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Elfenseele - Die komplette Trilogie - Hinter dem Augenblick. Zwischen den Nebeln. Jenseits der Ferne

Michelle Harrison

 

Verlag Loewe Verlag, 2016

ISBN 9783732005833 , 1328 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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12,99 EUR


 

1

ie war sich ihrer Anwesenheit im Zimmer bewusst, noch bevor sie erwachte.

Es begann mit einem unheilvollen Zucken in den Augenlidern, für Tanya stets ein sicheres Zeichen dafür, dass Ärger bevorstand. Genau dieses Zucken weckte sie. Schlaftrunken öffnete sie die Augen. Wie üblich hatte sie sich die Bettdecke über den Kopf gezogen – eine Angewohnheit aus Kindertagen, die sie nicht ablegen wollte, und das aus gutem Grund. Sie lag unbequem, aber daran ließ sich jetzt nichts ändern. Wenn sie sich bewegte, verriet sie ihnen, dass sie wach war.

Unter der Decke war es stickig und Tanya wollte nichts lieber, als sie von sich zu strampeln und den sanften Lufthauch auf Gesicht und Armen zu spüren, der durch das offene Fenster hereinkam. Sie versuchte sich einzureden, dass sie nur schlecht geträumt hatte; vielleicht waren sie in Wirklichkeit ja gar nicht da. Trotzdem rührte sie sich nicht. Denn tief in ihrem Innersten wusste sie, dass sie da waren, wusste es so sicher, wie sie wusste, dass sie die Einzige war, die sie sehen konnte.

Ihre Lider zuckten erneut. Tanya konnte sie spüren, durch die Decke hindurch, konnte spüren, dass die Luft erfüllt war von einer sonderbaren Energie. Sie konnte sogar die erdige Feuchtigkeit von Laub, Pilzen und reifen Beeren riechen. Es war ihr Geruch.

Eine leise Stimme zerschnitt die Dunkelheit.

»Sie schläft. Soll ich sie wecken?«

Tanya versteifte sich in ihrer Zuflucht unter der Decke. Die Blutergüsse vom letzten Mal waren noch nicht verschwunden. Sie hatten sie buchstäblich grün und blau gezwickt. Ein heftiger Stoß in die Rippen ließ sie nach Luft schnappen.

»Die schläft nicht.« Die zweite Stimme klang eisig, beherrscht. »Sie tut nur so. Egal. Mir gefallen diese kleinen … Spielchen.«

Jetzt fiel die Schläfrigkeit endgültig von ihr ab. Die unterschwellige Drohung in diesen Worten war unmissverständlich. Tanya wollte die Decke von sich schleudern – aber ganz plötzlich war das Ding unglaublich schwer, wie ein Tonnengewicht lastete es auf ihr. Und es wurde immer schwerer.

»Was soll das? – Was macht ihr?«

Sie riss und zerrte an dem Stoff und versuchte wie rasend, ihn loszuwerden. Aber er schien sich nur noch fester um sie herumzuwickeln, wie ein Kokon. Ein entsetzlich langer Moment verging, in dem sie nur nach Luft rang, dann bekam sie den Kopf frei und sog gierig die kühle Nachtluft ein. In ihrer Erleichterung sah sie den gläsernen Stern vor ihrem Gesicht und die Glühbirne darin erst nach ein paar Sekunden und eine weitere halbe Sekunde verging, bis sie begriff, dass der Stern ihre Schlafzimmerlampe war.

Plötzlich wusste Tanya, warum die Bettdecke so schwer war. Sie schwebte anderthalb Meter hoch über ihrem Bett – und trug ihr ganzes Gewicht.

»Lasst mich runter

Langsam und ohne dass Tanya auch nur den geringsten Einfluss darauf gehabt hätte, drehte sie sich in der Luft der Länge nach um sich selbst. Prompt glitt die Bettdecke von ihr herunter und landete auf dem Teppich; nur sie hing immer noch hier oben, im Schlafanzug, das Gesicht nach unten gewandt. Ohne den Schutz der Decke fühlte sie sich furchtbar verletzlich. Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und blinzelte in ihr Zimmer hinab. Die Katze schien das einzige Lebewesen in der Dunkelheit dort unten zu sein, ein flauschiger grauer Perser, der zusammengerollt auf dem Fensterbrett lag. Jetzt erhob er sich, warf ihr einen hochmütigen Blick zu, drehte sich, bis er ihr den Rücken zuwandte, und machte es sich wieder gemütlich.

»Wo steckt ihr?«, fragte sie. Obwohl sie flüsterte, zitterte ihre Stimme. »Zeigt euch!«

Irgendwo in der Nähe des Betts stieß jemand ein unangenehmes, fast bösartiges Lachen aus. Bevor Tanya wusste, wie ihr geschah, schlug sie mitten in der Luft einen Purzelbaum, dann einen zweiten, einen dritten und noch einen.

»Hört auf damit!«

Nur allzu deutlich hörte sie die Verzweiflung in ihrer Stimme und hasste sich dafür.

Immerhin wurde ihr ein fünfter Salto erspart; sacht landete sie auf den Füßen – allerdings kopfüber an der Zimmerdecke. Geisterhaft bauschten sich die Vorhänge in der Nachtluft. Sie wandte den Blick ab und holte tief Luft. Es war, als habe sich die Schwerkraft nur für sie allein umgekehrt. Das Blut schoss ihr nicht in den Kopf, ihre Hosenbeine rutschten nicht nach oben und die Haare fielen ihr jetzt über den Rücken.

Sie ließ sich im Schneidersitz auf der Zimmerdecke nieder und gab sich geschlagen. Aus genau diesem Grund kamen sie jedes Mal mitten in der Nacht. Das war ihr schon vor langer Zeit klar geworden. Bei Nacht war sie ihnen hilflos ausgeliefert, wohingegen sie tagsüber weit bessere Chancen gehabt hätte, ein merkwürdiges Geschehnis als einen ihrer Streiche oder Tricks abzutun. Nur ein weiterer von so vielen ›Streichen‹ und ›Tricks‹ im Lauf der Jahre.

Tanya konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann genau sie sie zum ersten Mal gesehen hatte. Eigentlich waren sie immer da gewesen. Sie war mit ihnen aufgewachsen. Als kleines Kind hatte sie noch unter den amüsierten Blicken ihrer Eltern mit ihnen geplappert. Später waren diese Blicke nicht mehr amüsiert gewesen, sondern immer besorgter geworden.

Die Zeit verging und sie lernte, überzeugend genug zu lügen. Es kam gar nicht gut an bei den Erwachsenen, wenn man ihnen etwas von Feen und Elfen erzählte, jedenfalls nicht, wenn man aus einem gewissen Alter heraus war. Plötzlich erntete man dafür keine wissenden Blicke und auch kein liebevolles Lächeln mehr wie früher als kleines Kind. Tanya hatte das nie allzu persönlich genommen. Die Leute glaubten nur, was sie mit eigenen Augen sahen.

In letzter Zeit waren die ›Geschehnisse‹ zunehmend rachsüchtig geworden. Es war ein Unterschied, ob man nach einer feindlichen Begegnung mit einer verzauberten Haarbürste ein paar Haare einbüßte oder feststellen musste, dass sich die Hausaufgaben über Nacht in das Gekrakel eines Geisteskranken verwandelt hatten. Doch jetzt – diese Sache war ernst. Schon seit Monaten wurde Tanya das nagende Gefühl nicht los, dass über kurz oder lang etwas wirklich Schlimmes passieren würde, etwas, aus dem sie sich nicht mehr herausschwindeln konnte. Wenn sie Pech hatte, landete sie wegen ihres merkwürdigen Benehmens noch auf der Couch eines Psychiaters; das war ihre größte Angst. Und diese Angst nahm ständig zu.

Nachts in der Luft herumzusegeln, trug eindeutig nicht dazu bei, ihre Lage zu verbessern. Wenn ihre Mutter aufwachte und sie an der Zimmerdecke herumspazieren sah, würde sie ganz bestimmt keinen Arzt rufen, sondern einen Priester.

Sie steckte in Schwierigkeiten, in großen, großen Schwierigkeiten.

Plötzlich spürte Tanya einen kühlen Luftzug auf der Wange, wie von einem flüchtigen Pinselstrich oder einer gefiederten Schwinge. Tatsächlich stürzte ein großer schwarzer Vogel auf sie herab und landete auf ihrer Schulter. Seine glitzernden Augen blinzelten einmal, dann verwandelte er sich so übergangslos, wie ein Schatten im hellen Sonnenschein verschwand. Seidig schwarzes Haar und zwei rosarote, spitz zulaufende Ohren ersetzten den mörderisch gekrümmten Schnabel und schon nahm eine Frau den Platz des Vogels ein, die kaum größer war als er. Sie trug ein Kleid aus schwarzen Federn. Es hob sich hart von ihrer elfenbeinbleichen Haut ab.

»Raven«, wisperte Tanya. Sie beobachtete, wie sich eine Feder aus dem Kleid der Elfe löste und dem Teppich entgegenschwebte. »Warum seid ihr hier?«

Raven gab keine Antwort. Sie landete am Fußende des Bettes neben zwei anderen kleinen Gestalten, die eine dicklich und mit einer roten Knollennase im Gesicht, die andere dunkelhäutig, drahtig und immer in Bewegung. Beide starrten sie konzentriert zu ihr herauf. Die kleinere von ihnen ergriff als Erste das Wort.

»Du hast wieder etwas über uns geschrieben.«

Tanya spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. »Hab ich nicht, Gredin – wirklich nicht.«

Gredins gelbe Raubtieraugen glitzerten erschreckend intensiv, sein nussbraunes Gesicht verzog sich verächtlich. »Das hast du letztes Mal auch behauptet. Und vorletztes Mal.«

Draußen bewegte sich etwas: Wie von der Nachtluft herangetragen segelte ein dunkler, rechteckiger Gegenstand auf das offene Fenster zu. Anmutig zerteilte er die Vorhänge, schwebte ins Zimmer und verharrte dicht vor Tanyas bestürztem Gesicht. Es war ein Tagebuch, ziemlich neu und gut erhalten – allerdings über und über mit Erdkrumen bedeckt. Sie hatte es erst heute Mittag unter dem Apfelbaum im Garten vergraben. Wie dumm sie doch gewesen war.

»Deines, nehme ich an?«, knurrte Gredin.

»Ich habe es noch nie gesehen.«

Der rundliche kleine Bursche neben Gredin schnaubte.

»Ach, komm schon«, sagte er. »Du willst doch wohl nicht die ganze Nacht da oben sitzen, oder?« Er hob die Hand und strich sacht die Pfauenfeder an seinem Schlapphut entlang, dann zwirbelte er seine Schnurrbarthaare zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Feder schimmerte wie unter einem Zauberbann auf. Der dicke kleine Mann zupfte sie vom Hut und schnipste sie an.

Das Tagebuch öffnete sich und ein Erdklümpchen fiel zu Boden, wo es auf einem von Tanyas Hausschuhen zerbarst. Ein unterdrückter Nieser ertönte darin und gleich darauf krabbelte der vierte und letzte Elf daraus hervor, grobschlächtig und hässlich. Die Kreatur schlug ein paarmal angestrengt mit ihren zerrupften braunen Flügeln und landete in einem uneleganten Gewirbel aus Armen und Beinen auf dem Bett. Nachdem sie unbeholfen ihr Gleichgewicht wiedergefunden und sich zurechtgesetzt hatte, kratzte sie sich hingebungsvoll und ließ einen Schauer aus abgestorbenen Fellbüscheln und...