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G. F. Unger Sonder-Edition 81 - Kriegerehre

G. F. Unger

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2016

ISBN 9783732527861 , 80 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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1,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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Red Falcon, also Roter Falke, ist ein kleiner Häuptling vom Volk der Cheyenne, und sein Dorf besteht nur aus etwa fünfzig Tipis. Aber es ist ein gesundes Dorf mit guten Zelten. Es gibt schon seit vielen Jahren keine Krankheiten. Die Sterberate ist unterdurchschnittlich. Denn das Dorf bringt auch die Alten durch die harten Winter. Red Falcon und seine Krieger haben stets eine gute Büffeljagd.

Auch die Pferdeherde des Dorfes ist groß. Mehr als fünfhundert Tiere besitzt es. Da man auf jedes Tipi durchschnittlich fünf Bewohner zählen kann, ist Red Falcon das Oberhaupt von etwa zweihundertfünfzig Seelen – angefangen von den Alten bis zu den Neugeborenen. Etwa fünfzig Krieger schützen das Dorf und versorgen es mit allen lebenswichtigen Dingen, von denen der Büffel den Hauptanteil ausmacht.

Red Falcons ganzer Stolz und seine ganze Liebe aber ist seine Frau und die Mutter seiner drei Söhne. Immer wenn er sie in den Nächten in den Armen hält, dankt er Wakan Tanka, dem Großen Geist, für das wunderbare Geschenk und all die Gnade, die ihm dieses Glück ermöglichen.

Roter Falke ist also ein glücklicher Häuptling.

Doch wie so oft überall auf der Erde unter den Menschen, kann solch ein Glück schnell ins Gegenteil umschlagen und das Böse niederstürzen wie ein Raubvogel auf ein argloses Wild.

In Red Falcons Fall heißt dieser Raubvogel Custer, George Armstrong Custer, einst während des Bürgerkrieges Zweisternegeneral, nun aber heruntergestuft auf den Rang eines Lieutenant Colonel.

Man hatte ihn schon einmal suspendiert und unter Arrest gestellt wegen disziplinloser Vergehen und unmenschlicher Behandlung seiner Soldaten. Doch sein großer Beschützer General Sheridan brauchte ihn als Werkzeug zur Vernichtung der Indianer in seinem Militärbereich. Custer ist Sheridans Ziehsohn. Und er ist jung, schneidig, mutig und besessen von einem selbstzerstörerischen Ehrgeiz.

Ja, Custer war und ist General Sheridans williges Werkzeug.

Und so wurde er wieder in den aktiven Dienst übernommen, das Urteil gegen ihn vorzeitig aufgehoben und ihm das Kommando über das erstklassige Siebte Kavallerieregiment übergeben.

Sein gnadenloses Wirken beginnt am 27. November 1868 am Washita River in Oklahoma, als er das Dorf von Black Kettle überfällt – und es setzt sich in den folgenden Monaten fort. Immer wieder überfällt Custer mit seiner Truppe friedliche Indianerdörfer. Und an diesem Tag ist das Dorf von Red Falcon oder Roter Falke an der Reihe.

Es ist im Morgengrauen, als die Hunde des Dorfes anschlagen und wütend zu kläffen beginnen. Roter Falke lauscht nicht lange, dann löst er sich von seiner Squaw, steigt über einen seiner schlafenden Söhne hinweg und gleitet aus dem Zelt.

Einer der noch ganz jungen Krieger, die bei der Pferdeherde wachten, nur eine Viertelmeile vom Dorf entfernt, kommt herangeritten und hält bei seinem Häuptling an.

»Mila Hanska«, flüstert er heiser zu Roter Falke nieder, »viele Mila Hanska. Sie kommen leise und umzingeln unser Dorf im weiten Kreis.«

Roter Falke verharrt einige Sekunden bewegungslos. O ja, er hat von der Vernichtung anderer Dörfer gehört – aber auch von Friedensgesprächen.

Nun wird ihm klar, dass es kaum eine Chance gibt für seine Dorfgemeinschaft.

Wenn die Mila Hanska gekommen sind, um zu töten, dann werden sie alle hier sterben – nicht nur die Krieger, nein, auch die Alten, die Frauen und Mädchen, die Knaben und die Säuglinge.

Was also kann er als Häuptling tun? Mit seinen vier Dutzend Kriegern angreifen?

Ihre Kriegerehre würde das eigentlich von ihnen fordern. Denn sie sind freie Cheyenne in einem von ihren Vorvätern seit grauer Vorzeit ererbten Land. Es war immer ihr Land. Sie bekamen es von Wakan Tanka zugeteilt. Er ließ sie hier leben.

Aber dann kamen die Wasicuns, die Weißen, und ihre Soldaten, die Mila Hanska. Und jetzt wollen sie seinen Stamm vernichten.

Was kann er tun, um sein Dorf zu retten?

Wenn er kämpft, führt er seine Krieger in den Tod. Und wenn er nicht kämpft, lässt er sich mit seiner Dorfgemeinschaft wehrlos abschlachten.

Er verharrt also noch bewegungslos und lauscht. Aber er kann außer dem Gekläffe der Dorfhunde nichts hören.

Doch mit seinem nun wachen Instinkt wittert er die Gefahr.

Ja, da im Morgengrauen lauert das Unheil rings um sein Dorf.

Er wendet sich ab und kehrt in sein Zelt zurück. Dort findet er schnell die Fahne der USA, die damals nach einem der vielen Friedensverträge jedem Dorfhäuptling geschenkt wurden.

Er nimmt eine der Lanzen, die rechts und links neben dem Zelteingang im Boden stecken, und hängt die Fahne daran auf.

Der junge Krieger auf dem Mustang verhält immer noch und beobachtet ihn schweigend.

»Gib mir dein Pferd«, verlangt Roter Falke und sitzt wenig später auf dem Tier.

Mit der Fahne, deren Stock die Lanze ist, reitet er in die Dunkelheit der weichenden Nacht hinein, also nach Westen. Denn er glaubt, dass der Häuptling der Mila Hanska dort zu finden sein wird, wo die Nacht am längsten dauert.

Denn von Osten her kommt nun die erste Helligkeit heraufgezogen.

Er muss nicht weit von seinem Dorf wegreiten.

Dann sieht er die Mila Hanska, die US-Kavallerie. Sie warten auf das Hornsignal zum Angriff. Und so beeilt er sich, reitet schneller und schwenkt die Fahne.

Als er nahe genug ist, erkennt er im Morgengrauen auch den Mann, den die Indianer Gelbhaar nennen. Ja, es ist Custer, den er schon mehrmals bei den Friedensverhandlungen sah.

Er ruft von seinem trabenden Mustang hinüber: »Adlerhäuptling Gelbhaar, ich komme, um über Frieden zu reden!«

Aber als Antwort kommt eine Kugel, die ihn vom Pferd fegt.

Als er am Boden aufschlägt, tönt das Hornsignal zum Angriff.

Aber das hört Roter Falke nicht mehr.

Um ihn herum bricht nun die Hölle los.

Mehr als zweihundert Mila Hanska fallen über das Dorf und dessen Menschen her und beginnen mit einem gnadenlosen und unmenschlichen Gemetzel. Sie schonen kein Leben – selbst das der Säuglinge nicht. Inzwischen hat der junge Krieger, dessen Mustang Roter Falke verlangte, das Dorf einigermaßen geweckt. Und so gibt es einigen Widerstand. Die Krieger kämpfen verzweifelt und versuchen den Frauen, Kindern und Alten Fluchtwege zu schaffen.

Es wiederholt sich auch hier am Beaver Creek, der in den Little Big Horn fließt und ein schönes Tal durcheilt, was zuvor schon so oft und immer wieder geschehen ist.

Denn nur tote Indianer sind gute Indianer.

So sagte es General Sheridan.

Und eines Tages wird sich eine ganze Nation dafür schämen. Doch das wird erst sehr viel später sein.

Vorerst wird Lieutenant Colonel Custer, der einstige Bürgerkriegsgeneral, in den Zeitungen des Ostens als Kriegsheld gegen die roten Bestien gefeiert werden. Roter Falke liegt viele Stunden lang wie tot am Boden, halb zugedeckt mit der Fahne der Union, mit der er um Frieden bitten wollte.

Der Tag vergeht, es wird Nacht.

Und da erwacht er endlich und tastet nach der Kopfwunde, die so böse schmerzt, sodass sein Kopf bei jedem Pulsschlag zu zerspringen droht.

Er liegt noch eine Weile unbeweglich und versucht sich zu erinnern. Dies geschieht nur zäh und langsam. Die ganze Kopfhälfte ist mit verkrustetem Blut bedeckt. Aber mit seinen zitternden Fingern kann er die tiefe Kerbe ertasten, die ihm die Kugel gerissen hatte. Fast hätte die Kugel ihm den Schädel gespalten wie ein Axthieb.

Roter Falke möchte bewegungslos liegen bleiben, denn er weiß, dass er stehend wie ein Betrunkener schwanken und wahrscheinlich gleich wieder umfallen wird.

Doch die Sorge um seine Squaw und seine Söhne treibt ihn schließlich doch hoch.

Ja, er kommt auf die Füße, verharrt benommen und muss wieder in die Hocke. Doch als er sich nach einer Weile erneut aufrichtet, bleibt er aufrecht stehen.

Es wurde eine helle Nacht. Mond und Sterne leuchten. Er weiß, dass er im abgebrannten Dorf nur Tote finden wird, und dennoch hofft er bis zum letzten Moment.

Aber als er seine Squaw und seine Söhne findet, stößt er einen schrecklichen Schrei aus.

Schmerzhaft muss er erkennen, dass seine Squaw vergewaltigt wurde. Man hat ihr die Kleidung vom Leib gerissen. Nackt, tot und misshandelt liegt sie im Mondlicht zu seinen Füßen.

Offensichtlich hat sie sich wie eine Wildkatze gewehrt, gekämpft mit all ihren Kräften. Vergeblich. Und er konnte sie nicht beschützen, ihr nicht beistehen.

Er wollte mit der Fahne der Wasicuns um Frieden und Schonung bitten.

Abermals stößt er jenen schrecklichen Schrei aus. Dann ruft er: »Ihr Mila Hanka habt keine Kriegerehre! Ihr seid der verkommenste und stinkendste Dreck dieser Welt!«

Im Klang seiner Stimme ist bitterste Verachtung.

Er ist ein Mann, ein Krieger und Häuptling, der alles verloren hat, was ein Mann verlieren kann, und der nun ohne jede Hoffnung ist.

»Oh, Gelbhaar-Custer, auf was kannst du stolz sein! Eines Tages werden wir dich vernichten!«

Er ruft noch viele andere Flüche und Verwünschungen.

Dann aber sieht er, dass er nicht mehr allein ist.

Einige Gestalten näherten sich ihm. Er sieht, dass sie ebenfalls verwundet wurden und sich kaum auf den Beinen halten können. Er erkennt Gelbvogel, Bunter Hirsch, Regentöter und Büffelhorn.

Ja, es sind Krieger wie er, die man für tot hielt, weil sie ja reglos und starr in ihrem Blut lagen.

Sie betrachten sich eine Weile wortlos. Dann aber...