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Emilienne oder die Suche nach der perfekten Frau - Roman

Anne Berest

 

Verlag Knaus, 2016

ISBN 9783641194376 , 240 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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15,99 EUR


 

Marie


Meine erste Fotoausstellung hatte ich 1999 im Foyer der Unterpräfektur der Gemeinde Antony. Ich nahm an einem Kunst-Workshop für Jugendliche des Départements Hauts-de-Seine teil, den die Region Île-de-France veranstaltete.

Bei der Vernissage baten meine Eltern Patrick Devedjian, der damals Bürgermeister des Ortes war, ihr neues Theaterensemble zu unterstützen. Dann absolvierten sie im Eiltempo die Ausstellung und sagten, bevor sie sich aufs Büfett stürzten: »Du solltest lieber hübsche Mädchen fotografieren, statt Thunfische abzulichten.«

»Stimmt, fürs Auge wäre das sicher angenehmer.«

Man muss dazusagen, dass es tatsächlich Thunfisch war, im wahrsten Sinn des Wortes. Der Jugend-Workshop wurde vom Großmarkt Rungis finanziert, und wir mussten ein Projekt auf die Beine stellen, das in Beziehung zum Weltmarkt stand. Ich hatte mich dafür entschieden, das Leben eines Thunfischs nachzuzeichnen – vom Fang über die Marktstände und die verschiedenen Stadien der Veränderung des Fisches bis auf den Teller eines Restaurants. Ich hatte mich für dieses Thema begeistert – anders als meine Eltern, die meiner zukünftigen Karriere sicherlich beruhigter entgegengesehen hätten, wenn ich, anstatt tote Fische zu fotografieren, im Stil von David Hamilton Bilder von meinen Klassenkameradinnen geschossen hätte, wie sie im Höschen im Wohnzimmer Craven A rauchen. Jedenfalls bringt es im Leben nicht viel, Künstler als Eltern zu haben, denn was Väter und Mütter für ihre Kinder wollen und immer wollen werden, ist etwas Solides. Dieser Satz, den sie angesichts meiner Arbeiten geäußert hatten, hat mich offenbar geprägt, denn fünfzehn Jahre später befand ich mich in der Spur, entschlossen, Porträts perfekter Frauen zu fotografieren.

Auf der Autobahn L’Océane, deren Name mich irgendwie an Lachssalat erinnert, flog die Landschaft rasend vorbei. Marie Wagner war bereit, mich noch am selben Tag bei sich in Machecoul im Département Loire-Atlantique zu empfangen. Eine Heilige im Raum Paris wäre mir natürlich lieber gewesen, aber ich hatte keine Zeit mehr, wählerisch zu sein – wenn ich den Wettbewerb gewinnen und mein Leben ändern wollte, zählte nun jeder Tag.

Marie Wagner ist Mitte vierzig, eine winzige Frau, die aussieht wie ein Häuflein kleiner Zweige, das zufälligerweise ein menschliches Wesen ergibt. Sie wohnt in einem hübschen Haus in einem hübschen Garten; wirklich alles ist hübsch bei ihr, vor allem ihre Bäckchen, wenn sie lächelt, richtige Apfelbäckchen.

Wir setzten uns erst einmal zu einer Tasse Tee ins Wohnzimmer, dann führte sie mir ihre Teppiche vor, die sie seit dem Tod ihres Mannes selbst webte: kleine braune, haarige Teppiche; sie erinnerten mich an Gewölle, wie wir es im Biologieunterricht untersucht hatten. Raubvögel würgen solche Speiballen aus zusammenklebenden Haaren aus, die auch Knochen von kleinen Schlangen, von jungen Vögeln oder Nagetieren enthalten. Ich schlug Marie vor, uns vor den Aufnahmen ein Weilchen zu unterhalten und uns kennenzulernen. Ich stellte mich vor, erzählte ihr von meiner Arbeit und erklärte ihr, wie wichtig dieser Wettbewerb für mich war.

»Das Festival von Arles ist weltbekannt. Händler, Galeristen, Agenten von überallher kommen dort zusammen, um Fotografen zu treffen und neue Talente zu entdecken.«

»Nehmen Sie Zucker?«, fragte sie tonlos, offensichtlich war sie mit ihren Gedanken woanders.

Als ich ein paar Stunden zuvor mit ihr telefoniert hatte, war mir ihre Stimme schon merkwürdig vorgekommen, aufgesetzt ruhig. Das Gefühl, dass an ihr etwas wunderlich war, ließ mich nicht los – als würde ich sie bei irgendetwas stören, aber sie wollte es sich nicht anmerken lassen. Nun wirkte sie aufgeregt, besorgt auf mich. Dennoch hatte sie dem Treffen sofort zugestimmt, sie selbst hatte darauf bestanden, dass ich noch am selben Tag käme. Nach der ersten Tasse Tee wurde sie ein wenig ruhiger.

Marie begann sofort, mir ihr Leben zu erzählen, eine von großen Unglücksfällen gebeutelte Existenz, ganz besonders vom Tod ihres Mannes, der sie als junge Witwe zurückgelassen hatte. In all ihrer Untröstlichkeit beschäftigten sie zum Glück ihre Patienten sehr intensiv; sie sprach mit Leidenschaft und sehr einfühlsam von ihnen. Anfangs war ich gefesselt von den Geschichten dieser zarten Frau, die lebte wie ein Landarzt aus dem vorigen Jahrhundert. Doch ich muss zugeben, dass ich bald anfing, mich schrecklich zu langweilen. Während sie erzählte, dachte ich immer wieder an etwas anderes – als ob man ein Buch liest und plötzlich merkt, dass man seit zwei, drei Seiten gedanklich abgeschweift ist. Wenn Marie nicht von den Blumen in ihrem Garten, ihren Patienten oder von ihrem Sohn André sprach, schwadronierte sie über ihren verstorbenen Mann, Pastor Wagner, über die Kindheit ihres Mannes, die Eltern ihres Mannes, die Berufung ihres Mannes, den Mut ihres Mannes, die Predigten ihres Mannes, die Krankheit ihres Mannes. Nach einer Stunde über Leben und Tod von Pastor Wagner langweilte sie mich so sehr, dass ich Gähnanfälle unterdrücken musste, was mir mit einer gewissen List mehr oder weniger gelang. Ich wollte schnellstmöglich weg, ins Auto steigen, nach Paris zurückfahren, in einer Hotelbar Gin Tonic trinken, Austern essen, Sex haben.

Das Wohnzimmer, in dem wir saßen, erschien mir zu dunkel, um Marie zu fotografieren, es kam mir nachgerade düster vor. Doch durchs Fenster sah ich einen großen Garten, der mir gefiel, dort konnte ich mir dieses kleine Frauchen gut vorstellen, inmitten der alten Bäume, wie eine Eva vor dem Sündenfall. Damit ein Foto interessant wird, muss das Modell einem etwas geben, was es nicht zu geben bereit ist – sei es, dass es sich nicht bewusst ist, was man von ihm will, sei es, dass es sich weigert. Es kommt zu einem Kräftemessen, zu einer Spannung, aus der ein Bild entsteht, auf dem der Blick hängen bleibt. Im Moment jedoch wollte Marie nichts geben, sie schien sogar vergessen zu haben, dass wir uns an die Arbeit machen sollten. Mitten in einer monotonen Schilderung der Bestattung von Pastor Wagner beschloss ich einzugreifen.

»Wie wäre es, wenn wir zunächst einmal in den Garten gingen?«

Marie lehnte verlegen ab. Ganz ruhig versuchte ich, sie zu überreden – vielleicht hatte sie nicht richtig verstanden, worauf ich mit meinem Vorschlag hinauswollte. Schließlich war ich gekommen, um ein Ticket nach Arles zu gewinnen, nicht, um über Pastor Wagner selig zu plaudern und Sandkuchen zu essen. Mit meinem Projekt, rief ich ihr in Erinnerung, will ich das Bild hinterfragen, das Frauen sich von sich selbst machen. Am Ende jeder Sitzung nennt mir die Frau, die ich fotografiert habe, den Namen einer anderen Frau, die sie bewundert und die ich danach fotografieren werde. »Die perfekte Frau« besteht also aus einem ganzen Reigen von Frauen, die sicherlich zufällig gewählt sind, aber dennoch ein bestimmtes modernes Ideal abbilden.

»Julie hat Sie erwähnt, sie bewundert Sie ungeheuerlich«, fügte ich hinzu, um ihr zu schmeicheln. »Ich glaube, Sie sind ein Vorbild für sie.«

Aber Marie sah mich konsterniert an. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen und verrieten ihre Bedrängnis.

»Mein Mann war es wert, fotografiert zu werden. Nicht ich.«

»Entschuldigen Sie«, sagte ich, ohne meine Empörung weiter zu verbergen, »Sie werden sicherlich verstehen, dass ich den ganzen Weg nicht umsonst gemacht habe.«

»Es tut mir wirklich leid«, sagte sie unbeugsam.

»Dabei hat Julie mir gesagt, Sie seien eine Heilige.«

»Wie bitte?«, sagte Marie und drückte das Kinn an den Hals.

Sie machte große Augen, dann wurde sie ganz rot, als wäre ihr alles Blut in den Kopf gestiegen. Ein stiller Blitz durchfuhr den kleinen Körper, und plötzlich war die Luft statisch aufgeladen.

»Ich bin keine Heilige«, sagte sie mit äußerst würdevoller Miene.

»Das habe ich nur so gesagt – wie man eben redet.«

»Ich bin der Teufel«, sagte sie mit fester Stimme.

Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Noch viel weniger damit zu sehen, wie das Weiß ihrer Augen sich mit roten Äderchen durchzog.

»Ich bin der Teufel!«, wiederholte sie lauter.

»O-oh, ich hab’s begriffen«, sagte ich. »Kein Grund zu schreien. Ich glaube, Sie sind vor allem müde, ich gehe dann mal.«

»Nein! Bleiben Sie! Ich muss Ihnen etwas zeigen.«

Der Blick der Frau hatte sich verändert, ihre Pupillen waren geweitet wie unter dem Einfluss einer Droge oder eines bösen Geistes.

»Kommen Sie mit. Jemand muss es erfahren.«

Als die kleine Frau das sagte, nahm sie mich an der Hand. Mich schauderte bei der Berührung ihrer kalten Finger, und ich dachte daran, dass ich meinem Sohn nicht gesagt hatte, wo ich war, und dass mich diese Frau für Jahre einsperren könnte, mich zwingen könnte, die Kleider ihres Mannes anzuziehen, ohne dass jemand mich da herausholen würde …

Marie führte mich ins Obergeschoss. Als ich die Stufen hinaufstieg, wagte ich nicht, auf die tapezierten Wände zu blicken, an denen im Lauf der Jahre nachgedunkelte Fotografien in ovalen Rahmen vor sich hindarbten, Porträts beängstigender Vorfahren. Dann brachte die Witwe mich durch den Flur zu einer Tür. Ganz sachte und lautlos drehte sie den Knauf. Das Zimmer war in Dunkelheit gehüllt, denn trotz der vorgerückten Stunde waren die Vorhänge nicht aufgezogen. Dennoch konnte ich im Dämmerlicht ein Ehebett unter einem Kreuz ausmachen, in dem, mitten über dem Spalt, ein großer weißhäutiger Körper lag. Dort schlief ein junger Mann, nackt, umgeben von altmodischen...