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Die Schattenschwester - Roman

Lucinda Riley

 

Verlag Goldmann, 2016

ISBN 9783641183752 , 736 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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11,99 EUR


 

I

Nie werde ich vergessen, wo ich war und was ich tat, als ich hörte, dass mein Vater gestorben war.

Den Stift über dem Blatt Papier, schaute ich in die Julisonne – oder, besser gesagt, auf den schmalen Strahl, dem es gelungen war, sich zwischen unserem Haus und der roten Ziegelmauer wenige Meter vor mir hindurchzuschmuggeln, auf die alle Fenster unserer winzigen Wohnung gingen und derentwegen es bei uns trotz des schönen Wetters dunkel war. Ganz anders als im Zuhause meiner Kindheit, in »Atlantis« am Genfer See.

Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich genau an derselben Stelle wie jetzt gesessen war, als CeCe unser trostloses kleines Wohnzimmer betreten und mir mitgeteilt hatte, dass Pa Salt tot war.

Ich legte den Stift weg und ging an die Spüle, um mir ein Glas Wasser zu holen und in der schwülen Hitze meinen Durst zu stillen. Meine jüngere Schwester Tiggy hatte mir kurz nach Pas Tod in »Atlantis« geraten, mich schriftlich dem Schmerz der Erinnerung zu stellen.

»Liebste Star«, hatte sie gesagt, als einige von uns Schwestern zur Ablenkung auf dem See gesegelt waren, »ich weiß, dass es dir schwerfällt, über deine Gefühle zu sprechen. Doch der Schmerz muss irgendwie heraus. Warum schreibst du deine Gedanken nicht einfach auf?«

Während des Heimflugs von »Atlantis« vor zwei Wochen hatte ich über Tiggys Worte nachgedacht, und nun machte ich mich endlich an die Arbeit.

Als ich die Ziegelmauer betrachtete, ging mir auf, wie sehr sie mein gegenwärtiges Leben symbolisierte, und das ließ mich immerhin schmunzeln. Dieses Schmunzeln führte mich zurück zu dem schartigen Holztisch, den unser Vermieter vermutlich gratis von einem Trödelladen bekommen hatte. Ich setzte mich und nahm den eleganten Füller, ein Geschenk von Pa Salt zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag, wieder in die Hand.

»Ich fange nicht mit Pas Tod an«, sagte ich laut, »sondern mit unserer Ankunft hier in London …«

Als ich die Haustür mit einem lauten Knall ins Schloss fallen hörte, wusste ich, dass meine Schwester CeCe da war. CeCe war immer laut. Sie schien nicht einmal eine Tasse Kaffee leise und ohne etwas zu verschütten abstellen zu können. Sie begriff auch nicht, dass man in der Wohnung gedämpfter sprechen konnte als draußen. Ma hatte sich in unserer Kindheit so große Sorgen darüber gemacht, dass sie sogar einmal ihr Gehör überprüfen ließ. Natürlich war es völlig in Ordnung. Genau wie meins, wie ein Logopäde ein Jahr später feststellte, zu dem Ma mich meiner Schweigsamkeit wegen gebracht hatte.

»Sie kennt die Wörter, spricht sie aber nicht aus«, hatte der Therapeut erklärt. »Wenn sie dazu bereit ist, wird sie schon reden.«

Zu Hause hatte Ma mir dann, um sich besser mit mir verständigen zu können, die Grundlagen der französischen Gebärdensprache beigebracht.

»Wenn du etwas möchtest oder brauchst«, hatte sie gesagt, »kannst du es mir so mitteilen. Auch deine Gefühle kannst du damit ausdrücken. Ich zum Beispiel empfinde dir gegenüber das.« Sie hatte auf sich selbst gezeigt, die Handflächen über der Brust gekreuzt und auf mich gedeutet. »Ich … liebe … dich.«

CeCe hatte die Zeichensprache ebenfalls schnell gelernt, und gemeinsam hatten wir das, was als eine Möglichkeit der Kommunikation mit Ma begann, verändert und erweitert zu unserer ganz eigenen Sprache – eine Mischung aus Zeichen und ausgedachten Wörtern –, die wir in Gegenwart anderer verwendeten. Wir genossen die verblüfften Blicke unserer Schwestern, wenn ich beim Frühstück in Zeichensprache eine spöttische Bemerkung machte und CeCe und ich uns vor Lachen bogen.

Heute ist mir klar, dass CeCe und ich uns im Lauf der Zeit zu gegensätzlichen Polen entwickelten: Je weniger ich sprach, desto lauter und mehr redete sie für mich. Und desto weniger musste ich wiederum sagen. Das, was ohnehin in unseren Persönlichkeiten angelegt war, verstärkte sich. In unserer Kindheit spielte das inmitten unserer Schwestern keine große Rolle, denn wir hatten ja einander.

Doch nun wurde es plötzlich wichtig, es wuchs sich zum Problem aus …

»Ich hab sie gefunden!«, rief CeCe, als sie ins Wohnzimmer polterte. »In ein paar Wochen können wir rein. Sie ist noch nicht ganz fertig, der Feinschliff fehlt, aber sie wird unglaublich schön, das ist jetzt schon zu sehen. Gott, ist es heiß hier drin. Ich kann’s gar nicht erwarten, endlich auszuziehen.«

CeCe stapfte in die Küche, und wenig später hörte ich, wie sie den Wasserhahn voll aufdrehte. Mit ziemlicher Sicherheit waren die Arbeitsflächen, die ich zuvor trocken gewischt hatte, nun wieder feucht.

»Willst du auch ein Glas Wasser, Sia?«

»Nein danke.« Obwohl CeCe den Kosenamen, den sie sich in unserer Kindheit für mich ausgedacht hatte, nur benutzte, wenn wir unter uns waren, ärgerte ich mich darüber. Er stammte aus einem Buch, das Pa Salt mir zu Weihnachten geschenkt hatte. Es handelte von einem kleinen Mädchen, das in den Wäldern Russlands lebt und herausfindet, dass es eine Prinzessin ist.

»Sie schaut aus wie du, Star!«, hatte die fünfjährige CeCe gestaunt, als wir gemeinsam die Bilder in dem Buch betrachteten. »Vielleicht bist du auch eine Prinzessin – hübsch genug wärst du mit deinen blonden Haaren und den blauen Augen. Ab jetzt nenne ich dich ›Sia‹. Das passt wunderbar zu ›Cee‹! Cee und Sia, die Zwillinge!« Sie hatte begeistert in die Hände geklatscht.

Erst später, als ich die wahre Geschichte der russischen Zarenfamilie erfahren hatte, war mir klar geworden, was mit Anastasia Romanowa und ihren Geschwistern passiert war. Märchen sahen anders aus.

Inzwischen war ich kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau von siebenundzwanzig Jahren.

»Die Wohnung wird dir gefallen.« CeCe kehrte ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf das abgewetzte Ledersofa fallen. »Ich hab für morgen Vormittag einen Besichtigungstermin ausgemacht. Sie kostet ein Vermögen, aber jetzt kann ich’s mir leisten. Außerdem sagt der Makler, dass in der City gerade Chaos herrscht. Momentan schlagen sich nicht die üblichen Verdächtigen um die Wohnungen; deshalb konnte ich einen günstigen Preis raushandeln. Wird Zeit, dass wir ein richtiges Zuhause kriegen.«

Wird Zeit, dass ich mir ein richtiges Leben zulege, dachte ich.

»Du willst sie kaufen?«, fragte ich.

»Ja. Vorausgesetzt, sie gefällt dir.«

Ich schwieg verblüfft.

»Alles in Ordnung, Sia? Du wirkst müde. Hast du letzte Nacht nicht gut geschlafen?«

»Nein.« Beim Gedanken an die langen, schlaflosen Stunden vor der Morgendämmerung, in denen ich um meinen geliebten Vater getrauert hatte, dessen Tod ich noch immer nicht fassen konnte, traten mir Tränen in die Augen.

»Du stehst nach wie vor unter Schock. Es ist ja auch erst ein paar Wochen her. Wenn du morgen unsere neue Wohnung siehst, geht’s dir besser, das verspreche ich dir. Diese Scheißbude drückt auf deine Stimmung. Und auf meine auch«, fügte sie hinzu. »Hast du dem Typen mit dem Kochkurs schon ’ne Mail geschickt?«

»Ja.«

»Wann fängt der Kurs an?«

»Nächste Woche.«

»Gut. Dann haben wir Zeit, Möbel für unser neues Zuhause auszusuchen.« CeCe trat zu mir und umarmte mich. »Ich kann’s kaum erwarten, es dir zu zeigen.«

* * *

»Ist es nicht toll?«

CeCe breitete die Arme aus. Ihre Stimme hallte wider von den nackten Wänden des großen Raums, als sie zu der Glasfront marschierte und eines der riesigen Fenster aufschob.

»Schau, dein Balkon«, sagte sie und winkte mich zu sich. »Balkon« war ein viel zu bescheidenes Wort für die geräumige Terrasse, die über der Themse zu schweben schien. »Den kannst du mit deinen Kräutern und Blumen aus ›Atlantis‹ bepflanzen.« CeCe trat ans Geländer und schaute hinab auf die grauen Fluten. »Ist der Blick nicht grandios?« Ich nickte. Als sie wieder hineinging, folgte ich ihr. »Die Küche muss noch eingebaut werden, aber sobald die Formalitäten unter Dach und Fach sind, kannst du dir Herd und Kühlschrank aussuchen. Schließlich wirst du ja jetzt Profi«, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu.

»Wohl kaum, CeCe. Es ist nur ein kurzer Kurs.«

»Du kannst so gut kochen. Wenn sich rumspricht, was du draufhast, wird dir bestimmt ein Job angeboten. Ich finde die Wohnung ideal für uns, du nicht? Diese Seite kann ich als Atelier nutzen.« Sie deutete auf den Bereich zwischen hinterer Wand und Wendeltreppe. »Das Licht hier ist fantastisch. Und du hast eine große Küche und den Balkon. Etwas ›Atlantis‹ Ähnlicheres konnte ich im Zentrum von London nicht finden.«

»Ja. Es ist wirklich schön, danke.«

Die Wohnung war tatsächlich beeindruckend. Da ich ihr die Freude nicht verderben wollte, verkniff ich es mir, ihr die Wahrheit zu sagen: dass das Leben in diesem riesigen unpersönlichen Glaskasten mit Blick auf den schlammigen Fluss sich meiner Ansicht nach gar nicht stärker von dem in »Atlantis« hätte unterscheiden können.

Als CeCe und der Makler sich über das helle Parkett unterhielten, das in der Wohnung verlegt werden sollte, schüttelte ich den Kopf über meine negativen Gedanken. Ich wusste, dass ich schrecklich verwöhnt war, denn verglichen mit den Straßen von Delhi oder den Slums, die ich am Stadtrand von Phnom Penh gesehen hatte, war eine nagelneue Wohnung in der Londoner City wirklich nicht zu verachten.

Doch letztlich wäre mir eine einfache kleine Hütte mit sicher im Boden verankertem Fundament und kleinem Garten davor...