auf der anderen Seite. Vergiss das nicht!«

Onkel Henri hatte seine Wange an die Mauer gelegt. Paul tat es ihm nach und drückte sein Ohr ganz fest dagegen. In der Ferne hörte er plötzlich das Rattern eines einfahrenden Zuges, das Quietschen der Bremsen und die Lautsprecherstimme eines Ansagers. Sie war durch den Hall verzerrt, aber wenn er genau hinhörte, verstand er, was der Mann auf der anderen Seite sagte: »Alle Züge enden hier. Achtung, alle Züge enden hier. Rückfahrt nach Westberlin vom gegenüberliegenden Gleis. Transitreisende begeben sich zu den Passkontrollen.«

Für Paul war Berlin-West bis dahin nur ein Wort, ein weißer Fleck in seinem Schulatlas gewesen. Es war von einer Mauer umgeben und Teil eines fremden Landes, das Westdeutschland hieß. Es war ganz nah und zugleich unerreichbar, denn Paul lebte auf der anderen Seite dieser Mauer in Ostberlin.

Seine Oma sagte, nach Westberlin komme man erst mit fünfundsechzig, wenn man in Rente ging. Das sei die letzte Querstraße vor dem Paradies. Ein Abstecher, bevor es zum lieben Gott geht.

Bis es bei Paul so weit war, konnte er noch lange warten – genau genommen dreiundfünfzig Jahre. Bei Oma war das anders, in zwei Jahren würde sie fünfundsechzig werden. Das hieß, in zwei Jahren dürfte sie nach Westberlin.

Am nächsten Morgen bekam der weiße Fleck im Schulatlas für Paul eine ganz andere Bedeutung. Jetzt ahnte er, warum Onkel Henri ihn am Tag davor in den Tunnel geführt hatte. Denn alles wurde plötzlich ganz anders. Beim Sonntagsfrühstück hatte Oma ihm am Küchentisch erzählt, dass seine Eltern jetzt im Westen lebten.

»Das ist ein blöder Scherz!«, hatte Paul geantwortet.

Oma hatte den Kopf geschüttelt und ihn dabei so ernst angeschaut, dass Paul begriff, dass sie ihn nicht anflunkerte. Und dann wurde alles in ihm ganz still, so still, dass das leise Ticken der Küchenuhr plötzlich laut durch seinen Kopf hallte.

»Aber wie sind sie aus dem Gefängnis gekommen?«, flüsterte er. »Und dann noch über die Mauer?«

Fast niemand kam durch den »Eisernen Vorhang«, wie die Mauer auch genannt wurde. Wer es versuchte, wurde verhaftet oder sogar erschossen.

Oma nahm seine Hand in ihre große weiche Pranke und drückte sie ganz fest. Sie starrte auf den Marmeladenfleck auf dem Küchentisch.

»Stell dir vor, mein Junge, sie sind freigekauft worden«, sagte sie zum Marmeladenfleck auf eine so ernste und feierliche Art, dass Paul ein kleiner Schauer über den Rücken lief.

Oma hatte normalerweise eine ziemlich raue, fast männliche Stimme. Onkel Henri sagte, das käme vom vielen Zigarettenqualmen, weil Oma nie auf die Stimme der Vernunft hörte. Jetzt aber klang sie ziemlich brüchig.

»Freigekauft? Wie meinst du das?«, fragte Paul völlig verwirrt. »Wer hat sie denn gekauft? Und wenn sie frei sind, warum sind sie dort und nicht hier bei uns?«

Er sprang auf und stieß dabei gegen den wackeligen Tisch, sodass Omas Kaffee auf den Untersetzer schwappte.

»Und wann kommen sie zu uns?«

Normalerweise brachte Oma nichts so leicht aus der Ruhe, aber heute war es anders. Ihre Unterlippe zitterte etwas und die Furchen um ihren Mund vertieften sich.

Paul starrte sie an. »Sie kommen doch, oder?«

Oma beugte sich hinüber zur Spüle und nahm den Lappen, der dort hing. In ihrer winzigen Küche war die Spüle praktischerweise direkt neben dem Tisch, sodass sie dafür nicht aufstehen musste. Paul sah, wie sie versuchte, sich unauffällig die Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen. Ihm war auch plötzlich zum Heulen zumute.

Sehr sorgfältig wischte Oma sämtliche Flecken und Krümel vom Tisch. Sie ließ sich dabei viel Zeit.

Oma war Papas und Onkel Henris Mutter. Onkel Henri behandelte Oma immer, als wäre sie ein bisschen verrückt, dabei war sie die netteste und mutigste Großmutter, die man sich vorstellen konnte, denn ohne sie säße Paul bestimmt noch in diesem schrecklichen Heim.

»Und?«, rief er ungeduldig. »Nun sag schon!«

Oma warf den Lappen zurück in die Spüle, zog eine Zigarette hinterm Ohr hervor und zündete sie an. Langsam blies sie den Rauch zur Decke empor. Durchsichtig-weiße Schwaden schimmerten im Morgenlicht und kringelten sich langsam nach oben.

»Sie sind freigekauft worden«, sagte sie leise. »Von denen dort drüben.« Sie deutete vage mit der Zigarette in Richtung Westberlin. »Die kaufen manchmal politische Gefangene frei. Deine Eltern hatten Riesenglück.«

Sie schob die Brille zurecht, durch die ihre Augen immer größer wirkten, und sah ihn abwartend an. Als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Schau mal, deiner Mama ging es im Gefängnis nicht gut, vor allem im letzten Jahr. Ich habe es dir nie erzählt, weil ich dich nicht beunruhigen wollte, aber sie hatte dort eine Nierenbeckenentzündung, und die hat sie sehr mitgenommen. Deine Mutter braucht dringend gute Ärzte.«

Oma tippte vorsichtig die Asche in einen Aschenbecher und murmelte: »Deine Eltern haben endlich die Chance bekommen, ein neues Leben zu beginnen.«

»Ein neues Leben!« Paul senkte den Blick. »Sie beginnen ein neues Leben – ohne mich?«

Oma beugte sich zu ihm hinüber und drückte sanft seine Hand. »Schätzchen, sie würden alles tun, um bei dir zu sein, glaub mir. Aber sie dürfen nach dem, was passiert ist, nicht mehr hierher zurück. Man würde sie sofort wieder verhaften, wenn sie nur einen Fuß über die Grenze setzen.«

»Aber wann sehe ich sie wieder?«, fragte Paul leise. Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer.

Oma drückte die Zigarette aus, zog ihn, bevor er sich wehren konnte, in ihre Arme und drückte ihn an ihren gewaltigen Busen. Sie wiegte ihn hin und her, so wie früher, als er klein gewesen war. Sie hatte ihm mal erzählt, dass ihre Mutter sie während des Krieges im Luftschutzkeller genauso im Arm gewiegt hatte, wenn die Bomben um sie herum explodierten. Und jetzt tat sie das Gleiche mit Paul. Doch mit zwölf fühlte er sich zu groß dafür, auch wenn ihm elend zumute war. Er löste sich aus ihrer Umarmung und sah sie fordernd an.

»Sag’s mir! Wann sehe ich sie wieder?«

Oma ließ die Luft hörbar durch die Lippen entweichen.

»Das weiß nur der liebe Gott, mein Junge. Das weiß nur der liebe Gott«, murmelte sie.

Es war schwer, am nächsten Tag im Unterricht aufzupassen, denn in Pauls Kopf wirbelte alles durcheinander. Es war, als würden seine Gedanken Achterbahn fahren.

Oma hatte ihm morgens, während er vor dem Spiegel seinen Haarmopp zu bändigen versuchte, noch einmal eingeschärft, ja niemandem von Mama und Papa zu erzählen. Als ob das nötig gewesen wäre! Paul hatte inzwischen gelernt, dass es manchmal klüger war zu schweigen. Außerdem gab es sowieso keinen in der Klasse, mit dem er darüber hätte sprechen können.

Jetzt starrte Frau Götze ihn an. Ihre blonde Dauerwelle wippte um ihren schmalen Kopf und ihre Nasenflügel bebten. Mit der spitzen Nase und dem fliehenden Kinn sah sie aus wie ein Vogel. Ein Vogel mit Dauerwelle. Ungeduldig klopfte sie mit der Kreide an die Tafel und schaute Paul dabei streng an. Er riss sich aus seinen Gedanken.

»Ich will dich ja ungern beim Träumen stören, Paul!«, sagte sie mit süßsaurem Lächeln. »Aber wir sind hier in der Schule und machen gerade Staatsbürgerkunde. Ich weiß, das ist nicht dein Lieblingsfach.«

Die anderen kicherten und warfen ihm verstohlene Blicke zu. Seit Paul in dieser Klasse war, galt er als Träumer und etwas merkwürdig.

»Der Junge ist eigenbrötlerisch«, hatte Frau Götze mal zu Oma beim Elterngespräch gesagt. »Und äußerst verschlossen.«

In Wirklichkeit war Paul nur vorsichtig geworden. Kein Wunder nach jenem Sommer vor zwei Jahren, in dem sich alles verändert hatte. Seitdem gab es vieles, über das er mit niemandem sprechen konnte und durfte. Und wenn man ein trauriges Geheimnis mit sich...