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Degrowth - Handbuch für eine neue Ära. Das unverzichtbare Nachschlagewerk zur Postwachstumsdebatte

Giacoma d´Alisa, Federico Demaria, Giorgios Kallis

 

Verlag oekom Verlag, 2016

ISBN 9783865819826 , 304 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz frei

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19,99 EUR

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DEGROWTH
Giorgos Kallis, Federico Demaria und Giacomo D’Alisa

Die Drehungen und Wendungen des Begriffs


Der Begriff décroissance (französisch für Degrowth) wurde 1972 erstmals von dem französischen Intellektuellen André Gorz verwendet. Gorz stellte dabei eine Frage, die auch im Zentrum der heutigen Degrowth-Debatte steht: »Ist das Gleichgewicht der Erde, für das Null-Wachstum – oder sogar décroissance – der materiellen Produktion notwendige Bedingung ist, vereinbar mit dem Überleben des kapitalistischen Systems?« (Gorz 1972, S. IV) Andere frankophone Autoren gebrauchten den Begriff dann im Anschluss an den Bericht Die Grenzen des Wachstums (Meadows et al. 1972). Zum Beispiel schrieb der Philosoph André Amar 1973 in einer Ausgabe zu »Les objecteurs du croissance« (»Die Wachstumsgegner«) der Zeitschrift NEF Cahier über La croissance et le problème moral (»Wachstum und moralisches Problem«).1
Ein paar Jahre später setzte sich André Gorz in seinem Buch Ökologie und Politik explizit für Degrowth ein. Er schrieb:
Nur ein Wirtschaftswissenschaftler, Nicholas Georgescu-Roegen, besaß den gesunden Menschenverstand, darauf hinzuweisen, dass selbst bei Null-Wachstum der fortgesetzte Verbrauch knapper Ressourcen unweigerlich zu ihrer völligen Erschöpfung führen wird. Es geht nicht darum, darauf zu verzichten, immer mehr zu konsumieren, sondern darum, immer weniger zu konsumieren – einen anderen Weg, die verfügbaren Reserven für künftige Generationen zu bewahren, gibt es nicht. Das ist ökologischer Realismus … Radikale, die sich weigern, sich mit der Frage der Gleichheit ohne Wachstum zu beschäftigen, beweisen nur, dass für sie der »Sozialismus« nichts anderes ist als die Fortsetzung des Kapitalismus mit anderen Mitteln – eine Verlängerung der Werte, des Lebensstils und der sozialen Denkmuster der Mittelschicht … Heute zeigt sich Realitätsferne nicht mehr darin, für wachsendes Wohlbefinden durch Degrowth2 und den Umsturz des vorherrschenden Lebensstils einzutreten. Realitätsferne besteht in der Vorstellung, dass Wirtschaftswachstum immer noch zum Wohlergehen der Menschen beitragen kann und dass es überhaupt physikalisch möglich ist.
(Gorz 1977, S. 13)
Gorz war ein Vordenker der politischen Ökologie. Für ihn stellte Ökologie einen festen Bestandteil eines radikalen politischen Wandels dar. Nicholas Georgescu-Roegen, der Gorz beeinflusste, war der intellektuelle Pionier der Umweltökologie und der Bioökonomie. 1971 erschien sein Opus magnum The Entropy Law and the Economic Process. 1979 gaben Jacques Grinevald und Ivo Rens, Professoren an der Universität Genf, unter dem Titel Demain la décroissance eine Aufsatzsammlung von Georgescu-Roegen heraus (interessanterweise ohne zu wissen, dass auch Gorz den Begriff verwendete). Grinevald wählte den Titel mit Georgescu-Roegens Einverständnis; décroissance war seine Übersetzung für den Begriff descent aus Georgescu-Roegens Aufsatz über ein »Minimal Bio-economic Programme« (Grinevald 1974).
Mit dem Ende der Ölkrise und dem Aufkommen des Neoliberalismus in den 1980er und 1990er Jahren schwand das Interesse an den Grenzen des Wachstums und an den Degrowth-Überlegungen; allerdings blühte die Debatte in Frankreich in den 1990er Jahren wieder auf. 1993 setzte sich der in Lyon lebende und sich für Umwelt und Gewaltfreiheit einsetzende Michel Bernard mit Grinevald in Verbindung und bat ihn, für seine Zeitschrift Silence einen Artikel über »Georgescu-Roegen: Bioeconomics and Biosphere« zu schreiben. Der Beitrag erwähnte explizit den Degrowth-Begriff. Später, im Juli 2001, brachten Bruno Clémentin und Vincent Cheynet, beide ebenfalls in Lyon ansässig, den Begriff sustainable degrowth in Umlauf (Vincent Cheynet war ehemaliger Werbetexter und hatte gemeinsam mit Randall Ghent die Zeitschrift Casseurs du pub gegründet).
Clémentin und Cheynet ließen den Begriff als geistiges Eigentum schützen, um den Zeitpunkt seiner Erfindung festzuhalten, und warnten scherzhaft vor künftigem Missbrauch und Konventionalisierung. Nach Erscheinen einer Sonderausgabe von Silence zum Gedenken an Georgescu-Roegen im Jahr 2002 nahm in Frankreich die öffentliche Degrowth-Debatte Fahrt auf. Das von Clémentin und Cheynet herausgegebene Heft verkaufte sich 5000-mal und erlebte zwei weitere Auflagen. Wahrscheinlich war dies der Zeitpunkt, an dem die heutige Degrowth-Bewegung ihren Anfang nahm.
In der ersten Phase der Degrowth-Debatte in den 1970er Jahren lag der Schwerpunkt auf den begrenzten Ressourcen. In der zweiten Phase – die im Jahr 2001 begann – war die treibende Kraft die Kritik an der vorherrschenden Idee der »nachhaltigen Entwicklung«. Für den Wirtschaftsanthropologen Serge Latouche war nachhaltige Entwicklung ein Oxymoron, wie er in seinem Aufsatz »A bas le développement durable! Vive la décroissance conviviale!« darlegte. Im Jahr 2002 fand in den Räumlichkeiten der UNESCO in Paris die Konferenz »Défaire le développement, refaire le monde« mit 800 Teilnehmern statt. Die Konferenz besiegelte ein Bündnis zwischen Umweltaktivisten aus Lyon wie Bernard, Clémentin und Cheynet und der akademischen Akteure des Post-Development, denen Latouche angehörte (siehe Entwicklung). 2002 wurde in Lyon das Institut d’études économiques et sociales pour la décroissance soutenable (Institut zur Wirtschafts- und Sozialforschung für nachhaltiges Degrowth) gegründet. Ein Jahr später organisierte das Institut in der Stadt das erste internationale Kolloquium zu dem Thema sustainable degrowth mit über 300 Teilnehmern aus Frankreich, der Schweiz und Italien. Zu den Sprechern gehörten Serge Latouche, Mauro Bonaiuti, Paul Ariès, Jacques Grinevald, François Schneider und Pierre Rabhi, die später zu den profiliertesten Autoren zum Thema Degrowth werden sollten. Im selben Jahr gaben Bernard, Clémentin und Cheynet das Buch Objectif décroissance heraus, das 8000-mal verkauft und ins Italienische, Spanische und Katalanische übersetzt wurde.
Die Décroissance-Bewegung erlebte in Lyon Anfang der 2000er Jahre in der Folge von Demonstrationen für autofreie Städte, gemeinsame Mahlzeiten auf der Straße, Lebensmittelkooperativen und Kampagnen gegen Werbung eine Blütezeit. Von Frankreich ausgehend, wurde décroissance ein Slogan, den grüne Aktivisten und Globalisierungsgegner 2004 in Italien (als decrescita) und 2006 in Katalonien und Spanien (als decreixement und decrecimiento) aufgriffen. Ein größeres Publikum erreichte die Degrowth-Bewegung in Frankreich 2004 durch Konferenzen, direkte Aktionen und Initiativen wie die Zeitschrift La Décroissance, le journal de la joie de vivre, die heute eine Monatsauflage von 30.000 Exemplaren hat. Im selben Jahr trat der Wissenschaftler und Aktivist François Schneider mit einem Esel eine einjährige Wanderschaft durch Frankreich an, um den Degrowth-Gedanken zu verbreiten, und erregte damit bei den Medien große Aufmerksamkeit. 2007 gründete Schneider gemeinsam mit Denis Bayon in Frankreich das akademische Kollektiv Research & Degrowth, später gesellte sich Fabrice Flipo hinzu und setzte sich für mehrere internationale Konferenzen ein. Die erste wurde 2008 in Paris abgehalten, die zweite 2010 in Barcelona.
Der englische Begriff degrowth wurde auf der Pariser Konferenz zum ersten Mal »offiziell« gebraucht, die damit zur Geburtsstunde einer internationalen Forschungsgemeinde wurde. Als sich die Gruppe des Institute of Environmental Science and Technology der Autonomen Universität Barcelona (ICTA) der Bewegung anschloss und die zweite Konferenz ausrichtete, wuchs die Degrowth-Forschungsgemeinschaft über ihre Hochburgen in Frankreich und Italien hinaus. Das ICTA stellte Verbindungen zu Wissenschaftlern aus dem Bereich der ökologischen Ökonomie und zu lateinamerikanischen Netzwerken für Politische Ökologie und Umweltgerechtigkeit her. Nach dem Erfolg der Konferenzen in Paris und Barcelona fanden weitere Konferenzen in Montreal (2011), Venedig (2012) und Leipzig (2014) statt, Budapest wird 2016 folgen. Das Thema Degrowth wurde von Gruppen und Aktivitäten in Flandern, der Schweiz, Finnland, Polen, Griechenland, Deutschland, Portugal, Norwegen, Dänemark, Tschechien, Mexiko, Brasilien, Puerto Rico, Kanada, Bulgarien, Rumänien und anderswo aufgegriffen.
Seit 2008 hat der englische Begriff in wissenschaftliche Zeitschriften Einzug gehalten; zu dem Thema erschienen über 100 Artikel und mindestens sieben Sonderausgaben in wissenschaftlichen Zeitschriften (Kallis et al. 2010; Cattaneo et al. 2012; Saed 2012; Kallis et al. 2012; Sekulova et al. 2013; Whitehead 2013; Kosoy 2013). Der Degrowth-Gedanke ist Gegenstand der Lehre an Universitäten in aller Welt geworden, darunter auch an prestigeträchtigen Einrichtungen wie SciencePo in Paris. Der Begriff wurde von französischen und italienischen Politikern gebraucht und missbraucht; viele namhafte Zeitungen, darunter Le Monde, Le Monde Diplomatique, El País, The Guardian, The Wall Street Journal und die Financial Times brachten Artikel zu dem Thema.
Aber was bedeutet Degrowth eigentlich genau?

Degrowth heute


Degrowth bedeutet zuallererst Wachstumskritik. Degrowth-Anhänger fordern die Dekolonialisierung der öffentlichen Debatte von der Sprache des Ökonomismus und die Abschaffung des Wirtschaftswachstums als gesellschaftliches Ziel. Darüber hinaus zeigt Degrowth auch eine erwünschte Richtung auf, eine Richtung, in der...