dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Mit geistig Behinderten leben und arbeiten - Eine entwicklungspsychologische Einführung

Barbara Senckel

 

Verlag Verlag C.H.Beck, 2016

ISBN 9783406626432 , 413 Seiten

10. Auflage

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

18,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

Erster Teil: Lebensphasen


Erstes Kapitel


Pränatale Entwicklung und Geburt


Lange Zeit vertrat die Wissenschaft die Meinung, daß die vorgeburtliche Entwicklung eines Kindes nur seinen Körper betreffe. Sein seelisches Leben – das Fühlen, Speichern von Erlebnissen und Sammeln von Erfahrungen, die ihrerseits seine Reaktionen beeinflussen, und somit das Lernen – beginne frühestens bei, wenn nicht sogar erst nach der Geburt. Man begründete diese Annahme damit, daß das Nervensystem vor der Geburt noch nicht hinreichend ausgebildet sei, um Fühl- und Lernprozesse zu ermöglichen. Die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte widerlegen diese Ansicht gründlich. Sie zeigen, daß körperliches und seelisches Leben von Anfang an unverbrüchlich zusammengehören. Indem ein Organ sich bildet, beginnt es auch zu arbeiten, wobei seine Leistungen immer zugleich körperliche und seelische Anteile enthalten. Da sich die einzelnen Organe und Funktionssysteme aber kontinuierlich herausbilden, beginnt das menschliche Leben als psychophysische Einheit mit der Zeugung. Im folgenden seien einige Erkenntnisse dargestellt, die das Zusammenspiel von körperlicher und seelischer Entwicklung belegen.

I.
Organanlagen und früheste Funktionen


Während der zweiten Woche nach der Zeugung nistet sich der Keimling in der Gebärmutterschleimhaut ein. Dabei wachsen mütterliches und embryonales Gewebe zusammen. So bildet sich zwischen der Mutter und dem werdenden Kind über den Stoffwechsel die erste, für die körperliche und seelische Entwicklung höchst bedeutsame Beziehung.

Mit drei Wochen beginnt das Herz des Embryos, das durch die Verschmelzung zweier Blutgefäße entstand, zu schlagen und das Blut durch den 1,7 mm großen Embryo zu pumpen. Am Anfang der vierten Lebenswoche schließt sich das Neuralrohr, das zukünftige Rückenmark und Gehirn. In seinem Bereich vermehren sich die Zellen besonders rasch, was darauf hinweist, wie wichtig das Gehirn für das spätere Wachstum werden wird. Am Ende der vierten Woche haben sich schon drei Gehirnbläschen gebildet: das Vorder-, Mittel- und Rautenhirn. In der fünften Woche differenziert sich das Gehirn weiter aus. Gleichzeitig arbeitet es: Es steuert zunächst das Wachstum und die Gestaltbildung des Embryos. Seine höheren Funktionen bauen später auf diesen elementaren Leistungen auf. Ebenfalls in der fünften Woche entwickeln sich viele innere Organe: der Magen, die Leber, die Bauchspeicheldrüse, das Darmrohr und die Lungenanlage. Am Ende der Embryonalzeit sind alle Organe, die inneren wie die äußeren, angelegt. Zum Teil arbeiten sie schon funktionsgerecht (das Herz-Kreislauf-System, die Leber), zum Teil beginnen sie gerade mit der Einübung ihrer Funktionen.

In der fünften Woche werden auch die Anlagen für die Arme und Beine sichtbar. Sie differenzieren sich in der nächsten Woche aus, so daß mit einundvierzig Tagen die knorpeligen Anlagen des Oberarmknochens, der Elle und Speiche sowie der Fingerstrahlen gebildet sind. Die Fußplatten sind ebenfalls vorhanden, die Zehenstrahlen wachsen einige Tage später. In den folgenden beiden Wochen verlängern sich Arme und Beine, die einzelnen Finger ebenso wie die Zehen trennen sich voneinander, die Hände wie die Füße nähern sich einander. Der acht Wochen alte Embryo bewegt Hände und Arme ebenso wie seine Füße und Beine. Bald darauf «versucht» er zu greifen und erübt sich so die Voraussetzung für das «Begreifen», d.h. für die Denk- und Sprachentwicklung. Wenig später kommt es vor, daß er seine Nabelschnur umfaßt oder seinen Mund, das erste Tastorgan, berührt. Mit seinen Beinen und Füßen führt er die ersten Stoßbewegungen durch.

Gleichfalls in der fünften und sechsten Woche entstehen die Anlagen für Augen und Ohren. In der achten Woche nehmen die Ohrmuscheln ihre endgültige Form an, auch die Augen sind vollständig ausgebildet und zunächst offen (in der neunten Woche werden sie sich für die nächsten viereinhalb Monate schließen); das Gesicht des inzwischen 3 cm messenden Embryos zeigt ausgesprochen kindliche Züge.

Sein Gehirn gliedert sich nun in das Stamm-, Klein- und Mittelhirn, den Thalamus und Hypothalamus sowie das Großhirn. Die ersten Synapsen, d.h. die Kontaktstellen an den Enden der Nervenfasern, bilden sich. Über die synaptischen Verbindungen nehmen die Nervenzellen Informationen auf und leiten sie weiter ans Gehirn. Die Informationen erhalten sie von Rezeptoren – das sind Zellen, die Sinneseindrücke empfangen –, die zugleich mit den ersten Synapsen entstehen. Das aber bedeutet: Die Reizaufnahme und -verarbeitung, also die Wahrnehmung, die man früher erst nach der Geburt für möglich gehalten hat, da man erst zu diesem Zeitpunkt die Synapsenbildung ansetzte, beginnt schon am Ende der Embryonalzeit, wenn in der achten Woche die Mundregion empfänglich für Berührungsreize wird, gleichzeitig entstehen die Anlagen für den Geruchs- und Geschmackssinn. Die Wahrnehmung aber, bestehend aus der Reizaufnahme, -verarbeitung und -beantwortung, und das Lernen als Grundlage für das Sammeln von Erfahrungen sind eindeutig psychische Funktionen.

Wie bereits erwähnt, ist der Embryo über den Stoffwechsel innigst mit seiner Mutter – ihrer körperlichen und seelischen Befindlichkeit – verbunden. Nicht nur körperliche Belastungen, wie z.B. Krankheiten – bekannt ist die Gefährdung durch eine Erkrankung an Röteln –, chemische Schadstoffe, Röntgenstrahlen, Alkohol oder eine mangelhafte Ernährung, gefährden den Embryo. Auch ihr Empfinden teilt sich ihm über ihren Herzschlag und die Hormonausschüttungen unmittelbar mit und wirkt sich auf seine Entwicklung aus. Schwere seelische Konflikte und der damit verbundene, langanhaltende Streß der Mutter führen zu einer dauerhaft erhöhten Ausschüttung des Hormons Serotonin. Dieses Hormon, das bei verschiedenen psychischen Prozessen – z.B. bei Depressionen und Aggressionen – eine Rolle spielt, bewirkt eine Verengung der Blutgefäße und damit eine schlechtere Durchblutung des Uterus. Als Folge beeinträchtigt Sauerstoff- und Nahrungsmangel das sich entwickelnde Gehirn, das ohnehin einen erhöhten Sauerstoffbedarf hat. Im Extremfall kann die übermäßige Serotoninproduktion den Uterus zu Kontraktionen anregen und eine Fehlgeburt verursachen. Doch auch andere Hormone, etwa das Adrenalin oder das Nebennierenrindenhormon Hydrocortison, können, wenn sie durch anhaltenden Streß bedingt im Übermaß ausgeschüttet werden, den Embryo schädigen. Manche Föten bekommen sogar Magengeschwüre, wenn ihre seelisch belasteten Mütter ständig zuviel des Gewebshormons Gastrin produzieren, das die Säureabsonderung des Magens anregt. Als gefährdende Streßfaktoren erwiesen sich schwere Beziehungskonflikte, traumatische Erlebnisse, wie der Tod eines nahestehenden Menschen oder die plötzliche Arbeitslosigkeit des Ernährers, aber auch die Ablehnung der Schwangerschaft.

Kinder von Müttern, die ursprünglich abtreiben wollten, es aber doch nicht taten, scheinen in ihrer weiteren Entwicklung durchschnittlich störanfälliger als andere. Doch ist es äußerst problematisch, Störungen einseitig als Konsequenz einer belasteten Schwangerschaft zu deuten. Denn die Ambivalenz, die eine Mutter ihrem Ungeborenen gegenüber verspürt, besteht häufig nach der Geburt fort und beeinträchtigt nun «extrauterin» die Beziehungsgestaltung und damit sein psychisches Gedeihen. Umgekehrt vermögen wohl der klare Wunsch und der Mut einer Mutter, ein Kind allen Widrigkeiten zum Trotz zu gebären, es vor den negativen Folgen ihrer seelischen Not zu schützen.

Es ist erwiesen, daß sich die emotionale Situation der Mutter schon dem Embryo mitteilt und bei ihm – wenngleich nicht exakt erfaßbare – Spuren hinterläßt. Deshalb gilt es, eine schwangere Frau zu entlasten und zu unterstützen, damit sie möglichst ausgeglichen die Schwangerschaft durchleben kann. Hier setzt die Mitverantwortung der sozialen Umwelt an, besonders die des Partners.

II.
Entwicklung von Bewegung und Wahrnehmung


Standen die acht Wochen der Embryonalzeit im Zeichen der Organentwicklung, so entfalten sich in der ersten Hälfte der Fötalzeit vornehmlich die Wahrnehmungs- und Bewegungsfähigkeit. In der neunten bis zwölften Woche beginnt der Fötus (manche Wissenschaftler rechnen diese Zeit noch der embryonalen Periode zu), auf vielfältige Weise Berührungsreize mit Bewegungen zu beantworten. Er krümmt und streckt den Körper, stößt mit den Beinen, schließt die Hand bei Reizung der Handfläche, wendet den Kopf und rollt mit den Augen, wenn die Wangen oder Augenlider berührt werden, und entwickelt sogar verschiedene Gesichtsausdrücke. Zwar entstehen diese Fähigkeiten auf der Grundlage eines genetischen Programms, doch stellen sie keine festgelegten Reflexreaktionen dar, sondern individuelle Antworten des Fötus, die er fortwährend verändert und verbessert. Sie sind mithin als erste Anpassungsleistung aufgrund der einsetzenden Reizverarbeitungsprozesse zu werten.

Damit der...