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Evidenzbasierte Pädagogik - Sonderpädagogische Einwände

Bernd Ahrbeck, Stephan Ellinger, Oliver Hechler, Katja Koch, Gerhard Schad

 

Verlag Kohlhammer Verlag, 2016

ISBN 9783170307803 , 143 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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Evidenzbasierte Pädagogik – Von der verlorenen Kunst des Erziehens


Oliver Hechler


»Aber der Mensch, der Gegenstand der psychosozialen Wissenschaft, hält nicht still genug, um sich in sowohl meßbaren wie relevanten Kategorien aufteilen zu lassen«

Erik H. Erikson

1           Einleitung


 

Im Grunde können ja gegen eine Evidenzbasierung pädagogischen Handelns keine vernünftigen Gründe angeführt werden, denn evidenzbasierte Pädagogik bedeutet nichts anderes als eine auf empirische Belege gestützte Erziehungskunst. Und der Forderung nach empirischen Belegen pädagogischen Handelns, und das ist völlig unstrittig, entspricht sowohl die pädagogische Disziplin als auch die pädagogische Profession. Wozu also die ganze Aufregung? Der Teufel sitzt mal wieder im Detail – und diesmal im Verständnis dessen, was unter Empirie verstanden wird. Denn es ist nicht der Begriff der Evidenzbasierung, der an sich Probleme aufwirft und zur kontroversen Diskussion führt, sondern das damit verbundene Verständnis von Empirie. Empirisch belegt sind nur diejenigen pädagogischen Interventionen, und das hat Katja Koch in ihrem Beitrag eindrucksvoll ausgeführt, die letztendlich den Anforderungen eines randomisierten kontrollierten Studiendesigns entsprechen (Koch 2016). Ähnlich dem Bereich der Medizin gilt dementsprechend auch in der Pädagogik die sogenannte randomized controlled trial (RCT) als der »Goldstandard« der empirischen Studienplanung und der Forschungsdesigns. Zwar lassen sich in der Forschung unterschiedliche Evidenzklassen ausmachen, so können auch Meinungen und Überzeugungen von angesehenen Experten als empirische Belege für pädagogisches Handeln angesehen werden, doch bleibt die experimentelle Studie das Maß, an dem sich die Forschungsbemühungen messen lassen müssen. Pädagogische Forschung, will sie denn im aktuellen Wissenschaftsdiskurs Geltung beanspruchen und auch mit entsprechenden Forschungsmitteln ausgestattet werden, muss sich mit diesem Verständnis von Empirie auseinandersetzen. Es ist aber nicht nur die pädagogische Forschung, die durch die Anforderungen eines so verstandenen empirischen Forschungsdesigns stark beeinflusst wird, sondern eben auch das pädagogische Handeln – denn Ziel und Zweck dieser Forschungsbemühungen ist ja die Konstitution einer evidenzbasierten pädagogischen Praxis. Zeigt sich also auf der einen Seite die pädagogische Forschungslandschaft mittlerweile als überwiegend von quasi-experimentellen Studien mit Kontrollgruppendesign dominiert, so finden deren Ergebnisse auf der anderen Seite dementsprechend ihren Ausdruck in der Konzeptualisierung standardisierter Trainings- und Förderprogramme. Die Argumentationsstruktur und deren Umsetzung in Forschungsdesign und pädagogische Praxis sind in sich auch logisch und konsequent – allerdings treffen sie nicht den Kern dessen, was Pädagogik als Wissenschaft und Profession ihrem Wesen nach bestimmt. Etwas landläufig formuliert, ließe sich sagen: »Da werden Äpfel mit Birnen verglichen«. Insofern könnte man auch, wenn die Lage der Pädagogik hierfür nicht allzu prekär wäre, ziemlich gelassen feststellen, dass die ganze Diskussion um Evidenzbasierung sicherlich interessant sei, aber mit Pädagogik nichts zu tun habe und uns dementsprechend auch nicht weiter beschäftigen müsse. Diese Einstellung versteht sich leider nicht von selbst und trägt, vehement vertreten, eher zum Schwinden der eigenen disziplinären und professionellen Reputation bei – wahrscheinlich auch zu Recht, denn es gilt, diese Aussage zu begründen. Ansonsten wäre die Aussage nichts weiter als eine Behauptung. Diese notwendige Begründung soll in drei Schritten vorgenommen werden. Zum ersten wird es darum gehen, die konstitutions- und erkenntnistheoretischen Bedingungen der »Sache der Pädagogik« (Fuhr/Schultheis 1999) zu explizieren. Es geht also um die zentrale Frage, in welchen konstitutionstheoretischen und erkenntnistheoretischen Zusammenhängen unsere disziplinären und professionellen Bemühungen ganz grundsätzlich verortet sind, so dass damit auch die Bedingungen des Erkennens und die Möglichkeiten der pädagogischen Praxis eindeutig abgesteckt werden können. Hieran schließt sich zum zweiten die Frage, ob die berufsmäßige Erziehung als professionelle Praxis gelten kann und ob die »Erzieher von Beruf« (Prange/Strobel-Eisele 2006, 44) als Vertreter einer Profession angesehen werden können. Sind diese grundlegenden Bestimmungsversuche gelungen, geht es zum dritten um die Darstellung dessen, was unter Pädagogik vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten zu verstehen ist, oder besser: was darunter begründet verstanden werden kann. Und so kann dann abschließend, der Blick ist ja nun geschärft und der Bedeutungshorizont eingegrenzt, nochmal genauer das Phänomen »Evidenzbasierung« betrachtet werden, um zu einem Urteil über dessen Bedeutung für die pädagogische Theorie und Praxis zu gelangen1.

2           Konstitutions- und erkenntnistheoretische Bedingungen


 

Wie versteht der Mensch seine Umgebung und wie verhält er sich zu ihr? Wie nimmt er die Dinge der Welt wahr und geht mit diesen um? Und welche Konsequenzen ergeben sich aus den Eigenschaften der Phänomene unserer uns umgebenden Welt? Diese Fragen gilt es grundsätzlich zu klären, um Aussagen über das Wesen der Gegenstände zu erlangen, mit denen wir uns als Wissenschaftler und professionelle Praktiker beschäftigen. Und man muss kein großer Wissenschafts- und Erkenntnistheoretiker sein, um diese Klärung vornehmen zu können.

Die Welt und ihre Teilwelten


Die Beschäftigung mit diesen Fragen geht, wie sollte es auch anders sein, zurück auf die griechische Antike. Seit Platons Überlegungen zur Dialektik ist klar: »Scheint dir nun nicht, sprach ich, die Dialektik recht wie der Sims über allen anderen Dingen zu liegen und über diese keine andere Kenntnis mehr mit Recht aufgesetzt werden zu können, sondern mit den Kenntnissen es hier ein Ende zu haben?« (Platon 2006, 442). Es scheint also Situationen und Sachverhalte in der Welt zu geben, über die nicht eindeutig Kenntnis zu erlangen ist, die eben mehrdeutig sind und sich, zur damaligen Zeit, fast überwiegend im Bereich der menschlichen Lebenspraxis finden lassen. Aristoteles (2006) greift dann diese in der Dialektik gefasste und empirisch begründete Denkfigur auf und unterscheidet die Welt, in der wir leben, in zwei Teilwelten. So spricht er zum einen von der Welt, die sich auf die durch die Menschen hervorgebrachte Veränderlichkeit bezieht, und zum anderen von der Welt des Notwendigen, des Unveränderlichen und des Immerwährenden. Diese Welt, also die des Unveränderlichen und Immerwährenden, ist charakterisiert durch naturwüchsig ablaufende Prozesse, durch eindeutige Bestimmbarkeit, durch stete Formen (Bollnow 1959), durch die Dominanz des Entweder-/oder-Prinzips und durch die Möglichkeit, dass theoretische Operationen der Praxis vorauslaufen können. Theorie verfährt in dieser Welt subsumtionslogisch: Kenne ich die grundlegende Gesetzmäßigkeit eines Phänomens, lassen sich die gleichen Phänomene dieser Gesetzmäßigkeit unterordnen. So müssen die Gesetze der Thermodynamik und der Statik zum Beispiel nicht bei jedem neuen Flugzeugbau und bei jeder neuen Brückenkonstruktion jeweils neu expliziert und auf den Einzelfall übertragen werden. In jüngster Vergangenheit hat Oevermann (2000) diese Welt als »nicht-sinnstrukturierte Welt« (439) bezeichnet und stellt sie damit der »sinnstrukturierten Welt« (439), also der Welt, die auf die von Menschen hervorgebrachte Veränderlichkeit abhebt, gegenüber. Diese Welt hingegen zeichnet sich durch Unbestimmbarkeit und unstete Formen (Bollnow 1959) aus, sie folgt dem Sowohl-als-auch-Prinzip. In dieser Welt ist »die Praxis viel älter als die Theorie« (Schleiermacher 1983, 11). Theorie verfährt hier im Modus der Rekonstruktionslogik. Diese Welt unterstellt menschlichem Erleben und Handeln grundlegende Sinnhaftigkeit. Der Mensch hat die Wahl und ist gezwungen zu wählen (Schmid 1998), und jeder Wahl laufen sinnstrukturierte und rekonstruierbare Entscheidungsprozesse voraus, die sich eben nicht durch standardisierte Muster zu Wege bringen lassen. Der Einfachheit halber und der Aktualität geschuldet, soll im Folgenden nur noch von sinnstrukturierter Welt und nicht-sinnstrukturierter Welt gesprochen werden, wobei ja klar geworden sein sollte, dass auch naturwüchsig ablaufende Prozesse im Großen und Ganzen besehen natürlich »sinnhaft« sind. So...