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Licht über weitem Land - Nach einer wahren Geschichte

Jane Kirkpatrick

 

Verlag Brunnen Verlag Gießen, 2016

ISBN 9783765574603 , 320 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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13,99 EUR


 

1 Eine eigene Meinung

PLATTE COUNTY, MISSOURI, 1844

Letitia blieb im Schatten, um dem Geplänkel vor ihr auszuweichen. Aber das Kind an ihrer Hand zog sie mit auf die staubige Straße vor dem Gerichtsgebäude von Platte County. Männerstimmen durchschnitten die Luft, scharf und beißend wie die Peitschenhiebe eines Feldaufsehers. Die Luft war schwer wie eine feuchte, wollene Decke, aber dennoch umgab die beiden Männer eine Staubwolke, als ob Stiere mit den Hufen stampften. „Wir hatten eine Abmachung, offen und ehrlich. Aber sie hat die Arbeit nicht geleistet!“ Letitia kannte den Sprecher: Davey Carson, ein Auswanderer aus Irland, jetzt Einwohner der Siedlung Carroll in Platte County, Missouri. Und offensichtlich aufgeregt. Die buschigen, leicht rötlichen Augenbrauen waren über dem finsteren Blick pfeilförmig zusammengezogen. „Und ich sage, ich hab nichts von allem getan, was sie behauptet. Nichts! Das Mädchen hat seine Arbeit nicht gemacht, so war’s!“

Letitia zuckte zurück, erleichtert, dass der Zorn nicht ihr galt. Sie zog das Kind an der Hand mit sich in Richtung des Gemischtwarenladens von Platte City.

„Das klären wir vor Gericht.“ Der zweite Mann stürmte an Davey vorbei und ließ den Iren stehen wie eine verschrumpelte Gurke am Boden des Gurkenfasses, die niemand mehr anfassen mag.

Mit rotem Gesicht überflog Davey die sich zerstreuende Menge. Sein Blick traf Letitia und sie blickte zu Boden. In der heißen Sonne stand ihr Schweiß auf der Stirn und verstärkte den Duft von Kokosöl und Honig, mit denen sie ihr krauses Haar zu glätten versucht hatte. Sie wandte den Kopf zur Seite. „Gehen wir.“ Sie griff nach der Hand des Kindes.

„Du glaubst das wohl auch?“ Es klang wie ein Vorwurf.

Sie blieb stehen.

„Du glaubst wohl auch, ich bin unberechenbar und könnt’ ein Mädel schlagen und missbrauchen, Sklavin hin oder her! Ist das deine Meinung, Frau?“

Meinte er wirklich sie? Sie suchte besser das Weite. Sie brauchte jetzt wirklich keinen Streit mit einem Weißen. Sie war in der Stadt, um Knöpfe und Schleifenband für Mrs Bowman zu besorgen, und Artemesia hatte gebettelt, mitkommen zu dürfen. Das Kind stand mit großen Augen da; die kleine Hand, die sich jetzt in die von Letitia schob, war heiß und feucht.

„Was ich denk, Mista Carson, is’ egal. Ich hab gar keine Meinung. Ich wollt nur nich’ im Weg sein.“ Sie hatte sehr wohl ihre eigene Meinung. Er war freundlich zu ihr gewesen, im letzten Jahr, nicht lange, nachdem sie nach Platte County gekommen war. Sie hatte ihn gebeten, ihr Geld zu nehmen und davon eine Kuh für sie zu kaufen.

Seine Stimme wurde wieder lauter. „Ja, ich bin wohl ein alter Fährtensucher und das Leben in der Stadt nicht gewohnt, aber ich versteh mich sehr wohl drauf, den Besitz von andren zu achten.“ Er warf die Arme in die Luft. „Ich hab sie nicht angerührt. Niemals! Reinlegen wollten die mich, von Anfang an. Die haben das Mädel angestiftet, wegzulaufen, und dann hätten sie ihre Sklavin wiedergehabt und mein Geld noch dazu, und ich stünd’ ohne ihre Arbeit da und ohne mein Geld auch.“ Davey stiefelte die Stufen zum Gerichtsgebäude hoch und verschwand hinter den schwarzweißen Eckpfeilern. Letitia war entlassen.

Eine gerichtliche Anhörung stand jedem Amerikaner zu, wenn es um Ansprüche auf Eigentum ging, das hatte sie gehört. Sie hoffte, dass er mit seinem Anliegen Erfolg hätte. Warum sie das hoffte, war ihr nicht ganz klar. Eigentlich lag es ihr nicht, Partei zu ergreifen. Ihr Herz schlug jetzt wieder normal.

Im Laden angekommen, mussten sie warten. Der Inhaber wollte seine Kunden bei Laune halten – dass die weißen Kunden zuerst bedient wurden, verstand sich von selbst. Letitia strich mit der Hand über die weichen Stoffballen; der Geruch der neuen Farben kitzelte ihr in der Nase. Sie zog einen Ballen Spitze aus dem Regal und ließ die sorgfältig verschlungenen Fäden durch die Finger gleiten. Irische Spitze? Sie schüttelte den Kopf. Die Leute tauschten ihre Luxusgüter gegen Zwieback und Mehl. Man würde bald in den Westen ziehen.

Auch Letitia würde nach Oregon gehen, zusammen mit den Bowmans. Ob sie sich darüber freuen sollte, war ihr nicht ganz klar. Sie hatte die Spielregeln von Missouri erlernt. Ihre Papiere gezeigt, wenn man sie danach fragte. Hatte es ertragen, wenn die Leute von einer „freien Schwarzen“ sprachen, als handle es sich um einen Gestank oder Schlimmeres, eine Art Gift, das man inhalierte, wenn man nur dieselbe Luft atmete wie sie. Aber seit sie hier in diesem Bundesstaat lebte, war ihr auch Gutes widerfahren. Sie hatte sich ihr Geld verdient, indem sie Frauen bei Geburten beistand. Schließlich hatte es für eine Kuh gereicht. Davey Carson hatte tatsächlich den Handel für sie abgeschlossen. Er hatte ihr Geld genommen und die Kuh erstanden, die die Bowmans nun für sie fütterten – sie zahlte dafür, ebenso wie für ihren eigenen Lebensunterhalt.

Aber sie hatte gehört, dass die Einwohner von Oregon sich der Union als freier Staat anschließen wollten. Frei würde sie dort auch sein und das Gespenst der Sklaverei würde nicht mehr über ihr schweben wie ein Schwarm fiebriger Moskitos. Vielleicht würde sie in Oregon auch einen Versuch machen, allein zu leben. Oder sie würde heiraten und Kinder bekommen und die würden als freie Menschen geboren werden und niemand würde sie ihr nehmen und in die Fremde verkaufen können. Was sie an Eigentum besaß, würde wirklich ihr Eigen sein. So wie die Kuh, die ihr gehörte. Sie bestaunte eine silberne Babyrassel im Regal. Kühl und schwer lag sie in ihrer Hand. Für den Fall … falls der noch einmal eintrat. Nein, Mr Bowman hatte gesagt, sie könnten nur das Notwendigste mitnehmen. Eine Babyrassel gehörte gewiss nicht dazu.

Letitia hatte sich also entschlossen, mit nach Oregon zu gehen, Sarah bei der Wäsche zu helfen und sich auch um die Kinder zu kümmern. Sie hatte mittlerweile die Freiheit, sie in der Öffentlichkeit Missus Bowman zu nennen; daheim in ihrem Blockhaus sagte sie Miss Sarah, wie zu einer älteren Schwester. Aber so nah wie Schwestern standen sie einander nicht.

Während Artemesia die Theke mit den Bonbons mit den Augen verschlang, wanderte Letitia durch den Laden, legte eine Packung Nähnadeln in ihren Korb, begutachtete eine Haarbürste und ihr Spiegelbild auf deren versilbertem Rücken. Pechschwarzes Haar kräuselte sich an den Schläfen unter ihrem Strohhut in der Luft, die feucht und schwer war wie der Atem eines Hundes in der Mittagshitze. Dunkle braune Augen leuchteten in einem Gesicht von der Farbe der kurzen Tasten auf dem Klavier. Sie las Traurigkeit darin, eine Traurigkeit, die in ihr all das wachrief, was diese Augen in sechsundzwanzig Jahren gesehen hatten. Die Bürste war zu teuer für sie.

Eine Windbö ließ Sand gegen das Schaufenster prasseln. Draußen braute sich ein ordentlicher Regenguss zusammen. Sie hätte daran denken sollen, den Regenmantel für das Kind mitzunehmen, aber es hatte nicht nach Regen ausgesehen, als sie aufbrachen. Sie wollte nicht, dass das Kind sich erkältete.

Ein Nähkasten fiel ihr ins Auge. Schildpatt, innen ausgekleidet mit grüner und blauer Seide. Sie öffnete das Kästchen und erblickte Spulenhalter aus Elfenbein. Sie könnte einen doppelten Boden hineinarbeiten und ihre Papiere darin verstauen. Es wäre ein sicheres Versteck.

„Was kann ich für dich tun, Miss Artemesia?“, fragte der Ladeninhaber das Kind. Er und Letitia waren jetzt die einzigen Erwachsenen, nachdem alle anderen Kunden bedient waren und das Geschäft verlassen hatten, in der Hand die Schirme, die der Inhaber ihnen angesichts des drohenden Regengusses geliehen hatte.

„Mista Bowman kommt morgen in die Stadt. Die Sachen hier will er dann mitnehmen.“ Letitia reichte ihm eine Liste, sorgfältig darauf bedacht, nicht an seine Finger zu rühren, obwohl sie Handschuhe trug. „Ich hol nur Nadeln.“

„Ist das deine Nanny, Miss Bowman?“ Er wies mit dem Kinn auf Letitia.

„Ja, Sir. Das ist Tante Tish.“

„Hat sie denn Geld für ihre Nadeln?“

Letitia sprach laut und bestimmt: „Ich hab Geld, Mista.“

Er runzelte die Stirn. Letitia zählte ihm die Münzen in die Hand. „Bowmans bezahlen. Ich bin eine freie Frau.“

Er knurrte missbilligend. „Und ihr zieht also alle nach Oregon, Miss Bowman?“

Artemesia nickte.

„Du wirst uns fehlen, kleine Lady, das muss ich schon sagen.“ Er wandte sich um, um Letitias Geld in die Kasse zu legen. „Sieht so aus, als ob die halbe Stadt in den Westen zieht. Ich seh sie schon rollen, die Wagen.“ Er seufzte. „Hin und wieder hätt ich ja auch nichts gegen einen Tapetenwechsel. Bin nur nicht sicher, ob man diesen Briefen glauben kann, was all die guten Dinge angeht, die in Oregon angeblich auf einen warten.“

„Tun Sie uns auch ’nen Schirm borgen, Mista? Es regnet mächtig.“

„Hättest eben ’nen Schirm mitbringen sollen.“

„Sicher. Hat aber nich’ so ausgesehen, wie wenn’s Regen gäb. Das Kind soll mir nich’ krank werden.“

Er nickte. „Das möcht ich auch nicht auf dem Gewissen haben. Hier.“

Letitia behielt ihre Meinung über Briefe, die man abschickte oder erhielt, für sich. Es hätte ihn sowieso nicht interessiert. Was sie dachte, interessierte sowieso kaum jemanden. Miss Sarah würde sich schön bedanken, falls sie anfinge, ihr ein paar Tipps zu geben, wie man Flöhe aus dem Bettzeug kriegte oder was man gegen morgendliche Übelkeit tun konnte. Mr Bowman tat so, als ob es sie gar nicht gäbe, es sei denn, er brauchte ihre Hilfe beim Hanfbrechen oder Schweineschlachten. Aber...