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DNA - Thriller

Yrsa Sigurdardóttir

 

Verlag btb, 2016

ISBN 9783641172350 , 512 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

PROLOG

Wie die Orgelpfeifen saßen sie auf der Bank. Die Kleine ganz am Rand, daneben ihre beiden älteren Brüder. Ein, drei und vier Jahre alt. Die dünnen Beinchen hingen über die harte Kante. Im Gegensatz zu anderen Kindern zappelten sie nicht herum oder schlenkerten mit den Beinen. Die neuen Schühchen schwebten regungslos über dem glänzenden Linoleumboden. Kein Funke Neugier regte sich in den Gesichtern der Kinder, keine Langeweile oder Ungeduld. Sie starrten auf eine nackte weiße Wand, als liefe dort ein Tom-und-Jerry-Film. Von weitem sah es wie ein Foto aus: drei Kinder auf einer Bank.

Schon seit einer halben Stunde saßen sie so. Bald würde man sie aufstehen lassen, doch keiner der Erwachsenen, die sie aus der Ferne beobachteten, schien es damit eilig zu haben. Das Leben dieser Kinder war komplett auf den Kopf gestellt worden, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was ihnen noch bevorstand. Sobald sie diesen Ort verließen, würde nichts mehr so sein wie zuvor. Diesmal würde die Veränderung zwar eine zum Guten hin sein, doch sie würde auch Verluste mit sich bringen. Allein die Zeit konnte zeigen, was schwerer wog. Und genau da lag das Problem. Niemand konnte vorhersagen, wie es laufen würde. Daher das Zögern bei denjenigen, die jetzt eine Entscheidung treffen mussten.

»Leider. Wir haben keine Alternative. Auch die Fachleute raten uns zu dieser Lösung. Die Kinder brauchen ein Zuhause, es nützt nichts, das noch länger aufzuschieben. Je älter sie werden, desto unwahrscheinlicher wird es, dass jemand sie adoptieren will. Seht euch doch an, wie unterschiedlich die Suche nach Familien für die Geschwister gelaufen ist. Die Leute wissen: Je jünger die Kinder sind, desto leichter gewöhnen sie sich an ein neues Leben. In zwei Jahren ist die Kleine so alt wie der jüngere der beiden Brüder, und dann sind wir mit ihr wieder in genau derselben Situation.« Der Mann holte tief Luft und wedelte mit einem Stapel Papier – Berichte und Diagnosen der Spezialisten, die sich die Kinder angesehen hatten. Die anderen nickten mit ernsten Gesichtern, nur die jüngste Anwesende nicht, die am beharrlichsten gegen die angepriesene Lösung argumentiert hatte. Sie hatte noch wenig Erfahrung in Jugendschutzangelegenheiten und trug noch den Optimismus in sich, den die vielen Enttäuschungen in den anderen längst erstickt hatten.

»Sollten wir nicht doch noch warten? Wer weiß, vielleicht finden wir ja noch ein Ehepaar, das sich zutraut, alle drei zu nehmen.« Sie warf einen Blick in Richtung der Kinder, die noch immer wie versteinert auf der Bank saßen. Die junge Frau hatte die Arme fest verschränkt, als wollte sie verhindern, dass Hoffnung und Zuversicht aus ihr heraussickerten. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie die Geschwister ausgesehen hatten, als der Fall bei ihnen gelandet war: schrecklich abgemagert, das dunkle Haar zerzaust und ungewaschen, die Kleider schmutzig. Hellblaue Augen in verschmierten Gesichtern, auf denen Tränen Spuren hinterlassen hatten. Die junge Frau wandte sich wieder der Gruppe zu. »Das muss doch einfach klappen.«

»Damit bin ich durch«, erwiderte der Mann mit den Berichten gereizt. Er blickte zum dritten Mal während dieser Sitzung auf seine Armbanduhr – er hatte seinen Kindern einen Kinobesuch versprochen. »Um die Kleine reißen sich alle, aber die Jungs will kaum einer haben. Wir können dankbar sein, dass wir diese Lösung gefunden haben. Die Suche nach irgendeinem imaginären Ehepaar ist zwecklos. Jeder, der Kinder adoptieren will, meldet sich bei uns, und diese Liste haben wir zigmal durchforstet. Unsere Lösung ist in dieser Situation einfach das Vernünftigste.«

Dem konnte niemand widersprechen, und alle nickten ernst, bis auf die junge Frau. Sie wirkte richtig verzweifelt. »Aber sie sind sich so nah. Ich habe Sorge, dass die Trennung sie auf Lebenszeit beschädigen wird.«

Diesmal wurden die Berichte so energisch durch die Luft geschwenkt, dass die Haare aller Anwesenden aufflogen. »Zwei Psychologen sagen, dass es für die beiden Jüngsten sogar gut wäre, getrennt zu werden. Der Junge begluckt das Mädchen auf eine Art, die nicht mehr normal ist. Er versucht, ihr die Liebe und Fürsorge zu geben, die er selbst nicht bekommen hat, dabei ist er selbst noch ein Kleinkind. Sie entkommt kaum seinem Eifer, und er ist völlig gestresst vor lauter Sorge um seine Schwester. Er ist drei Jahre alt.«

Der Mann machte eine Pause und holte Luft. »Und das steht nicht etwa irgendwo zwischen den Zeilen – das ist überdeutlich. Beiden würde es guttun, ohne den anderen zu sein. Seine Beziehung zu ihr ist nicht gesund. Den beiden Brüdern hat die ganze Sache ja deutlich mehr zugesetzt als der Kleinen. Sie sind schließlich älter.«

Aus dem Augenwinkel nahmen einige der Kollegen Bewegung auf der Bank wahr. Der jüngere Bruder war näher an seine Schwester herangerückt. Jetzt legte er den Arm um ihre Schultern und drückte sie fest an sich. Als hätte er durch die Glasscheibe gehört, was sie gesagt hatten.

Jetzt schaltete sich eine weitere Kollegin ein: »Ich denke, wir sollten uns nicht anmaßen, diese Einschätzung anzuzweifeln. Das sind Fachleute, und die Situation dieser Kinder liegt jenseits dessen, was wir uns vorstellen können. Lasst es uns jetzt schnell durchziehen. Es wäre albern, weiter nach irgendeiner Zauberlösung zu suchen. Die gibt es einfach nicht.« Die Frau sprach schnell und klopfte ungeduldig mit einem Fuß den Takt zu ihren Worten – auch sie hatte es eilig.

»Aber was passiert später, wenn sie älter geworden sind und dahinterkommen, dass die Trennung möglicherweise auch hätte verhindert werden können? Die meisten von uns wissen zur Genüge, was passiert, wenn Menschen einen Hass aufs System kriegen. Dann dreht sich das Leben nur noch darum«, warf der älteste Anwesende ein. Er sehnte sich nach dem Ruhestand und hoffte, dass dies der letzte schwierige Fall war, mit dem er sich herumschlagen musste. Sein Haar war schon vor langer Zeit weiß geworden, er nahm Blutdrucksenker, und sein Gesicht sah aus, als hätte die Zeit Runen hineingeritzt.

»Die Adoptiveltern werden die Herkunft der Kinder geheim halten. Das ist für alle das Beste, vor allem für die beiden jüngsten. Das sollte also kein Problem sein. Die Kinder werden sich bestimmt ohnehin nicht an ihre ersten Lebensjahre erinnern. Das Mädchen ist schließlich erst gut ein Jahr alt, nur bei dem großen Jungen könnte es anders sein. Aber auch das ist nicht gesagt. Seine Erinnerungen werden verzerrt sein und langsam verblassen. Was wisst ihr noch aus der Zeit, als ihr vier Jahre alt wart?«

»Eine ganze Menge.« Die junge Frau war offenbar die Einzige, die über so frühe Kindheitserinnerungen verfügte. Die anderen konnten sich höchstens an traumähnliche, verschwommene Bruchstücke erinnern. Doch auch sie wusste nichts mehr aus der Zeit, als sie ein Jahr alt gewesen war. Das kleine Mädchen, um das sich alle rissen, würde am besten davonkommen – nicht nur, weil sie ein so süßes Persönchen war. Den Jungen hatten die letzten Jahre arg zugesetzt, das merkte man deutlich: beim jüngeren an seiner ungebremsten Liebe und Fürsorge, beim älteren an seiner Gleichgültigkeit gegenüber allem und jedem. Der knappe Bericht der Polizisten, die nach einem Anruf der Mutter zum Ort des Geschehens gefahren waren, hatte alle schockiert, und niemand verspürte Lust, sich die Schilderungen noch einmal ins Gedächtnis zu rufen.

In der Tat, es wäre ein Segen, wenn die Zeit diese Erinnerungen aus den Köpfen der Geschwister löschen könnte.

Doch leider bezweifelte die junge Frau, dass es so kommen würde. Das Trauma der Kinder musste gigantisch sein. »Ich erinnere mich vor allem an schlimme Dinge, die passiert sind, zum Beispiel als ich mir mit drei Jahren den Finger in der Tür einer Bäckerei eingeklemmt habe, oder als ich als Fünfjährige mitansehen musste, wie meine Freundin angefahren wurde. Und das ist nichts im Vergleich zu dem, was diese Geschwister mitgemacht haben. Ich befürchte, dass sich die Jungs daran erinnern werden. Vielleicht sogar ihre Schwester, auch wenn das eher unwahrscheinlich ist.«

»Wie sieht es eigentlich mit den Verwandtschaftsverhältnissen aus, sind die inzwischen geklärt?«, fragte die ungeduldige Kollegin eilig, um zu verhindern, dass die Anwesenden sich in Kindheitserinnerungen verloren. »Wahrscheinlich sind sie noch nicht einmal richtige Geschwister, daher stellt sich sowieso die Frage, wie viel Aufwand wir betreiben sollten, um sie zusammenzuhalten.«

Mit seiner Antwort schaffte es der Mann mit den Berichten endlich auch einmal, bei seiner jungen, besorgten Kollegin zu punkten: »Ich denke, es ist nebensächlich, ob sie denselben Vater haben oder nicht. Sie empfinden sich als Geschwister. Aber solange der Vater der beiden Jüngeren offiziell unbekannt ist, wissen wir es einfach nicht. Der Arzt, der sich die Kinder angesehen hat, hält es für wahrscheinlich, dass die beiden jüngeren Vollgeschwister sind und der älteste ihr Halbbruder ist. Das erklärt auch der Mann, der als der Vater des ältesten Jungen gilt. Er hat ausgesagt, nach der Geburt seines Sohnes mit der Mutter nicht mehr sexuell verkehrt zu haben – nachdem sie gezwungen war, zu ihrem Vater zurückzukehren.« Er schwieg und verzog das Gesicht. Schluckte, dann sprach er weiter. »Man müsste Gentests machen, um die Verwandtschaft der Kinder eindeutig zu klären, aber dafür haben wir weder Zeit noch Geld. Und das Ergebnis will ohnehin niemand wissen. Es ist besser, davon auszugehen, dass sie normale Väter haben. Nicht nur der Älteste, sondern alle drei.«

Stille. Sie alle kannten die Geschichte der Kinder und ihrer Mutter. Die Geschichte des Großvaters und des schrecklichen...