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Novemberschokolade - Roman

Ulrike Sosnitza

 

Verlag Heyne, 2016

ISBN 9783641188603 , 368 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

3

Die Kündigung versteckte ich sorgfältig im Schreibtisch und half dann Herlind im Laden. Heute war Freitag, nach dem Feiertag hatten viele frei, und es war bereits morgens viel los. Das Klingeln der Tür, leises Murmeln und Tütenrascheln wollten gar nicht enden. So sollte jeder Tag sein, so voller neugieriger Kunden, die ausgefallene Kompositionen probierten und begeistert kauften.

In jeder noch so kleinen Verschnaufpause erzählte Herlind von der Kreuzfahrt, die sie ihrem Mann zur Silberhochzeit schenken wollte. Offensichtlich hatte sie den Feiertag zum Lesen von Kreuzfahrtkatalogen genutzt. Sie konnte sich nur noch nicht entscheiden, welches Schiff sie buchen sollte. Es ging um Oberdecks, Abendkleider und Candle-Light-Dinners in Venedig, und ich fühlte mich grässlich. Auch wenn sie die ganze Zeit damit angab, einen Großteil des Geldes bereits gespart zu haben. Ich würde es sein, die diesen Traum zerstörte. Es musste doch einen Weg geben, die Katastrophe abzuwenden, zu verhindern, dass das Traumschiff sinken würde.

Paula, die im Café Kiess arbeitete und früher mit mir auf der Berufsschule gewesen war, kam kurz vorbei und fragte, ob ich wie jeden Freitagabend mit in die Sauna käme. Aber ich sagte ab, da Stella am Abend noch auf ein Glas Rotwein vorbeischauen wollte.

Mattis war immer noch bei seinem Vater. Der Kleine war jetzt fünf – und unglaublich süß. Stella und ich hatten letztens bei ihr zu Hause Trüffel gemacht. Wie er gestrahlt hatte, als er probieren durfte. Über und über voller Schokolade war er gewesen, nachdem er beim Füllen und Abdeckeln geholfen hatte. Wahrscheinlich verstand er noch gar nicht, was es bedeutete, wenn Stella ihren Job verlor. Aber die Probleme, die es bereitete, würde er zu spüren bekommen.

Ich musste es ihnen erzählen, ich musste sie enttäuschen, noch vor Weihnachten ihre Träume und Hoffnungen kaputt machen, und ich hatte Angst davor.

Der Hibiskus am Wohnzimmerfenster ließ die Blätter hängen. Vorsichtig goss ich ihn und entfernte die vertrockneten Blüten. Hibiskus liebte ich, seitdem ich gelesen hatte, dass er mit dem Kakaobaum verwandt ist.

Als ich aus dem Fenster schaute, fiel mein Blick auf einen Mann vor dem Fiurelli. Ohne seinen Duft erkannte ich ihn erst auf den zweiten Blick. In der langen grünen Schürze? Hatte Paolo eine neue Aushilfe eingestellt? Seine Frau Maria lag im Krankenhaus. Ein Bandscheibenvorfall, hatte Herlind erzählt.

Er wischte die Tische ab, hielt inne. Plötzlich sah er direkt zu mir hoch, und ich wich einen Schritt zurück. Konnte er mich auf die Entfernung erkennen? Drei Reihen parkende Autos und zwei Fußwege trennten uns.

Es war egal, wie viele Meter es waren. Denn er wandte den Blick nicht ab. Die Tür des Restaurants öffnete sich, Gäste kamen heraus, aber er beachtete sie nicht weiter.

Da drängte sich die Obermüller an ihm vorbei und raffte ihren Lodenmantel vor ihrem dicken Bauch zusammen. Paolo Fiurelli folgte ihr heftig gestikulierend. Beide überquerten den kleinen Platz und blieben vor meinem Laden stehen. Ich beugte mich vor und konnte erkennen, dass Paolo einen Zollstock auseinanderklappte.

Was sollte das denn? Wollte er das Haus abmessen?

Auf einmal klingelte es. Neugierig rannte ich nach unten. Sie grüßten mich übertrieben höflich, aber nur Paolo lächelte mich an.

»Herr Fiurelli wird die Chocolaterie mieten«, sagte Frau Obermüller.

»Nein«, flüsterte ich verzweifelt. Mit allem hatte ich gerechnet, aber nicht damit.

»Ich erweitere«, sagte er und wippte auf den Absätzen, »und eröffne hier einen Pizzalieferdienst mit Straßenverkauf!«

»Dürfen wir eintreten?«, fragte die Obermüller.

»Nein!«

Sie drängelte sich an mir vorbei in den kleinen Flur. Paolo folgte ihr. Frau Obermüller deutete auf die Hintertür zur Chocolaterie, und ich schloss laut seufzend auf.

»Hier das Büro, laut Plan acht Quadratmeter«, erläuterte Frau Obermüller mit verkniffenem Gesicht.

»Das ist ja nicht größer als eine Abstellkammer.«

Genau das war mein Büro früher auch gewesen.

Ein Geräusch ließ mich erstarren. Stella? Ich hörte Schritte, die die Treppe hochkamen, dann war es still. Hoffentlich nur Frau Strobel, die Mieterin, die zwischen Frau Obermüller und mir wohnte.

»Daneben die Küche, sechzehn Quadratmeter, angrenzend ein Raum mit ebenfalls sechzehn und ein weiterer mit vierundzwanzig Quadratmetern.«

Sie riss die Tür zur Küche auf, Paolo blickte sich prüfend um.

»Die Küche ist zu klein«, sagte er. An allem hatte er etwas auszusetzen. Die Wand zwischen Küche und Werkstatt wollte er rausbrechen, das Lager neu fliesen und die Klimaanlage auf keinen Fall ablösen.

»So etwas Überflüssiges!« Er schnaubte.

»Schokolade reagiert sensibel auf starke Temperaturschwankungen. Im Gegensatz zum Käse auf der Pizza«, erwiderte ich.

»Und wann wird alles frei?«, fragte er und maß die Schaufenster aus.

»Gar nicht«, rief ich.

»So schnell wie möglich«, entgegnete Frau Obermüller.

Nachdem er noch einige Fotos gemacht hatte, gingen sie endlich. Wütend rannte ich nach oben. Nie hätte ich gedacht, dass die Obermüller es so eilig haben würde. Irgendetwas musste mir einfallen, um diese Katastrophe noch abwenden zu können. Ich öffnete eine Flasche Wein, trank einen Schluck. Aber er beruhigte mich nicht. Und zum Nachdenken kam ich auch nicht mehr, denn jetzt klingelte Stella.

Sie zog die Augenbrauen hoch, als sie mein halb volles Weinglas sah, sagte aber nichts.

»Die Obermüller steht unten mit dem Fiurelli. Wusste gar nicht, dass die sich so gut verstehen!«

Ich grunzte und trank noch einen Schluck. Jetzt müsste ich es ihr sagen, jetzt.

Sie legte die Füße aufs Sofa, hob ihr Glas und strahlte mich an.

»Was ich dir schon die ganze Zeit erzählen wollte – ich habe im Kindergarten einen tollen Mann kennengelernt. Alleinerziehend und mit einem süßen Lächeln!«

»Super!«, antwortete ich erleichtert. Wenn Stella frisch verliebt war, traf sie die baldige Kündigung vielleicht nicht mehr ganz so hart.

»Sein Sohn lebt bei ihm, die Mutter arbeitet in China, wenn ich es richtig verstanden habe. Er hat einen guten Job bei … ach, dieser großen Online-Druckerei.«

Sogar frisch verliebt in einen Mann mit Geld.

»Und, wie sieht er aus?«

»Total attraktiv. Leicht gewellte blonde Haare, strahlend blaue Augen … Und sportlich ist er, fährt immer mit dem Rad zum Kindergarten. Und er hat wahnsinnig viel Geduld mit seinem Sohn. Ach!« Sie seufzte.

Klang wie das Gegenteil von ihrem Ex.

»Das letzte Mal hat er sein Rad geschoben und ist mit mir in die Sanderau gelaufen.« Sie seufzte schon wieder. »Irgendetwas an dem Rad war kaputt.«

Und ich dachte schon, er hätte wegen ihr geschoben.

»Apropos kaputt«, sagte sie, »hast du gemerkt, die Schmelzmaschine rattert so komisch. Ist da noch Garantie drauf?«

O nein, das nicht auch noch.

»Ich habe gar nichts gehört. Das bildest du dir bestimmt ein.«

»Nein. Du solltest einen Techniker kommen lassen.«

Noch mehr Kosten! Ob ich überhaupt jemanden fand, der sie reparieren konnte? Die Maschine stammte von einem Spezialisten aus Italien.

»Ach, das wird schon. Komm, erzähl mir noch mehr von deinem Traumtyp. Wie heißt er denn?«

»Lea! Nicht dass die Maschine mitten in der Weihnachtsproduktion ihren Geist aufgibt.«

Ich seufzte. »Ich schaue sie mir morgen an, okay? Und am Montag läuft sie wie am Schnürchen, versprochen. Weihnachten kann kommen!«

Ich hob mein Glas und trank es aus.

»Kriegen wir dieses Jahr eigentlich wieder Weihnachtsgeld?«

Letztes Jahr hatte ich den beiden dreihundert Euro extra gegeben.

»Weiß ich noch nicht«, blieb ich möglichst vage. »Das hängt vom Verkauf ab.«

Wie feige ich doch war. Egal was passieren würde, eines war sicher: Weihnachtsgeld würde es keines geben.

»Mattis wünscht sich ein Piratenschiff von Playmobil. Die sind ganz schön teuer.«

Ich stand auf, ging im Zimmer umher, blieb vorm Fenster stehen. Mattis das Piratenschiff zu verweigern tat weh. Es musste etwas geschehen. Aber was?

Mittlerweile war Stella bei einer Geschichte übers Laternenbasteln angekommen. Sie redete, ich nickte und war mit meinen Gedanken ganz woanders.

»… er will jetzt in dem Karton leben. Da habe ich extra mein Schlafzimmer geopfert, damit er ein großes Kinderzimmer hat, und er will im Karton leben! Angeblich braucht er keine Wohnung.«

Auf einmal hörte ich auf, darüber zu grübeln, wo ich mir Geld leihen konnte.

»Karton?«

»Den von unserem Nachbarn! Hörst du mir überhaupt zu? Wo dessen gigantischer Fernseher drin war. Der Karton ist so groß, dass Mattis drin stehen und auch liegen kann. Jetzt hat er sein Bettzeug reingeräumt und aus dem Karton vom neuen DVD-Spieler einen Schrank gebaut. Eigentlich braucht er gar kein Playmobil zu Weihnachten. Eine Fuhre Kartons vom Elektronikmarkt reicht völlig aus.« Sie kicherte.

Aber das war es nicht, was mich aufhorchen ließ. Sondern der Gedanke, wie wenig Platz man zum Leben eigentlich braucht.

Sie zog ihr Telefon aus der Hosentasche und zeigte mir ein Foto, das sie von Mattis in seinem Karton gemacht hatte. Als Beleuchtung hatte er sich eine Weihnachtslichterkette...