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Im Schatten der Königin - Ein Tudor-Roman

Elizabeth Fremantle

 

Verlag C. Bertelsmann, 2016

ISBN 9783641159047 , 480 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

Prolog

Februar 1554
Der Tower von London
Levina

Frances zittert. Levina greift nach ihrem Arm und hakt sie fest unter. Ein scharfer Wind braust durch die kahlen Bäume, zerrt an den Kleidern der Frauen und lüpft ihre Hauben, sodass die Bänder in ihren Hals einschneiden. Vor dem Winterhimmel, fleckig grau wie das Innere einer Auster, hebt sich dunkel der White Tower ab. Schweigende Menschen gehen vor dem Schafott hin und her, reiben sich die Hände und stampfen mit den Füßen auf, um sich warm zu halten. Zwei Männer, die einen Karren hinter sich herziehen, gehen an ihnen vorüber; doch Levina sieht sie gar nicht richtig, da sie zu einem Fenster in einem Gebäude auf der anderen Seite des Hofs hinaufschaut, wo sie die Umrisse einer Gestalt zu erkennen glaubt.

»Mein Gott!«, murmelt Frances und schlägt die Hand vor den Mund. »Guildford.«

Als Levina hinsieht, begreift sie sofort. Auf dem Karren liegt ein blutiges Bündel, die Leiche von Guildford Dudley. Frances’ Atem geht flach und schnell, fahl ihr Gesicht, nicht weiß, wie man meinen könnte, sondern grün. Levina packt sie an den mädchenhaft schmalen Schultern, dreht sie zu sich, sieht ihr beschwörend in die Augen und sagt: »Tief atmen, Frances, tief atmen.« Sie tut es selbst, in der Hoffnung, Frances möge es ihr nachmachen. Sie kann nur ahnen, was es für eine Mutter bedeutet, gleich ihre siebzehn Jahre alte Tochter sterben zu sehen und so machtlos zu sein, es nicht verhindern zu können.

»Ich verstehe nicht, warum Mary …« Sie hält inne und verbessert sich, »… warum die Königin mir nicht erlaubt, sie zu sehen … ihr Adieu zu sagen.« Frances’ Augen sind blutunterlaufen.

»Die Angst hat sie unbarmherzig werden lassen«, sagt Levina. »Sie wittert überall Verschwörung, selbst bei einer Mutter und ihrer verurteilten Tochter.« Sie beugt sich zu ihrem Windhund Hero, tätschelt seinen Rücken mit der hervorstehenden Wirbelsäule und verspürt Beruhigung, als er sein Maul an ihre Röcke drückt.

Levina erinnert sich, vor nicht einmal einem Jahr Jane Grey mit ihren königlichen Insignien gemalt zu haben. Sie war damals geradezu bezaubert von dem intensiven Blick des Mädchens, von diesen weit auseinanderstehenden, kastanienbraun gesprenkelten, dunklen Augen, ihrem langen Hals und den zarten Händen; alles strahlte Strenge und auch Zerbrechlichkeit aus. »Gemalt« ist vielleicht nicht das richtige Wort, denn sie hatte kaum Gelegenheit gehabt, den Karton einzuritzen und den Kohlestaub durch die Löchlein auf die Platte zu stäuben, als schon Mary Tudor mit einer Armee in London anrückte, um ihrer jungen Cousine den Thron streitig zu machen, ihr, die nun am heutigen Tag auf diesem Schafott ihrem Tod begegnen wird. Frances Grey war es, die Levina half, diese Platte zu zertrümmern und ins Feuer zu werfen, ebenso den Karton. Das Schicksal wendet sich schnell im London dieser Tage.

Als Levina sich umblickt, sieht sie katholische Kirchenmänner näher kommen. Bonner, der Bischof von London, befindet sich mitten unter ihnen, feist und glatt wie ein groteskes Baby. Levina kennt ihn recht gut aus ihrer eigenen Gemeinde; man sagt ihm Brutalität nach. Ein hochmütiges Lächeln steht ihm im Gesicht; freut es ihn, dass einem jungen Mädchen der Kopf abgeschlagen wird – sieht er es womöglich als einen Triumph? Zu gerne würde Levina ihm dieses Lächeln mit einer Ohrfeige aus dem Gesicht vertreiben; sie stellt sich die rötliche Färbung vor, die sie auf seiner Wange hinterlassen würde, und den befriedigenden Schmerz in ihrer Hand.

»Bonner«, flüstert sie Frances zu. »Dreh dich nicht um. Wenn er dir in die Augen blickt, könnte er versucht sein, dich zu grüßen.«

Sie nickt und schluckt, und Levina führt sie einige Schritte weg von den Männern, sodass die Möglichkeit, einem von ihnen gegenübertreten zu müssen, geringer ist. Nicht viele sind gekommen, um ein Mädchen sterben zu sehen, das einige Tage lang Königin war; nicht die Hunderte, wie es hieß, die damals Anne Boleyn verhöhnten – ihr Tod war der Auftakt zu der Mode, Königinnen zu enthaupten. Heute wird niemand dazwischenrufen, alle sind zu schreckensstarr, mit Ausnahme von Bonner und seinem Gefolge, und selbst sie sind nicht so grob, dass sie offen ihre Freude zeigen. Sie denkt an die Königin im Schloss und stellt sich vor, wie sie sie malen würde. Bestimmt ist sie in Gesellschaft ihrer vertrautesten Hofdamen; womöglich sind sie ins Gebet vertieft. Doch in Levinas Vorstellung befindet sie sich allein in ihrem leeren, übergroßen Wachsaal, und gerade hat sie die Mitteilung erreicht, eine ihrer Lieblingscousinen sei auf ihr Geheiß hin ermordet worden. Ihr Gesicht spiegelt nicht den sorgsam unterdrückten Triumph wie das von Bonner, auch Furcht offenbart es nicht, obgleich sie angebracht wäre, denn schließlich ist es erst wenige Tage her, dass eine rebellische Armee – erfolglos – danach trachtete, sie zu entmachten und ihre Schwester Elizabeth auf den Thron zu setzen. Nein, ihr verkniffenes Gesicht ist so blank wie ein frischer Bogen Velinpapier, ihre Augen entseelt, entrückt, als wollten sie andeuten, das Töten habe gerade erst begonnen.

»Das ist das Werk ihres Vaters«, stammelt Frances. »Ich kann nicht anders, als ihm die Schuld zu geben, Veena … Sein blinder Ehrgeiz.« Sie spuckt die Worte aus, als hätten sie einen fauligen Geschmack. Wieder schaut Levina zu diesem Turmzimmer hinauf und fragt sich, ob die beobachtende Gestalt dort oben Frances’ Gemahl, Janes Vater, Henry Grey ist, den ebenfalls das Los eines Verräters erwartet. Der Karren ist in einiger Entfernung von ihnen neben einem flachen Gebäude zum Stehen gekommen. Einer der Männer, die ihn gezogen haben, beugt sich vor, um mit jemandem zu plaudern, als wolle er sich nur die Zeit vertreiben, als läge dort nicht ein geschlachteter Junge auf der Ladefläche. »Es ist ein Kartenhaus, Veena, ein Kartenhaus.«

»Frances, nicht doch«, sagt sie und legt den Arm um die Schulter ihrer Freundin. »Du treibst dich noch in den Wahnsinn.«

»Und die Königin, wo ist ihre Gnade? Wir sind nahe Verwandte. Elle est ma première cousine. On était presque élevé ensemble

Wortlos umfasst Levina sie fester. Frances vergisst immer wieder, dass sie kaum Französisch versteht. Levina hat sie nie gefragt, warum sie, die doch durch und durch Engländerin ist, so großes Gefallen an dieser Sprache findet, zumal sie bei Hofe aus der Mode gekommen ist. Vermutlich hat es etwas mit ihrer Tudor-Mutter zu tun, die die Witwe eines französischen Königs war. Es nähert sich ihnen ein Mann, dessen sich im Wind blähender Umhang ihn wie eine Fledermaus aussehen lässt. Als er mit einer höflichen Verbeugung vor den beiden Frauen stehen bleibt, zieht er sein Barett und knetet es mit beiden Händen.

»My Lady«, sagt er und schlägt die Hacken zusammen. »Sir John Brydges, Leutnant des Tower.« Er strahlt Strenge aus, er ist ein Gardist, vermutet Levina; doch dann fällt die Förmlichkeit von ihm ab. »Mein Herz fühlt mit Euch, my Lady. Meine Gemahlin und ich …« Er zaudert, seine Stimme bebt leise. »Wir haben Eure Tochter in diesen letzten Monaten sehr lieb gewonnen. Sie ist ein bemerkenswertes Mädchen.«

Frances sieht aus, als ertränke sie, und scheint nicht fähig, irgendetwas zu antworten, doch dann ergreift sie seine Hand und nickt bedächtig.

»Man wird sie nun herunterbringen.« Seine Stimme ist kaum mehr als ein Wispern. »Ich kann Euch einen Augenblick mit ihr gewähren. Ihren Gemahl lehnte sie ab zu sehen, bevor er …« Er meinte, »… bevor er starb«, hat aber den Takt, es nicht auszusprechen. »Nach Euch jedoch hat sie gefragt.«

»Bringt mich zu ihr«, murmelt Frances unter Mühen.

»Äußerste Diskretion ist erforderlich. Wir dürfen keinerlei Aufmerksamkeit erregen.« Es ist eindeutig, dass er auf Bonner und seine katholische Meute anspielt. »Ich gehe voraus. Ihr folgt mir in einigen Augenblicken. Nehmt den Hintereingang des Gebäudes da drüben.« Er zeigt auf ein winziges Haus, das sich unter den Bell Tower duckt. »Wir erwarten Euch dort.«

Er wendet sich um und geht; als die Frauen ihm ein wenig später folgen, könnte man annehmen, sie suchten Schutz vor dem Wind. Die Tür ist so niedrig, dass sie sich bücken müssen; als sie sie hinter sich zuziehen, umfängt sie Dunkelheit. Es dauert eine Weile, bis ihre Augen sich angepasst haben. Als Levina gegenüber eine weitere Tür entdeckt, fragt sie sich, ob sie dort hineingehen sollen; sie spürt, dass sie die Initiative übernehmen muss, denn Frances scheint nicht in der Lage, auch nur das Geringste zu tun. Gerade als sie auf die Tür zugeht, öffnet diese sich knarrend einen Spalt, und Brydges lugt heraus. Als er die beiden Frauen erkennt, drückt er sie ganz auf, und da steht Jane, von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt, mit zwei Büchern in ihren winzigen weißen Händen. Mit einem Lächeln sagt sie: »Maman!«, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag.

»Chérie!«, ruft Frances, und sie fallen sich in die Arme, während Frances immer wieder »Ma petite chérie« flüstert. Das Französische verleiht dem Augenblick etwas Theaterhaftes, als wäre es eine Szene aus einem historischen Festspiel. Levina bemerkt auch, dass eher Jane die Mutter zu sein scheint; sie wirkt so gelassen, so beherrscht.

Levina tritt zur Seite und wendet sich diskret ab, obwohl die beiden sich nicht einmal daran zu erinnern scheinen, dass sie zugegen ist.

»Es tut mir so leid, chérie … so unendlich leid.«

»Ich weiß, Maman.« Jane löst sich aus der Umarmung, sammelt sich und...