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Geisterritter - Fesselnde Freundschafts- und Internatsgeschichte für Kinder ab 10 Jahren

Cornelia Funke

 

Verlag Dressler Verlag GmbH, 2016

ISBN 9783862720224 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

1 Abgeschoben


Ich war elf, als meine Mutter mich aufs Internat nach Salisbury schickte. Ja, zugegeben, sie hatte Tränen in den Augen, als sie mich zum Bahnhof brachte. Aber in den Zug setzte sie mich trotzdem.

»Dein Vater hätte sich so darüber gefreut, dass du zu seiner alten Schule gehst!«, sagte sie, während sie sich ein Lächeln auf die Lippen zwang, und der Vollbart klopfte mir so aufmunternd auf die Schulter, dass ich ihn dafür fast auf die Gleise geschubst hätte.

Der Vollbart … meine Schwestern waren ihm gleich auf den Schoß geklettert, als meine Mutter ihn zum ersten Mal mit nach Hause brachte, aber ich erklärte ihm den Krieg, sobald er seinen Arm um Mams Schulter legte. Mein Vater war gestorben, als ich vier war, und natürlich vermisste ich ihn, auch wenn ich mich kaum an ihn erinnerte. Aber das hieß nicht, dass ich einen neuen wollte, schon gar nicht einen unrasierten Zahnarzt. Ich war der Mann im Haus gewesen, der Held meiner Schwestern, der Augapfel meiner Mutter. Aber plötzlich saß sie abends nicht mehr mit mir vor dem Fernseher, sondern ging mit dem Vollbart aus. Unser Hund, der jeden anderen vom Grundstück jagte, legte ihm Quietschespielzeuge vor die Füße, und meine Schwestern malten ihm riesige Herzen. »Aber er ist doch so nett, Jon!« Immer wieder musste ich mir das anhören. Nett. Was war nett an ihm? Er überzeugte meine Mutter, dass alles, was mir schmeckte, schlecht für mich war und dass ich zu viel fernsah.

Ich versuchte alles, um ihn loszuwerden. Ich ließ ein Dutzend Mal den Hausschlüssel verschwinden, den Mam ihm gegeben hatte, goss Cola auf seine Zahnarzt-Zeitschriften (ja, so was gibt’s) und mischte ihm Juckpulver in das Mundwasser, das er ständig anpries. Alles umsonst. Mam setzte nicht ihn, sondern mich in den Zug. Unterschätz niemals deine Feinde!, würde Longspee mir später beibringen. Aber leider war ich ihm damals noch nicht begegnet.

Wahrscheinlich wurde meine Verbannung beschlossen, nachdem ich meine kleine Schwester überredet hatte, ihren Babybrei in seine Schuhe zu löffeln. Vielleicht war auch der Terroristen-Steckbrief schuld, in den ich sein Foto montierte. Was auch immer … ich hätte meine Videospiele darauf verwettet, dass der Vollbart die Idee mit dem Internat hatte – auch wenn meine Mutter es bis heute bestreitet.

Mam bot natürlich an, mich persönlich bei meiner neuen Schule abzuliefern und ein paar Tage in Salisbury zu bleiben – »bis du dich eingewöhnt hast« –, aber ich lehnte ab. Ich war sicher, dass sie nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollte, weil sie vorhatte, mit dem Vollbart nach Spanien zu fliegen, während ich mich mutterseelenallein mit wildfremden Lehrern, schlechtem Internatsessen und neuen Mitschülern herumschlug, von denen die meisten bestimmt stärker und wesentlich klüger als ich sein würden. Ich hatte noch nie mehr als ein Wochenende ohne meine Familie verbracht. Ich schlief nicht gern in anderen Betten, und ich wollte ganz bestimmt nicht in einer Stadt zur Schule gehen, die mehr als tausend Jahre alt und auch noch stolz darauf war. Meine achtjährige Schwester hätte zu gern mit mir getauscht. Seit sie Harry Potter las, wollte sie unbedingt auf ein Internat. Aber ich träumte von Kindern in abscheulichen Schuluniformen, die in finsteren Sälen vor Schüsseln mit wässrigem Porridge saßen und von Lehrern mit meterlangen Stöcken bewacht wurden.

Auf dem Weg zum Bahnhof sprach ich kein einziges Wort. Ich gab meiner Mutter nicht mal einen Abschiedskuss, als sie mir den Koffer in den Zug hob, aus Angst, ich könnte mich vor dem Vollbart in ein kindisch schluchzendes Etwas verwandeln. Die Zugfahrt verbrachte ich damit, Erpresserbriefe aus Zeitungsschnipseln zusammenzukleben, die dem Vollbart einen abscheulichen Tod androhten, falls er meine Mutter nicht in Ruhe ließ. Der alte Mann, der neben mir saß, musterte mich mit zunehmend alarmiertem Gesichtsausdruck, aber schließlich warf ich die Briefe ins Zugklo, weil ich mir sagte, dass Mam sich bestimmt zusammenreimen würde, von wem sie stammten und mir den Vollbart daraufhin nur noch mehr vorziehen würde.

Ich weiß. Ich war in einem bedauernswerten Zustand. Die Fahrt dauerte eine Stunde und neun Minuten. Inzwischen ist das mehr als acht Jahre her und ich erinnere mich trotzdem noch genau. Clapham Junction, Basingstoke, Andover – alle Bahnhöfe sahen gleich aus, und mit jeder Meile kam ich mir verstoßener vor. Nach einer halben Stunde hatte ich alle Schokoriegel gegessen, die Mam mir eingepackt hatte (neun, soweit ich mich erinnere, sie hatte ein ziemlich schlechtes Gewissen), und jedes Mal, wenn ich aus dem Zugfenster blickte und alles vor meinen Augen verschwamm, redete ich mir ein, dass der Grund nicht Tränen, sondern die Regentropfen waren, die die Scheibe hinunterliefen.

Ich sag’s ja. Bedauernswert.

Als ich in Salisbury meinen Koffer aus dem Zug zerrte, fühlte ich mich zugleich abscheulich jung und hundert Jahre älter als bei meiner Abfahrt. Verbannt. Verstoßen. Mutter-, hund- und schwesternlos. Verflucht sollte der Vollbart sein. Als ich mir den Koffer auf den Fuß setzte, schickte ich ein Stoßgebet zur Hölle, dass es in Spanien irgendeine ansteckende Krankheit gab, die Zahnärzte tötete.

Die Wut fühlte sich viel besser an als das Selbstmitleid. Außerdem war sie eine nützliche Rüstung gegen all die fremden Blicke.

»Jon Whitcroft?«

Der Mann, der mir den Koffer aus der Hand nahm und meine schokoladenverschmierten Finger schüttelte, hatte im Gegensatz zum Vollbart nicht die geringste Spur von Bartwuchs. Edward Popplewells rundes Gesicht war so haarlos wie das meine (zu seinem großen Kummer, wie ich bald herausfinden würde). Seiner Frau dagegen sprießte ein dunkles Bärtchen über der Oberlippe. Alma Popplewell hatte auch eine tiefere Stimme als ihr Mann.

»Herzlich willkommen in Salisbury, Jon!«, sagte sie, während sie mir leicht schaudernd ein Taschentuch in die klebrigen Finger drückte. »Du kannst mich Alma nennen und das ist Edward. Wir sind die Hauseltern. Deine Mutter hat dir sicher gesagt, dass wir dich hier erwarten, oder?«

Sie roch so stark nach Lavendelseife, dass mir schlecht wurde, aber vielleicht lag das auch an den Schokoladenriegeln. Hauseltern … auch das noch. Ich wollte mein altes Leben zurück: meinen Hund, meine Mutter, meine Schwestern (wobei ich auf die auch manchmal hätte verzichten können) und meine Freunde an der alten Schule … keinen Vollbart, keinen bartlosen Hausvater und keine lavendelseifige Hausmutter.

Natürlich waren die Popplewells heimwehkranke Ankömmlinge gewohnt. Edward Bartlos pflanzte seine Hand fest auf meine Schulter, sobald wir den Bahnhof verließen, als wollte er jeden Gedanken an einen Fluchtversuch im Keim ersticken. Die Popplewells hielten nichts vom Autofahren (böse Gerüchte behaupteten, dass der Grund Edwards allzu große Liebe zum Whiskey war und der feste Glaube, dass ihm durch den regelmäßigen Genuss eines Tages doch noch ein paar Bartstoppeln sprießen würden). Was auch immer – wir gingen zu Fuß, und Edward begann, mir alles über Salisbury zu erzählen, was sich in dreißig Minuten Fußweg unterbringen lässt. Alma unterbrach ihren Mann nur, wenn er Jahreszahlen erwähnte, weil Edward die leicht durcheinanderbringt. Aber die Mühe hätte sie sich sparen können. Ich hörte eh nicht zu.

Salisbury, gegründet in den feuchten Nebeln dunkler Vorzeit, 50000 Einwohner und 3,2 Millionen Touristen, die die Kathedrale anstarren wollen. Die Stadt empfing mich mit strömendem Regen und über den nassen Dächern reckte die Kathedrale ihren Turm wie einen mahnenden Finger in den Himmel. Herhören, Jon Whitcroft und alle Söhne dieser Welt! Ihr seid Dummköpfe, zu glauben, dass eure Mütter euch mehr lieben als alles andere auf der Welt!

Ich sah weder nach links noch nach rechts, während wir Straßen folgten, die es schon zur Zeit der letzten Pest in England gegeben hatte. Edward Popplewell kaufte mir auf dem Weg ein Eis (»Eis schmeckt auch bei Regen. Hab ich recht, Jon?«). Aber ich brachte in meinem Weltschmerz nicht mal ein Danke über die Lippen und malte mir stattdessen aus, wie sich Schokoladeneiskleckse auf seiner blassgrauen Krawatte ausbreiteten.

Es war Ende September und auf den Straßen drängten sich trotz des Regens die Touristen. Restaurants priesen Fish and Chips an, und das Fenster eines Schokoladenladens sah wirklich verlockend aus, aber die Popplewells steuerten auf das Tor in der alten Stadtmauer zu, das von Läden flankiert wird, die Kathedralen, Ritter und Wasser speiende Dämonen aus versilbertem Plastik verkaufen. Für den Anblick, der einen hinter dem Tor erwartet, kamen all die Fremden, die sich mit quietschbunten Rucksäcken und Lunchpaketen auf der Hauptstraße drängten, aber ich hob nicht mal den Kopf, als sich vor mir der Domhof von Salisbury auftat. Ich hatte weder einen Blick für die Kathedrale, deren Turm dunkel vom Regen war, noch für die alten Häuser, die sie wie eine Schar gut gekleideter Diener umgaben. Ich sah nur den Vollbart auf dem Sofa vor unserem Fernseher sitzen, zu seiner Linken meine Mutter, rechts meine Schwestern, die darum stritten, wer ihm zuerst auf den Schoß klettern durfte, und Larry, der Verräterhund, zu seinen Füßen. Während die Popplewells sich über meinen Kopf hinweg über das Jahr stritten, in dem die Kathedrale erbaut worden war, sah ich mein verwaistes Zimmer vor mir und meinen leeren Stuhl in meiner alten Schule. Nicht, dass ich auf dem je besonders gern gesessen hätte, aber nun rührte mich schon der...