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Unterleuten - Roman

Juli Zeh

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2016

ISBN 9783641167295 , 656 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1 Fließ

»Das Tier hat uns in der Hand. Das ist noch schlimmer als Hitze und Gestank.« Jule schaute auf. »Ich halte das nicht mehr aus.«

»Es bringt nichts, sich aufzuregen, Liebes.« Gerhard bemühte sich, seiner Stimme einen sicheren Klang zu geben. Je hysterischer Jule wurde, desto fester klammerte er sich an die Vernunft. »Wenn man jemanden hasst, stört einen alles, was diese Person tut.«

»Du meinst, ich soll versuchen, das Tier zu lieben? Und dann wäre es in Ordnung, dass es unser Leben zerstört?«

»Ich meine, dass du dich nicht reinsteigern sollst. Durch die Aufregung schadest du nur dir selbst, und …«

Er kämpfte auf verlorenem Posten. Jule war in sich zusammengesunken und hatte zu weinen begonnen, so dass ihm nichts übrig blieb, als sich neben sie zu setzen und ihr einen Arm um die Schultern zu legen. Auf dem Schoß hielt sie die kleine Sophie, die sich in ihren Armen wand und unentwegt quengelte. Das Baby fand keine Ruhe und wachte auch nachts ständig auf, was bei der Hitze im Haus kein Wunder war. Dass Jule die Kleine ständig an die Brust presste, machte die Sache nicht besser. Seit die Feuer brannten, raubten sie sich gegenseitig den letzten Nerv.

Mit einem Hemdzipfel trocknete sich Gerhard das Gesicht. Die Haut spannte über den Knochen. In letzter Zeit vermied er den Blick in den Spiegel. Jule sah erschöpft aus, aber sein eigener Anblick war verheerend. Das lag an den zwei Jahrzehnten, die er ihr voraushatte, und an der Hagerkeit, die ihm jede Anstrengung scharf ins Gesicht schnitt.

Als Jule vor fünf Jahren zum ersten Mal in einem seiner Seminare an der Humboldt-Universität aufgetaucht war, hatte er bei ihrem Anblick spontan »Willkommen!« gesagt und nicht nur die Lehrveranstaltung, sondern gleich sein ganzes Leben gemeint. Ruhig hatte Jule zwischen den anderen Studenten gesessen, rothaarig, hellhäutig und wie von Licht umgeben, was außer ihm niemand zu bemerken schien. Ihre offenen Haare und das fließende Kleid schienen von Woodstock zu erzählen und weckten in Gerhard die Sehnsucht nach einer Epoche, die er verpasst hatte. Statt mit Blumen im Haar auf Sommerwiesen zu liegen, hatte er als junger Mensch in kommunistischen Arbeitskreisen gesessen und sich Sorgen um den Zustand der Welt gemacht. Die Frauen in seiner Umgebung waren nicht halb nackt und auf LSD, sondern steckten in dunklen Rollkragenpullovern, trugen Brillen und rauchten Kette, während sie über den Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Endphase diskutierten. Vor der Kulisse dieser Erinnerung erschien Jule als Abgesandte aus einer anderen Welt.

Jetzt blickte er auf ihren gebeugten Nacken und die bebenden Schultern und wünschte, er könnte Hitze und Gestank einfach in sich einsaugen, alle Last auf sich nehmen, um Jule und Sophie zu befreien. Es war Hochsommer, 32 Grad im Schatten, und sie saßen seit vier Tagen eingesperrt im Haus, ohne Möglichkeit, in den Garten zu gehen oder auch nur ein Fenster zu öffnen. Nicht einmal bei Nacht konnten sie lüften, weil Schaller, den Jule nur noch »das Tier« nannte, die Feuer auch nach Sonnenuntergang nicht ausgehen ließ. Wenn Gerhard sich ausmalte, wie das Tier nachts alle zwei Stunden aus dem Bett kroch, um die Feuer in Gang zu halten, begannen seine Hände vor Hass zu zittern.

»Bald kommt die Mauer, Liebes.«

Seit das Tier auf dem Nachbargrundstück eine »Autowerkstatt« betrieb – ein Begriff, der sich angesichts von Schallers Müllhalde nur in Anführungszeichen denken ließ –, hörte sich Gerhard immer häufiger mit der Stimme eines Nahost-Diplomaten reden. Jule hob das verweinte Gesicht.

»Wann?«

»Sobald das Genehmigungsverfahren abgeschlossen ist.«

»Du meinst, wenn die Scheißämter zur Vernunft gekommen sind.« Jule wurde lauter. »Wenn sie einsehen, dass sie nicht dem Tier einen Schrottplatz erlauben und uns den Sichtschutz verbieten können!«

Gerhard schüttelte den Kopf. Es brachte nichts, auf diese Weise darüber zu reden. Tatsache war, dass von der geplanten Mauer seit Monaten nicht mehr als ein metertiefer Schacht entlang der Grenze zu Schallers Grundstück existierte. In Anflügen von schwarzem Humor nannten Gerhard und Jule die brachliegende Baustelle ihren Schützengraben. Auf dem Wall entlang des Grabens wuchsen bereits Gras und Robiniensprösslinge. Die Mauer hätte ihnen den Anblick von Schallers zugemülltem Hof ersparen und die Privatheit des Gartens wiederherstellen sollen. Um effektiven Sichtschutz zu bieten, musste sie 2,40 Meter hoch sein. Das Bauamt war der Meinung, dass zwei Meter genügten. Obwohl Gerhard durch seinen neuen Job beim Vogelschutzbund über gute Beziehungen zu den Behörden verfügte, war es ihm nicht gelungen, das Verfahren zu beschleunigen.

»Gegen den Gestank würde die Mauer sowieso nicht helfen«, sagte er leise.

In den vergangenen vier Tagen hatte sich der Rauch im gesamten Garten verteilt. Die Schwaden zogen über den Schützengraben, hingen in den Himbeersträuchern, fuhren in kleinen Wirbeln durch die drei jungen Tannen, die mit der Zeit zu einem Nadelwald anwachsen würden, weil Jule jedes Jahr einen Weihnachtsbaum im Topf kaufte und ihn im Frühling in die Ecke hinter dem Geräteschuppen pflanzte. Der Rauch stieg sogar bis in die Kronen der Robinien, die das Dach um mehrere Meter überragten. Ihr kleines Paradies hatte sich mit giftigen Dämpfen vollgesogen. Trotz geschlossener Fenster und Türen war der Gestank auch in die Räume gedrungen. Es gab Momente, in denen Gerhard zu wünschen begann, sie hätten dieses Haus nicht gekauft und sich stattdessen eine einsame Jagdhütte im Wald gesucht, auf einer Lichtung, kühl, gut belüftet, ohne Nachbarn. Menschen brauchten Abstand voneinander. Gerhard hatte lange genug in Berlin gelebt, um das zu wissen. Nicht gewusst hatte er, dass selbst ein Dorf mit zweihundert Einwohnern zu eng sein konnte.

»Du weißt doch, wie die Leute hier sind. In der DDR gab es eben keine Umweltbewegung. Jeder verbrennt seinen Müll, wie es ihm passt.«

»Was der da drüben macht, ist keine Müllverbrennung«, unterbrach ihn Jule.

»Jeder bohrt Brunnen hinterm Haus, zapft das Grundwasser an, baut Schuppen im Außenbereich.« Gerhard versuchte die Flucht ins Allgemeine. »Niemand will einsehen, dass er die Unterleutner Heide nicht als Galoppstrecke für Pferde oder als Motocrossbahn benutzen kann. Dass dort Kampfläufer brüten, interessiert die Leute überhaupt nicht. Deshalb ist es so wichtig, dass der Naturschutz …«

»Es geht hier ausnahmsweise nicht um deine Kampfläufer!«, rief Jule. »Es geht darum, dass das Tier meine Tochter vergiftet!«

Weil Jule die Stimme hob, ging Sophies Quengeln erneut in Geschrei über, woraufhin Jule aufsprang und im Zimmer hin und her zu wandern begann. Gerhard konnte es nicht leiden, wenn sie »meine Tochter« sagte. Sophie war genauso seine Tochter, auch wenn er noch immer nicht begriff, wie es ihm gelungen war, etwas so Reizendes hervorzubringen. Obwohl die Kleine in vielerlei Hinsicht sein Gegenteil verkörperte, schaffte sie es trotzdem, ihm ähnlich zu sehen. Sie war eine winzige weibliche Variante seiner selbst.

»Soll ich sie mal nehmen?«

Statt zu antworten, drückte Jule das Baby noch fester an die Brust, als könnte Gerhard versuchen, es zu entführen. Auch ohne Schallers Giftfeuer war Jule in letzter Zeit schwierig gewesen. Seit Sophies Geburt vor knapp sechs Monaten litt sie unter einer Art nervöser Geistesabwesenheit. Wenn Gerhard danach fragte, antwortete sie stets, es gehe ihr gut. Dabei stand sie offensichtlich neben sich, hörte manchmal nicht, wenn er sie ansprach, schaute erst auf, wenn er lauter wurde, und blickte ihn an wie einen Fremden. Nicht, dass er ihr das übel genommen hätte. Das Stillen brachte es mit sich, dass Jule unter massivem Schlafentzug litt. In Lagern der CIA wurden Häftlinge gefoltert, indem man sie in unregelmäßigen Abständen weckte. Außerdem hatte Gerhard im Internet gelesen, dass Väter nicht selten nach der Geburt eines Babys von den Müttern zurückgewiesen würden und dass sich dieses Syndrom nach einiger Zeit von alleine gebe. An dieser These hielt er sich fest. Eines Tages würde Jule mit Stillen aufhören und wieder wie früher werden. Sie würde mit unbekümmertem Lachen abstreiten, überhaupt irgendwie »komisch« gewesen zu sein. Auf diesen Augenblick freute er sich. Gerhard liebte Sophie abgöttisch, aber er war nicht bereit, seine Frau an das Baby zu verlieren.

»Lass uns einen Ausflug machen«, sagte Gerhard. »Wir packen Sophie ein und fahren zum See. Einfach raus hier, an die frische Luft.«

»Am See sind zu viele Mücken.«

»Dann eben woandershin.«

»Und wohin?«

»Ist doch egal! In den Wald! Spazieren!«

»Auf den unbefestigten Wegen kann man den Kinderwagen nicht schieben.«

»Herrgott, Jule!«

Sie kam zurück zur Couch, setzte sich und hob das T-Shirt, um Sophie die Brust zu geben. Mit einem Schlag kehrte Ruhe ein, eine Stille, die in den Ohren brauste. Gerhard betrachtete Sophies winziges Gesicht, die zornige Miene beim Milchtrinken, die an den Wangen geballten Fäuste, mit der ganzen Kraft eines kleinen Körpers ans Leben geklammert. Einige Strähnen von Jules langen Haaren hatten sich aus dem Zopf gelöst und fielen über die nackten Beine des Babys. Jule weinte immer noch lautlos. Gelegentlich landete eine Träne auf Sophies Rücken. Der Anblick schnitt Gerhard ins Herz.

»Jule«, sagte er sanft. »Ich lasse euch ein paar Minuten allein, verschwinde in der Küche und mache uns ein schönes Ginger Ale. Einverstanden?«

Jule nickte, ohne den Kopf zu heben. Gerhard küsste...