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Die Bleibenden - Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern

Christian Jakob

 

Verlag Ch. Links Verlag, 2016

ISBN 9783862843220 , 180 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

Vorwort:
Von Hoyerswerda zu den »Trains of Hope«


Je öfter eine Geschichte weitererzählt werden soll, desto schöner muss sie sein, vor allem am Ende. Die Geschichte von Deutschland und den Flüchtlingen, die sich im letzten Jahr auf der ganzen Welt erzählt wurde, geht so: Ein Land, dem es besser geht als allen anderen, hat lange nur an sich gedacht. Ans Sparen und an Disziplin. Es ist erfolgreich, aber egoistisch und hart. Doch als das Elend der Welt immer größer wird und alle anderen sich abwenden von den Sterbenden und Leidenden, da entdeckt dieses Land sein Herz. Vielleicht ist auch etwas Eigennutz im Spiel, vor allem aber Verantwortungsgefühl und Vertrauen in die eigene Kraft, die es so groß gemacht hat. Es nimmt die Verfolgten auf, zu Hunderttausenden. Die Menschen in den »Trains of Hope« werden beklatscht und begrüßt, mit Brezeln und Schokolade und schwarz-rot-goldenen Fähnchen. Die Frau, die Deutschland mit nur einem Satz in diesen offenen Ort voll Zuversicht und Großmut verwandelt hat, heißt Angela Merkel. Die Welt liebt sie dafür, von China bis nach Argentinien. Sie soll den Friedensnobelpreis bekommen und wird zur »Frau des Jahres«. Der amerikanische Präsident feiert sie, und die Menschen, auf die der Diktator Assad seine Fassbomben wirft, halten ihr Foto hoch, als Zeichen der Hoffnung.

Diese Geschichte ist ein Märchen.

Kein Märchen ist, dass sich die Art und Weise verändert hat, wie dieses Land mit Migranten und Flüchtlingen umgeht. Es hat sich modernisiert. Diese Transformation hat ökonomische Ursachen, aber sie ist vor allem auch das Werk der Migranten und Flüchtlinge selbst. Sie haben nicht akzeptiert, dass Deutschland kein Einwanderungsland sein wollte und dass es auch keine Flüchtlinge wollte. Sie haben dieses Dogma herausgefordert, den Zugang zu Deutschland freigekämpft und dabei die Gesellschaft verändert. Diese Geschichte handelt von selbstbestimmter Migration und Ungehorsam, von Abschottung und von Auflehnung, von Kontaktaufnahme mit der Mehrheitsgesellschaft und von Konfrontation mit dem Staat. Sie wird in diesem Buch erzählt.

Oktober 2014. Die Katastrophe von Lampedusa – etwa 390 Flüchtlinge waren am 3. Oktober 2013 vor der Insel ertrunken – war genau ein Jahr her. Ein Artikel reichte da nicht, fand die Redaktion. Ein Dossier sollte es sein, eine kleine Sonderausgabe. Als alle Texte da sind, sitze ich mit einer Kollegin bei der taz zusammen, wir sollen das Vorwort schreiben. Die Lage ist unübersichtlich: Es gibt immer mehr Tote im Mittelmeer, in der Region herrscht Chaos, die EU ist deshalb zerstritten. Die Umfragewerte der rechten »Alternative für Deutschland« (AfD) steigen, auch in anderen EU-Staaten sind rechtspopulistische Parteien auf dem Vormarsch. Die Innenminister in Deutschland und der EU machen ständig neue Vorschläge, um Flüchtlinge aufzuhalten, und es gibt Flüchtlingsproteste, überall. Zu viel für 65 Zeilen. Was ist das Wichtigste über diese Zeit?

»Wir müssen schreiben, dass die Stimmung besser ist als in den 1990er Jahren, obwohl fast wieder so viele Flüchtlinge kommen«, sage ich.

Meine Kollegin ist skeptisch. »Damals waren es 400 000, jetzt sind es gerade mal die Hälfte«, sagt sie. »Was glaubst du, was passiert, wenn es 400 000 werden? Dann ist hier die Hölle los.«

Ich war sicher, dass sie recht hatte.

Ein Jahr später kommen eine Million Flüchtlinge.

Unbekannte schießen auf Flüchtling oder ihre Heime, im April in Leipzig1 und Hofheim2, im Juli in Böhlen3, im Oktober in Merseburg4, im November in Berlin5, dazu kommen 126 Brandanschläge6. 2015 zählt das Bundeskriminalamt 1005 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte7, mehr als je zuvor. Es ist ein Wunder, dass niemand stirbt. Pegida (»Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes«) ist die größte fremdenfeindliche Mobilisierung in Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die AfD wird radikaler, völkischer und stärker. Im asylpolitischen Rollback setzt die CSU unter anderem neue Lager für Schnellverfahren durch und schränkt das Recht ein, Angehörige nachzuholen. Sie feiert sich deshalb für das »schärfste Asylrecht aller Zeiten«8 und ist dabei mit ihren sogenannten Reformen noch längst nicht am Ende. Flüchtlinge müssen tagelang völlig unversorgt vor Aufnahmeeinrichtungen warten, Kommunen bringen viele Asylsuchende auch im Winter nur in Zelten unter.

Und trotzdem ist alles anders als in den 1990er Jahren. Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda und Mölln fanden unter entgegengesetzten Vorzeichen statt wie Tröglitz, Heidenau und Freital. Die früheren Pogrome und Brandanschläge waren der radikalste Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Die Bevölkerung und die Politik waren der Meinung, dies durchsetzen zu können. Diesen Konsens gibt es nicht mehr. Der rechte Terror im Jahr 2015 spielt sich in einem Land ab, das Migration und die Migranten letztlich akzeptiert hat. Einen echten Einwanderungsstopp will auch die CDU nicht mehr, das Einwanderungsgesetz, gegen das sie sich so lange gesperrt hat, soll kommen. Die Medien sind auf Promigrationslinie, Flüchtlingssolidarität ist eine breite soziale Bewegung.

1992 töten Neonazis in Deutschland 34 Menschen9, unter anderem bei einem Brandanschlag auf das Haus von zwei türkischen Familien in Mölln. Bundesinnenminister Manfred Kanther und Kanzler Helmut Kohl (beide CDU) nehmen an keiner einzigen Trauerfeier für diese Toten teil. Auf eine Nachfrage erklärt Kohls Sprecher, die Regierung wolle »nicht in einen Beileidstourismus ausfallen«.10 2012 veranstaltet die CDU-Kanzlerin Angela Merkel für die Opfer des »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU) einen Staatsakt. Als am Karsamstag 2015 im sachsen-anhaltinischen Tröglitz ein noch unbewohntes Flüchtlingsheim angezündet wird, steht acht Stunden später der CDU-Minister-präsident Reiner Haseloff mit einem Megafon auf dem Dorfplatz. Im August 2015 greifen Hunderte Nazis zwei Nächte lang ein Flüchtlingsheim in Heidenau an. Danach fährt Merkel in die sächsische Kleinstadt. Sie wird als »Volksverräterin« beschimpft, aber sie besucht das Heim.

1991 titelt der Spiegel: »Ansturm der Armen« und zeigt eine schwarz-rot-goldene, von Menschenmassen überschwemmte Arche. Die Bild-Zeitung macht am 2. April 1992 auf mit der Zeile: »Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?« Drei Tage später stimmen 10,9 Prozent der baden-württembergischen Wähler für die Republikaner. Die Partei hatte den Slogan »Das Boot ist voll« und das Bild einer vollen Arche auf ihre Plakate gedruckt.

2015 hat die Bild an der Pegida-Bewegung kein gutes Haar gelassen, ebenso wenig wie fast alle anderen Medien. Als die Bundesregierung im Sommer 2015 verkündet, dass sie mit 800 000 Asylanträgen im laufenden Jahr rechnet – fast doppelt so viele wie im bisherigen Rekordjahr 1992 –, »entlarvt« die Bild »die sieben größten Lügen über Asylbewerber«. Sie weist darauf hin, dass diese niemandem einen Job wegnehmen, nicht besonders häufig kriminell seien und Deutschland sich »diese Art der Zuwanderung nicht nur finanziell leisten kann, wir brauchen sie sogar!«.11 Einen Tag später heißt die Bild-Titelschlagzeile: »Flüchtlingen helfen! Was ich jetzt tun kann«, ihr Chefredakteur ersetzt sein eigenes Twitter-Profilbild mit einem »Refugees Welcome!«-Logo. Viele wundern sich über den Sinneswandel. Doch nicht die Zeitung hatte sich geändert. Geändert hatte sich die Gesellschaft, die Bild hatte die Stimmung bloß erspürt und gespiegelt, wie es ihr Geschäft ist.

Nach dem Pogrom von Hoyerswerda darf die damals bei Nazis hochbeliebte Rechtsrock-Band »Störkraft« (»Blut und Ehre«) zu dritt bei der wichtigsten Sat1-Polit-Talkshow, »Einspruch«, auftreten und erklären, dass »nur deutsch sein kann, wer deutschstämmig ist«. 2015 wird die Facebook-Seite des Senders Sat1 von Rechten attackiert, nachdem dessen Morgenprogramm einen Song »für alle Kinder, die in unser Land kommen«, aufnehmen lässt.

Im April 2000 schlägt die damalige grüne EU-Abgeordnete Ilka Schröder vor, die Schleuser an der EU-Ostgrenze zu subventionieren. Deren Dienstleistungen seien für Flüchtlinge die einzige Möglichkeit, nach Europa zu kommen, schrieb Schröder. Doch die »Gebühren sind für Flüchtlinge oftmals zu hoch«.12 Der Grünen-Bundesvorstand lässt erklären, die damals 23-Jährige sei ein »Kind, das nichts von praktischer Politik versteht«13, ein Schiedsgericht berät über einen Parteiausschluss, Schröder verlässt die Grünen.

Im August 2015 ruft die Aktionskünstlergruppe »Peng Kollektiv« mit einem Werbeclip Urlauber dazu auf, auf der Rückreise vom Mittelmeer Flüchtlinge im Auto mitzunehmen. »Unterstütze Menschen auf ihrem Weg in eine bessere Zukunft!«14, fordern die Aktivisten – juristisch gesehen ist das Beihilfe zur illegalen Einreise. Spiegel Online postet das Werbevideo zu der Aktion auf seiner Seite; die Zeit lässt einen Strafrechtsprofessor erklären, wie Touristen, die einen Flüchtling mitnehmen, Strafen vermeiden, und selbst der Bayerische Rundfunk erinnert daran, dass die Fluchthelfer an der DDR-Grenze schließlich auch »im...