dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die drei Sonnen - Roman

Cixin Liu

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641173074 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

4,99 EUR


 

2

Der stumme Frühling

Zwei Jahre später, im Großen Hinggan-Gebirge im äußersten Nordosten der Inneren Mongolei, dem nördlichsten Punkt Chinas

»Achtung, Baum fällt!«

Mit diesem weithin hallenden Ruf fiel donnernd eine Dahurische Lärche, die so groß wie eine der Riesensäulen des Parthenon war. Ye Wenjie spürte, wie die Erde erzitterte. Sie griff nach Axt und Baumsäge und begann damit, die Äste von dem riesigen Stamm zu entfernen. Diese Arbeit kam ihr immer so vor, als säuberte sie den Leichnam eines Riesen. Manchmal stellte sie sich sogar vor, dieser Riese wäre ihr Vater. Es war dann das gleiche Gefühl wie vor zwei Jahren an jenem entsetzlichen Abend, an dem sie in der Leichenhalle versucht hatte, den Leichnam ihres Vaters zurechtzumachen. Die aufgeraute und rissige Borke der Lärche glich dem von Verletzungen übersäten Körper ihres Vaters.

In den weiten Steppen und Wäldern verteilten sich mehr als hunderttausend Soldaten. Sie gehörten zum Produktions- und Aufbaukorps der Inneren Mongolei, das aus sechs Divisionen und einundvierzig Regimentern bestand. Viele der Jugendlichen, die gerade von der Stadt in diese fremde Wildnis versetzt worden waren, träumten einen romantischen Traum: Sobald die Panzer des sowjetischen Imperialismus die chinesische Grenze zur Mongolei überrollen würden, wären sie die Ersten, die sich blitzschnell bewaffneten und mit ihrem Fleisch und Blut einen Schutzschild für ihre Volksrepublik bildeten. Tatsächlich war das einer der strategischen Gründe, warum man das Produktions- und Aufbaukorps zusammengestellt hatte.

Aber der Krieg, den sie mit Inbrunst ersehnten, war so weit entfernt wie die Berge am Horizont hinter der Steppe. Auf dem Weg dorthin hätte man mit Leichtigkeit ein Pferd zu Tode gehetzt. Deshalb begnügten sie sich damit, das Grasland urbar zu machen, die Wälder zu roden und das Vieh weiden zu lassen.

Während der Kulturrevolution hatten sie mit brennendem, jugendlichem Eifer in den Städten gekämpft. Doch sie merkten schnell, dass die Städte hier in den weiten Steppen der Inneren Mongolei nicht größer als ein Schafpferch waren. In der Eiseskälte des Graslands und der Wälder war ihre Inbrunst bedeutungslos. Ein heißblütiger Temperamentsausbruch war da schneller als ein frischer Kuhfladen abgekühlt, mit dem Unterschied, dass der Kuhfladen noch einen reellen Nutzwert besaß. Dennoch war es das Schicksal ihrer Generation, vom Feuer verbrannt zu werden. Und so verwandelten sich unter dem Ansturm ihrer hydraulischen Kettensägen weite Teile der mongolischen Wälder in Ödland und kahle Hügel. Ihre Traktoren und Mähdrescher machten aus großflächigen Graslandschaften zunächst Getreidefelder und dann Wüsten.

Ye Wenjie hielt diesen Kahlschlag für Irrsinn. Große, kerzengerade gewachsene Dahurische Lärchen aus dem Hinggan, immergrüne mongolische Pinien, grazil gewachsene Weißbirken, hoch in den Himmel reichende Zitterpappeln, Sibirische Tannen, dann noch Schwarzbirken, Eichen, Ulmen, mandschurische Eschen, Riesenweiden, mongolische Eichen. Aufs Geratewohl fällten sie alles, was ihnen in den Weg kam. Hundert Kettensägen waren am Werk, wie ein Schwarm eiserner Heuschrecken. Wo immer ihre Kompanie aufkreuzte, hinterließ sie nur Baumstümpfe.

Die fertig vorbereitete Lärche konnte nun mit dem Kettentraktor weggezogen werden. Ye Wenjie strich sanft über die frische Schnittstelle am Stamm. Sie tat das oft intuitiv, denn es kam ihr vor, als hätte der Baum dort eine große Wunde, und sie meinte, sich in seinen Schmerz einfühlen zu können. Plötzlich bemerkte sie, dass ein paar Meter von ihr entfernt jemand über die Sägestelle am Baumstumpf streichelte. Am Zittern der Hand, die zwar blass war, aber eindeutig einem Mann gehörte, erkannte sie ein Herz, das wie ihres empfand.

Sie blickte auf und sah Bai Mulin. Er war ein bebrillter, feingliedriger Jüngling und arbeitete als Reporter für die Große Produktion, die Zeitung ihres Truppenverbands. Erst vorgestern war er zu ihrer Kompanie gestoßen, um Interviews zu führen. Ye Wenjie hatte schon Artikel von ihm gelesen. Sie erinnerte sich an seinen Schreibstil, der sich durch Feinheit und Sensibilität auszeichnete und gar nicht zu dieser wüsten Umgebung passen wollte.

»Ma Gang, komm doch mal!«, rief er einem Jungen in der Nähe zu. Wie die Lärche, die er gerade gefällt hatte, strotzte Ma Gang nur so vor Kraft. »Weißt du, wie alt dieser Baum ist?«

»Ich zähl mal nach.« Ma Gang deutete auf die Jahresringe am Baumstumpf.

»Das hab ich schon getan, es sind mehr als dreihundertdreißig Jahre. Kannst du dich erinnern, wie lange du dazu gebraucht hast, ihn umzusägen?«

»Keine zehn Minuten. Ich kann dir sagen, bei uns in der Kompanie bin ich der schnellste Kettensägenführer. In welcher Gruppe ich auch arbeite, die Rote Wanderfahne folgt mir immer.« Ma Gang war aufgeregt. Alle, die Reporter Bai Mulin befragte, waren aufgeregt. Es war ja auch eine große Ehre, wenn man in der Großen Produktion erwähnt wurde.

»Mehr als dreihundert Jahre, das sind fast fünfzehn Generationen Menschenleben. Als die Lärche ein Sämling war, regierten noch die Ming-Kaiser. Wie viele Regengüsse dieser Baum erlebt hat, bei wie vielen Ereignissen er Zeuge war. Und du sägst ihn in ein paar Minuten um. Hast du dabei nichts empfunden?«

»Was soll ich denn dabei empfinden?« Ma Gang stutzte. »Das ist doch nur ein Baum. Und Bäume gibt’s in dieser Gegend wie Sand am Meer. Hier stehen überall Kiefern rum, die noch viel älter als diese Lärche sind.«

»Ist schon in Ordnung. Du kannst mit deiner Arbeit weitermachen, und ich störe dich nicht mehr.« Kopfschüttelnd setzte sich Bai Mulin auf den Baumstumpf und seufzte leise.

Ma Gang schüttelte ebenfalls den Kopf. Es frustrierte ihn, dass der Reporter kein Interview mit ihm führen wollte. »Ihr Intellektuellen habt vielleicht Probleme …« Als er das sagte, streifte er auch Ye Wenjie mit seinem Blick und bezog sie offensichtlich in sein Urteil mit ein.

Der Baumriese wurde weggeschleift. Dabei rissen die Steine und Baumwurzeln am Boden weitere klaffende Wunden in seine Rinde. Von seinem Gewicht blieb in der dicken Schicht aus verrottetem Laub ein breiter Graben zurück, in dem sich rasch Wasser sammelte. Das zerfallende Laub färbte das Wasser dunkelrot, wie Blut.

»Ye Wenjie, komm doch rüber und gönn dir eine Pause.« Bai Mulin deutete auf die freie Stelle neben sich. Sie war wirklich müde. Also legte sie das Werkzeug beiseite und setzte sich Rücken an Rücken mit dem Reporter auf den Baumstumpf.

Nachdem sie eine Zeit lang geschwiegen hatte, sagte Bai Mulin plötzlich: »Ich konnte sehen, was du fühlst. Hier fühlen nur wir beide so.«

Ye Wenjie schwieg weiter. Bai Mulin hatte schon erwartet, dass sie gar nicht mehr antworten würde. Sie war ein schweigsamer Mensch, der selten mit anderen sprach. Neuankömmlinge hielten sie manchmal für stumm.

Bai Mulin sprach wie zu sich selbst: »Als wir im letzten Jahr die Planung machten, bin ich schon einmal in diesem Waldstück gewesen. Ich erinnere mich noch, dass ich gegen Mittag angekommen bin. Meine Gastgeber sagten mir, dass es Fisch zum Essen geben sollte. Ich ging in der kleinen Holzhütte umher und sah einen Topf Wasser über der Herdstelle hängen. Aber von einem Fisch war nichts zu sehen. Als das Wasser zu sprudeln begann, sah ich den Koch mit einem Nudelholz in der Hand nach draußen gehen. Er spazierte zu dem kleinen Gießbach vor der Hütte, schlug ein paar Mal mit dem Holz – peng, peng – ins Wasser und hatte gleich ein paar dicke Lachse gefangen. Was für ein Ort, an dem so ein Überfluss herrscht! Und jetzt? Im Bach ist nur noch trübes, totes Wasser. Ich frage mich, welches Ziel unser Truppenverband hier eigentlich verfolgt. Wollen die hier was aufbauen oder alles nur zerstören?«

»Wie kommst du zu solchen Ansichten?«, fragte Ye Wenjie ihn leise. Sie ließ nicht durchblicken, ob sie sie teilte oder ablehnte. Aber schon dass sie überhaupt etwas sagte, erfüllte Bai Mulin mit großer Dankbarkeit.

»Ich habe gerade ein Buch gelesen, das mich tief berührte. Kannst du Englisch lesen?«

Sie nickte.

Daraufhin fischte er ein blau eingebundenes Buch aus seiner Tasche. Bevor er es Ye Wenjie gab, blickte er sich um, weil er sichergehen wollte, dass niemand sie beobachtete. »Dieses Buch ist 1962 erschienen und hat im Westen viel bewegt.«

Sie drehte sich zu ihm um und nahm das Buch. Sie sah, dass es Der stumme Frühling hieß und von einer Autorin namens Rachel Carson stammte....