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Falscher Hase

Kerstin Hensel

 

Verlag Luchterhand Literaturverlag, 2009

ISBN 9783641012557 , 224 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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6,99 EUR


 

Am 21. Dezember 1941, elf Uhr nachts, während Bomben auf Berlin fielen, verbot der Feuerwehroberst Heinrich Theodor Paffrath sich und der werdenden Mutter jegliche Ängste.

Heinrich Theodor Paffrath. Der Vater. Das Bild, das sich aus Heinis Träumen löst: undeutlich, braunfleckig, jedoch in schneidender Gegenwärtigkeit. Heinrich Theodor, ein echter, ein starker Name. Kein kleingetaufter Kosename wie Heini, sondern eine Mannesbezeichnung mit Anklängen an Herrschaft und Gott, im Ganzen siebensilbig – was für ein ausdauernd stolzer Klang!

Heinrich Theodor Paffrath hatte sein Leben dem Feuer verschrieben. Besser: der Bekämpfung desselben, denn Feuer, so sehr es ihn faszinierte, erweckte in ihm frühzeitig den Wunsch, es gleichsam zu bändigen, zu ersticken, kurz: es zu beherrschen. Dabei war Heinrich Theodor eher still, in sich verschlossen und von hilfreicher Güte und pflegte er seinen Feuerbändigungstrieb im Geheimen. Schon als Kind bastelte er Löschbomben aus Einkochgläsern, die er mit Wasser füllte und auf raffinierte Weise mittels Zündschnur und Schießpulver zum Explodieren brachte. Im Konfirmandenalter konnte Heinrich Theodor vor seinen Schulfreunden mit einer Neuerfindung prahlen: Man legte in einem Holzschuppen Feuer, Heinrich Theodor zündete eine mit Salpeter Schwefel Kohle gefüllte Pappkapsel an und warf sie in die Flammen. Mit paffendem Knall zerriß es die Kapsel. Fetter grusiger Rauch füllte den Schuppen, erdrückte das Feuer.

Als Heinrich Theodor Paffrath beim Feuerlöschgerätehersteller Gattberg in Berlin-Tempelhof eine Ausbildung begann, war er dem Meister längst voraus. Er beherrschte bereits jegliche Theorie, stellte sich äußerst geschickt an im Montieren und Installieren von Löschanlagen, hatte Ideen für kühne Neuentwicklungen, aber wenn die Zeichnungen zu kompliziert wurden, verließen Heinrich Theodor die Kräfte. Er saß vor dem Reißbrett und sah nichts als wirre Linien. Von den fertigen Modellen, die man ihm, voll des Lobes für seinen Erfinder, vorführte, hielt er nicht mehr als von einem Spielzeug. Als ob Heinrich Theodor jemand auf der Höhe seiner Begabung eine Wand vor den Kopf baute, ihm die Gedanken abwürgte. Als ob eine stärkere, gleichsam idiotische Macht den jungen Mann fesselte, damit er die Schritte, die er tun sollte, nicht vollführen konnte.

Aber solche Anfälle von Bewußtseinstrübung legten sich, wenn man ihn nur in Ruhe ließ.

 

Noch mit zwanzig Jahren wohnte Heinrich Theodor bei seiner Mutter Lore auf der Eisenzahnstraße in Berlin-Wilmersdorf.

Vater war im September 1918 in Cannières gefallen. Der Apotheker Heinrich Johannes Emil Paffrath. Erfinder der Sechserlei-Tropfen, Heilkundler. Selbst aus dem Schützengraben von St. Quentin schickte er getrocknete gepreßte Wurzeln und Kräuter nach Hause und schrieb dazu, wie man dieselben als Herz- und Schmerzmittel einsetze. Nun lebt wohl, Gute Nacht, meine Lieben! – Ein ganzes Fläschchen Sechserleitropfen trank Lore Paffrath nach der Todesnachricht: auf zehn Gramm Äther gelöste Baldrian-, Minze,- Kümmel-, Kalmus-, Kamille- und Benediktenkrauttinktur, was sie aus dem Bewußtsein schlug und Tage später ein Feld für Zorn und Haß in ihr bestellte.

Mutter führte den Haushalt, regelte auf stille, nachgiebige Art den Alltag ihres Jungen. Auf den Küchenfenstersimsen hatte sie aus Blumentöpfen und Pflanzschalen ein Gärtchen erstellt: zwischen Salbei Thymian Lavendel wuchsen Stiefmütterchen Petunien Begonien. In anderen Töpfen sproß Kresse Dill Petersilie. Täglich lockerte Lore mit einer Gabel die Erde, grub zerstoßene Eierschalen als Dünger unter, beschnitt Blumen, erntete Gewürze, zerkleinerte mit einem Wiegemesser alle eßbaren Pflanzen, gab sie unters Rührei oder trocknete oder legte sie in Salz und Öl ein. Für schlimme Zeiten. Für Zeiten, in denen die Sechserleitropfen zur Neige gehen sollten. Durch ihr Gärtchen hindurch spürte Mutter Lore, was im Land aufzog.

»Es wird wieder Krieg geben«, sagte sie zu Heinrich Theodor und wiederholte zu jeder Tageszeit, was sie befürchtete, endlose angstgetriebene Klagen. Dabei zupfte sie Salbei, rebelte Thymian, schnitt Lavendel ab gegen die Motten.

»Du hörst das Gras wachsen«, sagte der Sohn.

Täglich ging er zur Arbeit, im normalsten Schritt der Zeit, mütterliche Butterbrote in der Tasche. Nachmittags kam er nach Hause, aß, schlief und tröstete Mutter: Nichts sei im Gange, und wenn, ihn interessiere das nicht.

Es beruhigte Lore, daß der Sohn so sprach.

 

Heinrich Theodors letzte Entwicklung bei der Firma Gattberg war ein Schaumfeuerlöscher, der mit hydrolisierten Eiweißprodukten, die auf der Basis von Tierhufen und Haaren beruhten, in der Lage war, sowohl kleinere Raumflutungen zu erzeugen, als auch großflächige Mineralölbrände zu löschen. Der Feuerlöscher wurde auf den Namen VENUS getauft. Das Patent aber erwarb bald die berühmte Firma Minimax. Für Heinrich Theodor Paffrath war die Karriere als Feuergerätehersteller damit beeendet. Vom Tag seiner mit Bravour bestandenen Prüfung an wußte er, daß er auf dem Gebiet der Forschung nicht weitergehen wollte, obwohl ihm der Meister ein Chemiestudium empfohlen hatte. Bei der Vorstellung, zur Universität zu gehen, fühlte er sich wieder in schweren Schaum gehüllt. Sein Tatendrang erlahmte auf der Stelle. Heinrich Theodor Paffrath wollte niemals ganz nach vorn.

»Ich gehe zur Feuerwehr«, beschloß er eines Tages.

Für diesen Entschluß umarmte ihn Mutter. Sie wußte: Eine Anstellung bei der Berliner Feuerwehr bedeutete in den meisten Fällen, daß man nicht einberufen wurde. Feuerwehrmänner wurden in der Heimat gebraucht. Oft saßen Mutter und Sohn gemeinsam am Küchentisch und beratschlagten sich über die Zukunft. Am Tag seiner Anstellung bei der Feuerwehr wußte der Sohn zu sagen, er bleibe, wie das in diesem Beruf seit Jahrhunderten sei, unpolitisch. Die Feuerwehr verstehe sich als unpolitische Institution, einzig und allein dem Wohl der Bevölkerung verpflichtet. Mutter und Sohn stießen mit Sekt an: ein Prost auf die Zukunft! und darauf, daß es in haßflackernder Zeit eine Möglichkeit gibt, Mensch zu bleiben. In den ersten Tagen, an denen sich Heinrich Theodor bei der Feuerwehr bewährte, mußte Lore manchmal vor Rührung und Zuversicht weinen.

Das erste Bild des Vaters, dem Heini Paffrath in rauschhaftem Schlaf wieder begegnet, stand viele Jahre lang auf der Wohnzimmerkommode des Elternhauses: Feuerwehrmänner in Mänteln und Stahlhauben posieren mit stolzem Blick in die Kamera zwischen Wasserpfützen und ausgerollten Schläuchen. Im Hintergrund, von Rauch getrübt: Säulen, Fenster, eine Balkonbrüstung. Der dritte Feuerwehrmann von links war mit einem Kreuz über dem Kopf gekennzeichnet. »Das ist dein Vater«, hatte Heinrich Theodor später zu Heini gesagt, wieder, immer wieder »Das ist dein Vater.« Wenn Heini das Bild zu vergessen drohte, nahm es Vater von der Kommode und drängte ihn, die Frage zu beantworten: »Na, wer ist das?« – »Das bist du«– »Ja, das ist dein Vater!« Unter dem Foto stand in Tinten- stiftblau: Nach den Löscharbeiten im Reichstag. Berlin, den 27. Februar 1933.

Kurze Zeit nach jenem großen Brand, da Heinrich Theodor erstmals in vollem Umfang Rauch Hitze Löschwasser ausgesetzt gewesen war, ahnte er, daß es in seinem Beruf doch um mehr als um Pflichterfüllung ging. Am Tag nach dem Brand lobte Adolf Hitler in einem Schreiben den »raschen Einsatz der Berliner Feuerwehr, die umsichtige Leitung und die aufopfernde Tätigkeit der einzelnen Wehrmänner«. Ja, er lobte sogar Heinrich Theodor Paffrath persönlich, und dieser konnte es sich beim nächsten heimischen Küchentischgespräch nicht verkneifen, seine freudige Erregung über dieses Lob auszudrücken. Er sprach plötzlich, wie er es noch nie getan hatte: von höherer Kameradschaft, von bedingungslosem Einsatz, von Vaterland und Ehre. Lore erstarrte. Während sie Eier und Kräuter in der Pfanne rührte, drehte sie das Gas höher, die Flammen schlugen über den Pfannenrand hinaus, setzten Bratfett und Eier in Brand, es stank, schwelte ...

»Feuer!« rief Mutter, aber der Sohn blieb auf seinem Stuhl hocken. »Dreh einfach das Gas ab«, sagte er und verließ die Küche.

Tagelang war Heinrich Theodor Paffrath beleidigt, weil ihm Mutter in seinen neuen Gefühlen nicht folgen wollte. Auch Mutter zeigte sich gekränkt, schimpfte den Sohn feige fahrlässig eitel und weigerte sich, ihm weiterhin Brote zu schmieren. Die Nationalsozialisten nannte sie Knallköppe, beförderte in ihren Schimpfreden den Reichskanzler zum Oberknallkopp und hoffte darauf, der Sohn möge sich auf seine alten Vorstellungen vom Leben besinnen.

Wenn Mutter so außer sich geriet, spürte Heinrich Theodor manchmal, wie sich etwas in ihm zusammenzog. Der alte Widerstandsgeist, der ihn bisher von höherer Laufbahn und wirklichem Ruhm abgehalten hat, regte sich, machte ihn beinahe handlungsunfähig. Dann mußte er schnell die mütterliche Wohnung verlassen und auf die Straße gehen, besser noch: sich rund um die Uhr zum Dienst einteilen lassen, denn zwischen Schlauchwagen Motorspritzen Drehleitern, zwischen seinen Kameraden und dem hinreißenden Gefühl, einen Brand unter Kontrolle zu haben, verließ ihn dieser Geist. Da spürte er wieder, daß er doch mehr wollte, als seine Pflicht erfüllen.

 

Im März 1933 wurden in Paffraths Feuerwache mehrere Beamte entlassen. Wegen politischer Mißliebigkeit. Heinrich Theodor ertappte sich bei einer sonderbaren Freude, die ihn überkam. Ein Gefühl des Triumphes beschlich ihn, wenn er sah, wie die Kameraden verschwanden und er blieb. Er war sich sicher, daß er sich richtig verhielt, und diese Sicherheit wollte er behalten.

Heinrich Theodor trat in...