dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Pfingstrosenrot - Ein Fall für Milena Lukin

Christian Schünemann, Jelena Volic

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607116 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

{7}1


»Was ist los, Miloš, worauf wartest du? Mach deine Jacke zu, du holst dir noch den Tod!«

Erschöpft wischte er sich mit dem Taschentuch die Schweißtropfen von der Stirn und fuhr sich damit über den Nacken. Jedes Mal zog sich sein Herz zusammen, wenn sie so mit ihm sprach, sich zu ihm umdrehte wie zu einem kleinen Kind und ihn mit dieser Miene anschaute. Das ganze Leid lag darin, und gleichzeitig die Absicht, alles, was passiert war, als gottgewollt hinzunehmen.

Er packte die Henkel und riss die schweren Eimer hoch. Sie hatten gemeinsam so viel erlebt, von dem er gehofft hätte, dass sie es nie erleben würden. Sie hatten ihre Heimat verloren, hatten im Flüchtlingsheim gelebt, hatten ihrer Tochter auf der Tasche gelegen. Jetzt waren sie alt, seine Kraft war am Schwinden und seine Geduld am Ende.

»Es ist gut, Miloš, hörst du? Es gibt keinen Grund zur Klage. Es ist alles bestens.«

Sicher. Sie hatten in der Not immer Freunde gehabt. Auch jetzt wieder, unten in der Siedlung, Menschen, die ihnen zur Seite standen und mit diesem und jenem aushalfen. Wenn die Freunde nicht wären, hätten sie ja nicht einmal diese Eimer! Aber je mehr Ljubinka redete und versuchte, ihn zu beschwichtigen, desto wütender wurde er. {8}Er war bereit, nach allem, was gewesen war, wieder bei null anzufangen, einverstanden, aber er war nicht bereit, sich dabei immer wieder neue Steine in den Weg legen zu lassen.

Ljubinka, ganz kurzatmig, schnappte beim Reden nach Luft. Er sah, wie geschwollen ihre Gelenke waren, wusste, dass ihr die Beine weh taten und das Kreuz und dass sie sich über die Schmerzen nie beklagen würde. Er hasste sich dafür, dass er nicht mehr tun konnte, als täglich die verdammte Pappe in längliche Streifen zu schneiden und ihr um die eisernen Henkel zu wickeln. Ljubinkas Hände waren nicht dafür gemacht, zweimal täglich Wasser zu holen und die Eimer dreieinhalb Kilometer durch die Landschaft zu schleppen. Den Hügel mussten sie noch hinauf, durch den Wald, und die Pappe war schon zerrieben!

»Wir müssen dankbar sein.« Ljubinka keuchte. »Hörst du, Miloš? Hörst du mir zu?«

Die Henkel quietschten rhythmisch, Wasser plätscherte über die Ränder und klatschte in Pfützen auf den Weg und ihre kaputten Schuhe. Wenn er das rissige Leder sah, könnte er heulen. Was hatte Ljubinka früher für Schuhwerk getragen: feine Sandaletten aus geflochtenem Leder mit schmalen Riemchen. Er hatte den Klang ihrer Pfennigabsätze immer schon von weitem gehört, diesen entschlossenen, zuversichtlichen Rhythmus, der ihm heute noch im Ohr war. Er erinnerte sich, wie sie zum ersten Mal so vor ihm stand, auf diesen Absätzen, und ihm bis zum Kinn reichte. Er wollte sie von Anfang an beschützen und auf Händen tragen. Gut war ihr gemeinsames Leben gewesen, voller Zufriedenheit, prall und duftend wie die Pfingstrose in der Abendsonne.

Bis es anfing mit diesem seltsamen Ton. Anfangs schwer {9}zu orten, kam er aus verschiedenen Richtungen, war zuerst leise, aber schon hysterisch, wurde immer lauter und zunehmend aggressiv. Wie Stechmücken, die sich nicht vertreiben ließen. Es gab Nächte, da fand er keinen Schlaf.

Er schrieb damals Briefe und Artikel, empörte sich über die Selbstherrlichkeit, mit der Bürgermeister, Direktoren und andere serbische Entscheidungsträger ihre Macht vor allem dazu gebrauchten, den Cousin, den Schwager und den alten Schulfreund mit Posten und Pöstchen zu versorgen. Angehörige der albanischen Mehrheit wurden systematisch aus ihren Ämtern gedrängt. Auch seinen Vorgesetzten und geschätzten Kollegen, den Albaner Ismail Cama, traf es. Er wurde von hier auf jetzt von seinem Posten als Schuldirektor suspendiert und konnte sich glücklich schätzen, einen Vertretungsjob an der Volkshochschule im Süd-Kosovo zu ergattern. Die freie Stelle als Direktor des Gymnasiums in Priština wurde ihm, Miloš Valetić, angeboten. Ob er die Fähigkeiten mitbrachte, ob er die Mindestanforderungen erfüllte, interessierte niemanden. Er war serbisch, und das war die beste Qualifikation, die man sich zu der Zeit wünschen konnte.

Er lehnte den Posten ab und blieb, was er immer gewesen war: Griechisch- und Lateinlehrer. Ljubinka verstand es nicht. Seine hilflosen Aktionen stempelten ihn zum Querulanten, in den Augen gewisser Kreise sogar zum Verräter, ohne dass irgendetwas von dem, was er tat, sagte oder schrieb, eine besondere Wirkung gezeigt hätte. Zu tief waren bereits die Gräben zwischen Serben und Albanern, zu laut das nationalistische Gegröle. In der aufgeheizten Stimmung demonstrierten junge Albaner immer entschlossener {10}gegen die serbische Politik. Sie wurden verhaftet und im Gefängnis grün und blau geprügelt. Mit allen Mitteln bleute die Belgrader Politik ihnen ein: Wir Serben bestimmen, wo es langgeht; ihr Albaner habt zu gehorchen und euch zu fügen. Und wem das nicht passt, wer sich nicht unterordnet, soll verschwinden.

»Hör auf zu grübeln, Miloš. Wir werden keine Not leiden. Reicht das nicht?«

Schweigend trottete er hinter seiner Frau auf der Grasnarbe entlang. Dort drüben, wo schief der Postkasten stand, waren sie mit dem Bus angekommen, eine Odyssee: über Prizren, mit Umsteigen in Ferizaj, das früher Uroševac hieß, damals, als man sich hier als Serbe noch nicht schämen musste. Mit ihren beiden Koffern und dem Kleidersack waren sie aus dem Bus gefallen, hatten wie zwei Idioten in dieser gottverlassenen Gegend gestanden und nicht gewusst, wohin. Wenn die Kinder nicht gekommen wären und ihnen den Weg gezeigt hätten, hätten sie dort drüben in der Scheune übernachtet, genau dort, wo er später das Stroh für die Matratzen holte. Was für eine Schande. Nach fünfzehn Jahre kamen sie zurück in das Land, aus dem sie einmal hatten fliehen müssen, um ihr Leben zu retten – und das Erste, was er tat: Er wurde zum Dieb. Später hatte der Bauer ihm nachträglich die Erlaubnis erteilt und sie sogar mit dem Nötigsten versorgt: ein paar Decken, Töpfe und – auf Rechnung – Eier, Tomaten und Käse.

Ja, sie hatten Glück gehabt. So wie damals, vor fünfzehn Jahren, als sie mit ihren Koffern in Belgrad ankamen und einen Platz im Flüchtlingsheim am Avala-Berg ergatterten. Wahre Glückspilze waren sie! All die Jahre hatten sie in {11}dieser Notunterkunft gehaust, morgens um einen Platz an der Waschrinne gekämpft, mittags um eine Herdplatte, und abends hatten sie sich das Gezeter und Geschrei der Ehe- und Liebespaare in den Zellen rechts und links angehört. Das Schlimmste: In jeder Sekunde hatte er gewusst, dass daheim, in ihrem Haus in Priština, fremde Leute wohnten, dass sie ihre Möbel benutzten, den Schuhschrank, Ljubinkas Frisierkommode, sein Bücherregal, dass sie aus ihren Tassen den Kaffee tranken und aus ihren Gläsern den Selbstgebrannten. Vielleicht hätten sie sich aufgehängt, wenn die Decke im Flüchtlingsheim nicht so niedrig gewesen wäre und wenn es in ihrem Zimmer zwei Fensterkreuze gegeben hätte – eines für ihn, eines für Ljubinka. Denn in einer Sache waren sie sich immer einig: Wenn sie in den Tod gingen – dann nur gemeinsam.

»Zieh nicht so ein Gesicht, Miloš. Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf, und wo Löcher sind, werden wir sie stopfen – es ist ja nicht das erste Mal.«

Im Mondlicht zeichneten sich gegen den fast klaren Himmel die Bäume ab, schwarze Fichten und Buchen. Wenn er erst einmal die Handschuhe hatte und eine Sense, wäre seine erste Tat, das Gras zu schneiden und die Brennnesseln, und wenn er eine Leiter hätte, kämen im Herbst die Obstbäume dran. Und Holz musste er sammeln, jeden Tag so viel, wie es seine Kräfte zuließen. Noch war es lange hin bis zum Winter, aber wenn die kalte Jahreszeit kam, wollte er vorbereitet sein. Ein Leben wie in der Steinzeit. Er dachte an die Worte von Vuk, dem Nachbarn unten in der Siedlung, in der es fließend Wasser gab, Strom, Schuhschränke, Bücherregale, ein gedecktes Dach und alles, was man sonst {12}noch für ein menschenwürdiges Leben brauchte. »Ich spreche zu dir als Freund, und ich warne dich«, hatte Vuk zu ihm gesagt. »Verhalte dich ruhig. Lass die alten Geschichten ruhen und schau nach vorn.«

Alle duckten sich, machten sich klein und hielten das Maul, aber er hatte sich geschworen, eines Tages mit Ljubinka Seite an Seite, ohne Angst, wie früher, vor ihrem eigenen Häuschen zu sitzen und in die vertrauten Sterne zu gucken.

»Vergiss nicht, Miloš, wir haben einen Garten. Wir werden Gemüse anpflanzen, Obst einkochen, Hühner halten, vielleicht eine Kuh. Dann haben wir Eier, machen Schinken, Käse und Marmelade. Du wirst sehen, Miloš, alles wird sich finden.« Er sah, wie sie fragend zu ihm aufschaute, sah die feinen Linien in ihrem Gesicht. War es nicht ein Wunder, dass sie nach fünfzehn Jahren und allem, was passiert war, wieder hier in der Heimat waren?

Er küsste Ljubinka auf die Stirn. »Morgen pflanzen wir eine Pfingstrose«, sagte er und strich ihr über die Wange.

Im Hausflur stellte er müde die Eimer ab, tastete im Dunkeln nach den Streichhölzern, die er griffbereit neben die Kerze auf das Fensterbrett gelegt hatte. Sein Kreuz schmerzte, und seine Finger zitterten von der Anstrengung, er verriss ein Hölzchen ums andere. Ungebremst wehte der Wind durchs Haus, als wären sie auf dem freien Feld. Hatte er die Tür zur Küche nicht zugemacht?

»Liebling?« Keine Antwort. Er fröstelte. Er konnte die Geräusche nicht zuordnen, er fand sich in diesem Haus immer noch nicht zurecht. Seltsam war die Stille.

Er sah den Schatten – zu groß, als dass Ljubinka ihn {13}füllen könnte. Die Schachtel mit den Streichhölzern entglitt seinen Händen und fiel zu...