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Mein bester letzter Sommer - Roman

Anne Freytag

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641164522 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

Sterben

Ich dachte, sterben ist einfach. Ich dachte, es geht schnell. Wie geboren werden, nur rückwärts. Aber die Wahrheit ist, ich hatte keine Ahnung. Mein ganzes Wissen ist nichts wert. Man lernt in der Schule nicht, wie sterben geht. Man lernt es nicht in Filmen oder Büchern. Wenn es darum geht, ist man allein. Ich bin siebzehn Jahre alt und werde niemals achtzehn werden. Irgendwie warte ich darauf, es zu verstehen. Wirklich zu begreifen, was das bedeutet. Früher dachte ich immer, es wäre gut zu wissen, wie viel Zeit man noch hat, aber da bin ich auch davon ausgegangen, dass es viele Jahre sein werden. Ich habe ein Verfallsdatum. Okay zugegeben, letztlich hat jeder eines, aber zu wissen, dass die meisten Konservendosen in unserer Speisekammer länger hier sein werden als ich, ist hart. Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, was ich verpassen werde. Ich habe zu wenig gelebt. Und vor allem viel zu kurz. Ich werde als siebzehnjährige Jungfrau sterben. Als Musterschülerin ohne Führerschein. Ich werde nie ausziehen und eine eigene Wohnung haben. Ich werde sterben, ohne jemals einen Jungen nackt gesehen zu haben – und damit meine ich nicht im Fernsehen oder im Internet. Ich meine einen echten Jungen mit einer echten Erektion, die er im besten Fall meinetwegen hätte.

Ich trockne mich ab, lege das Handtuch zur Seite und binde mir das feuchte Haar zusammen. Die Reflexion im noch leicht beschlagenen Badezimmerspiegel zeigt mir eine junge Frau, gefangen im Körper eines dürren Mädchens. Sie starrt mich nur an mit ihren großen grünblauen Augen und diesem Blick, als wären sie und ich nicht dieselbe Person. Unter der weißen Haut zeichnen sich meine Knochen ab. Das Becken und die viel zu spitzen Hüften, die Schlüsselbeine und Rippenbögen. Nein, bei diesem Anblick bekäme kein Junge eine Erektion. Obwohl, vielleicht, wenn er wirklich kurzsichtig ist? Vermutlich nicht mal dann. Ich war schon immer schlank, aber inzwischen bin ich nur noch ein blasser Schatten. Meine Augen wandern weiter über meinen klapprigen, nackten Oberkörper und bleiben zwischen meinen kleinen Brüsten hängen. Diese Narbe anzusehen ist wie eine seltsame Sucht. Etwas, das mich unendlich anwidert und abstößt, dem ich mich aber einfach nicht entziehen kann. Als bräuchte ich den Ekel. Wie bei einem Unfall. Man will wegsehen, aber es geht nicht.

Ich strecke zaghaft die Finger aus und berühre vorsichtig das seltsam weiche, vernarbte Gewebe. Das Gefühl unter meinen Fingerkuppen treibt mir sofort einen eisigen Schauer über den Rücken. Meine Augen wandern über die Narbe, die meinen gesamten Oberkörper in Rechts und Links teilt. Die zeigt, wie oft ich offen dalag. Mein Vater hat mal zu mir gesagt, dass ich das gute Herz meiner Großmutter geerbt habe, aber das stimmt leider nicht. Verborgen unter fahler Haut schlägt eine tickende Zeitbombe ihren letzten Sekunden entgegen.

Als es neben mir an der Tür klopft, zucke ich zusammen und greife schnell nach dem Bademantel. Ich schlüpfe hinein und verstecke mich und die Narbe im weichen Frottee, dann öffne ich die Tür.

»Was ist?«

»Tessa, Liebes, alles okay?«, fragt meine Mutter. Ich nicke. »Hast du heute schon deine Medikamente genommen?«

»Was geht es dich an?«

»Hast du?«, bohrt sie.

»Es sind meine Schmerzen.« Meine Mutter sieht mich nur wartend an, mit diesem Blick, dem ich nicht ausweichen kann. Schließlich verdrehe ich genervt die Augen und antworte: »Ja, ich habe sie genommen, zufrieden?«

»Morgens und mittags?« Ich nicke genervt. »Gut«, sagt sie und lächelt mich an. »In eineinhalb Stunden erwarten wir Besuch. Kommst du dann bitte runter?«

»Was für ein Besuch?«

»Ein Studienfreund deines Vaters.«

»Und was hat das bitte mit mir zu tun?«

»Jetzt komm schon, Süße, es wird dir guttun, mal rauszukommen.«

»Rauszukommen? Das Esszimmer ist wohl kaum rauskommen«, antworte ich patzig.

»Es ist ein Anfang.« Sie hat recht. Ich gehe gar nicht mehr raus. »Bitte, Tessa.«

»Wozu? Ich werde bald tot sein.«

»Sag das nicht.«

»Aber es ist doch so.«

»Liebes, du bist noch nicht tot.«

»Na ja, vielleicht übe ich ja …«

Ihr Blick verändert sich, und hinter einer wütenden Maske entdecke ich Tränen. »Du wirst runterkommen, verstanden? Dieses Wiedersehen ist für deinen Vater sehr wichtig. Karl war während des Jurastudiums sein bester Freund, und sie haben sich seit Jahren nicht gesehen.« Ich frage mich noch immer, warum ich da dabei sein muss, sage aber nichts. »Außerdem wird es dir nicht schaden, auch mal etwas Vernünftiges zu essen.« Das macht garantiert einen riesigen Unterschied. Ein paar Vitamine und Ballaststoffe sind bestimmt die Lösung. »Ich habe den ganzen Tag in der Küche verbracht und gekocht.«

»Ganz sicher nicht meinetwegen.«

»Hör zu, Tessa, es ist eine Sache, mir nicht zu helfen, aber ich finde, es ist wirklich nicht zu viel verlangt, dass du nach unten kommst.« Ich will gerade widersprechen, da hebt sie nur die Hände und sagt: »Du wirst mitessen. Keine Widerrede. Und bitte zieh dir zur Abwechslung mal etwas Schönes an, ich kann diese schreckliche Jogginghose langsam nicht mehr sehen.« Mit diesem Satz wendet sie mir den Rücken zu und geht wütend die Stufen hinunter.

Einen Moment lang bleibe ich in der Tür stehen und starre ins Leere, an die Stelle, wo sie eben noch stand. Ich kann mich nicht bewegen, fast so, als würden meine Gedanken mich in den Schwitzkasten nehmen. Das war das erste Mal seit Wochen, dass meine Mutter laut geworden ist. Egal wie ich mich aufführe, sie lächelt. Immer. Aber ich will nicht, dass sie lächelt. Ich will, dass sie mich in Ruhe lässt, und sie weiß noch nicht einmal warum. Sie hat keine Ahnung, wieso ich so gemein zu ihr bin. Sie denkt, es liegt am Sterben. Aber das ist es nicht. Zumindest nicht direkt. Ich denke an den Ordner in der Garage, und die Wut zieht meinen Magen zusammen.

Ich benehme mich andauernd daneben, aber niemand sagt etwas. Ich glaube, wenn man stirbt, hat man immer das letzte Wort. Man bekommt einen Freifahrschein. Vielleicht weil die Leute sich davor fürchten, dass ich mitten im Streit plötzlich tot umfalle und sie keine Chance mehr haben, sich zu entschuldigen. Sie lassen einem alles durchgehen, auch wenn es falsch oder gemein ist. Sie tun es, weil sie wissen, dass es nur auf Zeit ist und weil sie insgeheim froh sind, dass es dich trifft und nicht sie. Die Einzige, die mich genauso behandelt wie immer, ist meine kleine Schwester. Und auch wenn sie mich fast zu Tode nervt, rechne ich ihr das hoch an – was ich natürlich niemals zugeben würde. Bis auf Larissa sind alle so bemüht. Mit diesem Lächeln, das nicht bis in ihre Augen dringt, und diesem Blick, in dem sich Mitleid spiegelt.

Deswegen habe ich mich auch seit drei Wochen nicht mehr bei Tine oder Alex gemeldet. Und die Wahrheit ist, ich glaube, sie sind eigentlich beide ganz froh darüber. Sie wollen nicht ans Sterben denken. Und sie wollen sich nicht darüber klarwerden, wie endlich alles ist. Darüber, dass uns jeder Moment umbringen könnte. Das Problem ist nur, dass ich fast ausschließlich darüber nachgrüble. Über alles, was noch kommt. Oder eben auch nicht. Ich passe nicht mehr in ihr Leben. Früher habe ich das. Da waren wir wie ein dreibeiniges Stativ. Wir waren verflochten wie ein Zopf. Jetzt, wo ich sterbe, werden wir wieder zu drei losen Enden.

Ich kann verstehen, dass so ein sterbender Schwan der absolute Stimmungskiller ist, und vielleicht würde ich mich auch meiden. Trotzdem ist es hart, dass ihr Leben einfach weitergeht. Ohne mich. Es ist hart, dass sie bald Abi machen werden. Zusammen ins Ausland gehen. Und sich verlieben. Alex hat seit ein paar Tagen einen neuen Freund. Aber das weiß ich nicht von ihr, das weiß ich von Facebook. Wie hatte das passieren können?

Ich denke kurz an den Beitrag, den Tine neulich bei Facebook gepostet hat, und höre mich abschätzig schnauben. Die Tine, die ich kannte, hätte so etwas nie geschrieben. Diese Tine war nicht taktlos. Aber ihr blöder Post war es. Es war ein Foto von aufgeschlagenen Abi-Trainern, bunten Markierstiften und unleserlichen Notizen. Ich habe ihre Schrift sofort erkannt. Daran erinnert zu werden, dass ich nie meinen Abschluss machen werde, hat wehgetan, aber das war nicht das Problem. Das wirklich Geschmacklose war die Beschreibung zu dem Bild: Boah, diese verdammten Abi-Vorbereitungen bringen mich noch um!

Ernsthaft?

Bin ich überempfindlich oder ist es daneben, so etwas zu schreiben? Immerhin bin ich nicht irgendeine entfernte Bekannte. Ich bin ihre beste Freundin. Na ja, zumindest war ich es mal. Und bald bin ich tot.

Ich gehe in mein Zimmer, und mein Blick fällt auf die schlabbrige Jogginghose auf meinem Bett, die irgendwann einmal eng war und jetzt nur noch traurig an mir hängt wie eine schlaffe Leinwand. Ja, ich trage sie gern. Und oft. Sie passt zu mir, auch wenn sie mir nicht mehr passt. Ich sehe einfach keinen Sinn darin, mich schön zu machen, nur damit ich gut aussehe, falls ich beim Abendessen einen Herzstillstand habe. Man kann mich auch gerne in etwas Gemütlichem in den Sarg legen und einäschern. Und trotzdem gehe ich zu meinem Schrank hinüber und suche in meiner Kleidung nach etwas Passendem, weil irgendetwas ganz tief in mir meine Mutter nicht enttäuschen will, obwohl sie mich enttäuscht hat.

Ich betrachte die vielen Sommerkleider. Sie fühlen sich an wie aus einem anderen Leben, obwohl ich die meisten von ihnen erst letztes Jahr gekauft habe. Ich lasse meine Hand über die...