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Die Holunderschwestern - Roman

Teresa Simon

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641168131 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

 

1

München, Mai 2015

Heute würden ihr die Dampfnudeln gelingen. Katharina Raith hatte die Arbeit an der lädierten Biedermeierkommode schon vor einer Weile unterbrochen, gründlich ihre Hände gewaschen und sich dann von der Werkstatt zum Kochen in den ersten Stock zurückgezogen. Im dritten und kleinsten Zimmer ihrer neuen Wohnung stand der letzte halb ausgepackte Karton, und einige Wände warteten noch immer auf die richtigen Bilder. In der geräumigen Küche jedoch war bereits alles so, wie es sein sollte: An der Stirnseite prangte die Kredenz aus den Zwanzigerjahren, frisch lackiert in leuchtendem Zitronengelb. Gegenüber befand sich der Herd mit ultramoderner Abzugshaube, links flankiert von einer Arbeitsplatte aus Granit, in die ein längliches Feld aus Zwetschgenholz eingelassen war, auf dem sich ganz nach Wunsch kneten und schneiden ließ. Mittelpunkt aber war der längliche Tisch, der ursprünglich aus einem sardischen Bauernhaus stammte und von Katharina so gekonnt restauriert worden war, dass die Beine nicht mehr wackelten und die schwere Platte aus Olivenholz wie geölt wirkte. Er war ihr Lieblingsmöbel. In ihren nunmehr vier Berufsjahren als Restauratorin, die auf die Meisterschule für das Schreinerhandwerk gefolgt waren, hatte sie schon einige alte Schätze aufgearbeitet, aber keiner davon lag ihr so sehr am Herzen wie dieser Bauerntisch, an dem sie jeden Morgen ihren Kaffee trank.

Die schwarze Kladde, die aufgeschlagen darauf lag, trug ihre alten Fettflecken würdevoll, wenngleich sie mittlerweile vom häufigen Umblättern brüchig geworden war. Eine Handschrift prägte die zerlesenen, teilweise eingerissenen Seiten, die schon durch viele Hände gegangen waren – die steilen, fast überkorrekten Schriftzüge ihrer Urgroßmutter Franziska Raith, genannt Fanny, die hier ihre wichtigsten Rezepte niedergeschrieben hatte. Es hatte einiges an Überredungskunst gekostet, bis Paula, Fannys jüngste und einzige noch lebende Tochter bereit gewesen war, diesen Schatz an ihre Großnichte abzutreten, die ebenso gern kochte wie die Ahnin. Inzwischen waren beide gleichermaßen glücklich über diese Entscheidung.

Obwohl Fanny schon zu Beginn der Achtzigerjahre gestorben war, war die Erinnerung an sie in der Familie bis heute lebendig geblieben. Ihre Lebensweisheiten wurden gern zitiert, ihre Kochkunst gelobt. Jeder, der sie noch persönlich gekannt hatte, sprach mit liebevollem Respekt von ihr. Wenn man den Raith-Frauen ein ganz besonderes Kompliment machen wollte, dann sagte man, sie sähen ihr ähnlich. Bei Katharina traf dies in besonderem Maße zu. Sie hatte Fannys weit auseinanderstehende Augen geerbt, die je nach Stimmung und Lichteinfall zwischen Grün und Grau changieren konnten, ihre aschblonden Haare, die sie seit ein paar Wochen kinnlang trug, sowie die kurze, gerade Nase. Auch im Körperbau gab es einige Gemeinsamkeiten wie die schön geformten Schultern, die schlanken Beine und die ebenso schmalen wie äußerst empfindlichen Füße, die rasch mit Blasen gegen unbequemes Schuhwerk protestieren konnten. Nur in der Größe unterschieden sie sich, denn die Urenkelin hätte Fanny um nahezu einen Kopf überragt.

Katharina zog das karierte Küchentuch von der Schüssel und nahm den Teig heraus. Er war prächtig gegangen und zerfiel nicht in kleine Brösel wie bei früheren Versuchen, sondern bildete eine goldene Masse, die glatt und geschmeidig in der Hand lag. Vielleicht hatte sie den Hefeteig ja dieses Mal endlich lange genug aufgeschlagen. Sie stach Kugeln in Eigröße aus, legte sie auf die bemehlte Arbeitsfläche und bedeckte sie erneut, um sie für eine weitere halbe Stunde gehen zu lassen.

Die Zwischenzeit nutzte sie für eine Tasse Espresso auf dem Balkon. Nicht weit entfernt plätscherte der Auer Mühlbach, und sie blickte gedankenverloren auf den Holzboden der Küche. Mit Unterstützung ihrer Freundin und Geschäftspartnerin Isi war das einst so trübe PVC mittlerweile hellen Bambusplanken gewichen, die exotisches Flair verströmten und sich perfekt zum Barfußgehen eigneten. Katharina hasste es, sich eingezwängt zu fühlen, und hätte ihr Leben wohl am liebsten ganz ohne Schuhe verbracht. Isabel von Thalheim, genannt Isi, hatte dafür ohne Murren ein ganzes Wochenende geopfert. Da war es das Mindeste, dass sich Katharina mit Uromas sagenumwobener Mehlspeise revanchierte, die Isi für ihr Leben gern aß.

Ob sie rechtzeitig zurück sein würde?

Versprochen hatte sie es hoch und heilig, aber bei ihren Raubzügen ins bayerische Hinterland konnte man nie ganz sicher sein. Was hatte Isi von dort nicht schon alles angeschleppt! Wurmstichige Holzbänke, bucklige Bauernschränke, Wirtshaustische, die unzählige Arbeitshände und Kartenspiele im Lauf der Jahrzehnte blank gescheuert hatten. In manchen Dörfern wurden die Türen verrammelt, sobald der rote Transporter mit dem Münchner Kennzeichen erneut auftauchte. Anderenorts dagegen öffneten die Leute bereitwillig Scheunen und Dachböden, weil sie nirgendwo ihr altes Zeug besser loswerden konnten. Großer Einsatz, aber nur wenige echte Treffer, so präsentierte sich bislang die Ausbeute. Eigentlich als Zwischenlager für Aufträge gedacht, die auf die Abholung warteten, war der längliche Schuppen im Hinterhof, den der Hausbesitzer ihnen zusätzlich zur Werkstatt vermietet hatte, mittlerweile zu einer Art Sammellager verkommen. Hier stapelten sich die kuriosesten Fundstücke, Isi jedoch dachte noch lange nicht ans Aufhören.

»Ich bin nun mal ein Trüffelschwein, wenn es um Trödel geht, und erkenne Schätze, an denen andere blindlings vorbeilaufen. Irgendwann gelingt uns der ganz große Coup, das weiß ich genau.« Ihre wasserblauen Augen bekamen einen schwärmerischen Ausdruck. »Und dann wirst du mir bis zum Ende aller Tage dankbar sein!«

»Oder wir ersticken über kurz oder lang in all den nutzlosen Gerätschaften«, hatte Katharina gekontert. »Und gehen verarmt, aber stilvoll pleite.«

Isis rauchige Lache, mit der sie diesen Einwand pariert hatte, war einzigartig. Manchmal wünschte sich Katharina, selbst etwas mehr von der Lässigkeit zu besitzen, die ihrer Freundin so eigen war wie die winzigen, fast immer zerschrammten Hände und die kastanienbraune Mähne, die sie meistens wie eine Tänzerin im strengen Knoten trug. Aber schließlich war sie ja auch nicht als Comtesse auf einem verfallenen burgenländischen Schloss geboren worden, sondern hatte vor 32 Jahren in der beschaulichen Münchner Maxvorstadt das Licht der Welt erblickt. Dass sie sich trotzdem schon seit der Lehrzeit, die beide nach dem Abitur gemeinsam in den Werkstätten der Münchner Staatsoper absolviert hatten, so gut verstanden, war ein kleines Wunder, an das sich beide im Laufe der Jahre gewöhnt hatten.

Katharina vertiefte sich für die nächsten Schritte noch einmal in Uroma Fannys Rezept. Milch, Zucker und Butter kamen fingergliedhoch in den schweren Topf und wurden auf kleiner Flamme erhitzt. Sie setzte die Teigstücke nebeneinander in die Flüssigkeit, deckte sie zu und legte zusätzlich ein altes Küchengewicht darauf, damit ja kein Dampf entwich. Vorsichtig öffnete sie eines von Paulas heiligen Einmachgläsern und füllte etwas von dem Holunderkompott in eine Schüssel. Danach kratzte sie mit einem kleinen Messer das Innere einer Vanilleschote aus und gab es in den Topf mit Sahne und Milch. Zwischendrin schlug sie Eigelb mit Zucker auf, schüttete zwei Kellen Milch dazu und rührte das Gemisch vorsichtig unter.

Wann genau war Vanillesauce eigentlich fertig?

Fanny Raith hatte vor fast 100 Jahren einen einfachen Trick dazu niedergeschrieben: »Wenn man auf einem Holzlöffel eine Rose pusten kann.«

Katharina wollte es gerade ausprobieren, als sie von unten Geräusche hörte. Die Werkstatt war abgesperrt, aber es gab eine Treppe, die vom Hausgang direkt heraufführte, und sie hatte die Wohnungstür angelehnt gelassen. Sie kannte Isi nur zu gut. Wahrscheinlich hatte sie wie so oft ihren Schlüssel vergessen, und so würde sie ohne Probleme in die Wohnung kommen.

»Servus, Contessina!«, rief sie. »Essen ist fertig. Du kommst also goldrichtig …«

Doch es war nicht Isi, die plötzlich auf der Schwelle stand, sondern ein Mann, den Katharina noch nie gesehen hatte. Er war groß, hatte dunkle Haare, trug Jeans und ein graues T-Shirt. Seine markanten Züge wurde von der schwarzen Sonnenbrille noch betont.

»Sorry«, sagte er, bevor Katharina auch nur einen Ton herausbrachte. »The door was open …« Er begann zu schnuppern. »What are you cooking? It smells great …«

»Dampfnudeln«, erwiderte sie nicht gerade überfreundlich. »Was wollen Sie denn hier? Das ist eine Privatwohnung!«

»Daempfnoodeln.« In seinem Mund schienen die Buchstaben immer mehr zu werden. »What a funny word!« Er schüttelte den Kopf, dann wechselte er ins Deutsche. »Verzeihen Sie bitte meinen Überfall, aber ich bin auf der Suche nach Katharina Raith.« Sein Deutsch war flüssig, der britische Akzent jedoch unüberhörbar. »Sind Sie das möglicherweise?«

»Ja, das bin ich.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ihre Urgroßmutter hieß Franziska? Fanny Raith, geborene Haller?«

Katharinas Haut begann zu prickeln. »Ja«, sagte sie, noch immer zurückhaltend. »Das ist ebenfalls richtig. Weshalb wollen Sie das wissen? Und wer sind Sie überhaupt?«

Er lächelte erleichtert, nahm die Brille ab, und sofort erschien er Katharina jünger.

»Well«, sagte er. »Dann bin ich hier wohl endlich an der richtigen Adresse. Mein Name ist Alex Bluebird, und ich komme aus London. Nice to meet you!«

»Alex...