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Uferwald - Roman

Ulrich Ritzel

 

Verlag btb, 2009

ISBN 9783641012823 , 384 Seiten

Format ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

Schere, Stein, Papier


Die Fensterläden waren vorgelegt, das Fenster stand offen. Ein Radio lief, kaum hörbar, die grünen Lichtpunkte des Monitors flimmerten im Halbdunkel. Sonst brannte kein Licht. Tagsüber drang ein Widerschein der roten Farbe, mit der die Fensterläden gestrichen waren, ins Zimmer. Einer der Fensterflügel war durch ein Buch festgehalten, das zwischen Rahmen und Kante klemmte. Der andere Flügel schwang auf und wieder zurück, wenn ein Windstoß an den Fensterläden rüttelte. Früh am Morgen hörte man, wie der Berufsverkehr auf dem Autobahnzubringer einsetzte, ein gleichmäßiges Rauschen, das erst am späten Abend wieder abebbte.

Oben an der Kante der Fensterlaibung schlossen die Läden nicht ganz, so dass bei Sonnenschein ein schmaler Lichtstreifen ins Zimmer fiel. Er zeigte sich, wenn die Sonne über den Michelsberg hochgestiegen war, und wanderte dann allmählich durch das Zimmer nach links. Am späten Vormittag erreichte er den Schreibtisch und die Fotografie, die dort in einem Holzrahmen aufgestellt war, so dass das Bild einen trapezförmigen Schatten auf das helle Eschenholz der Schreibtischplatte warf. Am frühen Nachmittag berührte der Lichtstreifen das Tastentelefon, auf dem seit einem Samstagnachmittag im Juni das rote Signal des Anrufbeantworters blinkte. Zuletzt fiel das Licht auf ein halbhohes Gebilde aus Kabeln und Drähten, das einen Autoscheinwerfer trug wie ein einzelnes herausgerissenes Auge.

Es war ein heißer Sommer, und im Juli gab es einige heftige Gewitter. Bei einem hatte sich der rechte Fensterflügel aus seiner provisorischen Verankerung gerissen. Das Buch, das man dazu benützt hatte, lag seither aufgeblättert auf dem Boden. Damals war auch die Fotografie umgestürzt, und aus der obersten Ablage waren einzelne Blätter ins Zimmer gewirbelt worden. Im August erschien der Lichtstreifen etwas später und wanderte tiefer ins Zimmer hinein, so dass er auch die Hand erreichte, die auf der Schreibtischplatte lag und bei der die Fingernägel inzwischen deutlich aus dem Nagelbett hervorgetreten waren. Es sah aus, als seien sie gewachsen, aber es ist ein Volksmärchen, dass sie das tun.

Nach dem Anruf im Juni hatte das Telefon noch einige Male geläutet, aber niemand hatte mehr auf den Anrufbeantworter gesprochen. Im Juli hatte es einmal an der Wohnungstür geklingelt, es waren Adventisten auf Hausmission. Einige Tage später hatten zwei Schulmädchen, die auf dem Sperrmüll eine verrostete Spendenbüchse des Roten Kreuzes gefunden hatten und damit die Wohnblocks abklapperten, Sturm geläutet. Danach blieb es lange ruhig, bis Anfang September der Türke Murad Inönü, der im Erdgeschoss eine Änderungsschneiderei betrieb, klingelte. Er wartete eine Weile vor der Wohnungstür, dann stieg er wieder die Treppen hinunter und rief nach seiner zwölfjährigen Tochter Fatima, die ihm auch sonst seine Briefe aufsetzte, wenn die Gewerbeaufsicht etwas von ihm wollte oder die Berufsgenossenschaft.

 

Der Oktober war warm und sonnig. In der zweiten Monatshälfte setzte Föhn ein, im Süden sah man die Alpen als blassblaues, gezacktes Band. In der neuen Naturbau-Siedlung Eschental überlegte Harald Treutlein, ob er später das Rennrad nehmen und eine Zwanzig-Kilometer-Runde übers Hochsträß und durch das Blautal zurück drehen sollte, so viele schöne Tage würde es nicht mehr geben. Einstweilen hatte er noch immer den orange-farbenen Anorak in der Hand, den Johannes auf gar keinen Fall anziehen wollte, während Mona – bereits für das Rad eingepackt – das wohlerzogene Gesicht aufsetzte, mit dem sie den Kraftproben zwischen ihrem Bruder und ihrem Vater zusah.

»Wenn du den Anorak nicht anziehst und krank wirst, können wir heute Nachmittag nicht ins Hölzle.«

Im Hölzle hatte die Elterninitiative einen Abenteuerspielplatz angelegt, aber das Argument war trotzdem schwach, weil man niemandem, auch keinem fünfjährigen Kind, einen Zusammenhang zwischen dem Anorak am Morgen und dem Spielplatz am Nachmittag einreden kann.

»Wir verhandeln hier erst gar nicht«, ertönte von oben die energische und ein wenig scharfe Stimme von Isolde. Dann kamen ihre Füße, die in gut gearbeiteten Lederstiefeletten steckten, die Treppe herab, und gleich darauf die ganze Person, die klein und kompakt war, Aktentasche in der einen, Autoschlüssel in der anderen Hand.

Mit Isoldes Auftreten war der Fall entschieden. Johannes schlüpfte gehorsam in seinen Anorak, Mona zog enttäuscht eine Schnute, und Harald wandte sich zur Garage, um das Fahrrad mit den beiden Kindersitzen auf die bekieste Einfahrt zu schieben.

»Ach Schatz!«, hörte er Isolde in seinem Rücken, »holst du mir meinen Kamelhaarmantel vom Schneider? Du weißt doch, der Türke auf dem Michelsberg ...«

Harald verzog das Gesicht.

»Der Zettel liegt auf der Kommode unterm Garderobenspiegel.«

Im Verwaltungsgebäude der Gemeinnützigen Heimstätten saß Luzie Haltermann am Besprechungstisch ihres Dienstzimmers dem Personalrat Hundsecker gegenüber und betrachtete etwas ratlos den Schreibblock, den sie sonst für ihre Notizen benutzte.

»Bitte«, sagte Hundsecker und beugte sich über den Tisch, »keine Notizen! Ein vertrauliches Gespräch, verstehen Sie? Es geht ja auch nicht um Kritik an Ihrem Führungsstil, in keinster Weise...«

Luzie Haltermann sah über Hundsecker hinweg auf das Bild an der Seitenwand ihres Büros. Es war eine Leihgabe aus dem Depot des Städtischen Museums und zeigte eine Winterlandschaft, kahle Bäume säumten eine Straße, die sich am Horizont verlor. Immer noch redete Hundsecker, Luzie verstand nicht genau, was er eigentlich wollte. Die Wortgirlanden tasteten sich an den Begriff der sozialen Kälte heran, an die Probleme einer alleinerziehenden Mutter, allmählich begriff sie.

»Das ist aber nett«, unterbrach sie den Personalrat, »dass Sie die Probleme alleinerziehender Mütter ansprechen... Denken Sie da vielleicht an die Mütter, in deren Wohnungen die tropfenden Wasserhähne nicht gerichtet werden und die kaputten Jalousien auch nicht, weil alle Aufträge im Schreibtisch einer bestimmten überforderten Arbeitskraft hier im Hause liegen bleiben?«

»Überfordert!«, echote Hundsecker, »das ist ein Wort, das so leichthin gesagt wird, was heißt das schon? Vielleicht stimmt da im Organisationsplan etwas nicht, und wenn es so ist, dann müssen wir darüber reden...«

 

Harald Treutlein hatte Johannes und Mona im Freien Kindergarten abgeliefert und noch kurz mit der blonden Mutter von Monas Freundin Rebecca über die Demonstration gesprochen, mit der die Bürgerinitiative Eschental in den nächsten Tagen den Leuten im Stadtplanungsamt »d’ Henna rein tun« würde, wie er sich ausdrückte. Die Blonde hatte ihn etwas verständnislos angestarrt, zu spät war ihm eingefallen, dass sie aus Norddeutschland stammte, und so hatte er eilends ein schwächliches: »Die Flausen werden wir ihnen schon noch austreiben...« nachgeschoben. Die Blonde war in dieser Woche als Hilfe eingeteilt. Ohne die Mitarbeit der Eltern wären die Beiträge nicht zu halten. Harald zum Beispiel hatte in den Ferien den neuen Fußboden selbst verlegt, er hatte das absolut fachmännisch gemacht, nicht einmal das städtische Bauamt – das ihnen sonst gerne jeden Knüppel in den Weg warf, der aufzutreiben war – hatte etwas zu beanstanden gehabt. Jetzt fuhr er von der Au über den Michelsberg zurück, er kannte den Weg gut, es wunderte ihn nur, wie lässig er die Steigung hochfuhr, er musste nicht einmal aus dem Sattel. Früher hatte er spätestens an der zweiten Querstraße in den Wiegetritt wechseln müssen.

Dann lag auch schon die Steige hinter ihm, er rollte an den Villen vorbei, von denen einige in den letzten Jahren aufwendig renoviert worden waren, schließlich war das hier eine begehrte Wohnlage. Der graubraune Wohnblock mit den abblätternden roten Fensterläden freilich sah nicht so aus, als sei dort in den letzten Jahren auch nur ein Cent investiert worden, und der Apfelbaum streckte seine kahlen Zweige so hilflos über den vertrockneten Rasen wie eh und je. Merkwürdig, ein Haus zu sehen, in dem jemand gelebt hatte, den man früher ganz gut kannte, mit dem man sogar befreundet war.

Er stieg ab, schob das Rad zu dem überdachten Fahrradständer neben den Mülltonnen und schloss es sorgfältig ab, mit zwei Stahlseilen. Ohne es eigentlich zu wollen, warf er einen Blick auf die Schilder der Klingeltafel. Unverändert, mit dem immer gleichen altmodischen Schriftzug, stand der Name »Gossler« an seiner alten Stelle.

Die Änderungsschneiderei Inönü lag im Erdgeschoss. Es roch nach Bügeldampf, an einer Deckenschiene hingen Anzüge, Mäntel, Kleider, an einer Nähmaschine saß ein grauhaariger Mann. Eine gebückte Frau mit Kopftuch brachte Isoldes Mantel, dessen Seitentaschen eingerissen gewesen waren. Offenbar hatte Isolde noch anderes ändern und Säume herausnehmen lassen, die Frau mit Kopftuch zeigte die Änderungen vor und erklärte sie. Harald verstand zwar nichts, nahm aber an, dass alles in Ordnung war, und fand den Preis von 25 Euro »praktisch geschenkt«, wie er später Isolde sagen würde.

Er zahlte, verstaute den Mantel in seinem Rucksack und wandte sich zum Gehen.

Dann blieb er noch einmal stehen. »Ach, sagen Sie – wie geht es denn der Frau Gossler? Wissen Sie, die Dame im vierten Stock...?«

 

Luzie lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück, schloss für einen Moment die Augen und massierte sich die Schläfen. Das Gespräch mit Personalrat Hundsecker war doch noch recht unerquicklich geworden, und ihr Vorschlag, dass sie gemeinsam den Schreibtisch der krank gemeldeten Sachbearbeiterin und alleinerziehenden Mutter Gudrun Fudel in...