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Das Lazarus-Syndrom

Guido M. Breuer

 

Verlag beTHRILLED, 2016

ISBN 9783732527939 , 349 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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4,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

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1. Lazarus-Syndrom


Die Motoren des Helikopters dröhnten monoton, Lichtfetzen sickerten aus dem Cockpit nach hinten in den Passagierraum. So wirkte die Kabine düsterer, als wenn man gar nichts gesehen hätte. Joe empfand die Dunkelheit fast körperlich, sie klebte an ihm, ließ sich weder durch die flackernden Displays noch durch die beharrlichen Vibrationen des Triebwerks abschütteln.

Niemand unternahm den Versuch eines Gesprächs.

Das Begrüßungsgemurmel, unlustig aus müden Gesichtern herausgequält, war kurz nach dem Start verstummt. Joe war dankbar dafür. Er hasste unnötiges Reden, besonders bei einem nächtlichen Einsatz. Umso mehr, wenn er wie an diesem Abend zu wenig getrunken hatte. Über ein Hallo war er nicht hinausgekommen. Was hätte er auch sagen sollen?

Jedes Mitglied des Teams kannte das Flugziel. Alles Weitere würde man vor Ort sehen. Auf dem Plan stand eine Multiorganentnahme bei einer frisch verstorbenen Spenderin.

Da gab es nichts zu besprechen.

Joe starrte nach vorn. Seine Augen fühlten sich müde an, der Blick suchte beinahe zwanghaft die blauen und grünen Monitore in der gläsernen Kanzel. Er schloss die Augen, um zu prüfen, ob die kleinen Lichtflecken auch durch die Lider sichtbar waren. Irgendwie beruhigte es ihn, dass er sie nicht sah. Aber der Hörsinn wurde schärfer mit geschlossenen Augen; er vernahm neben dem Wummern des Doppelmotors der EC-135 nun das leise Blubbern der Rotorblätter. Er vermisste in diesen neuen Maschinen das harte Klopfen der Bell-212. Und er vermisste in diesem Augenblick einen guten Schluck Brandy. Er steckte die Stöpsel seines Handys in die Ohren, um etwas Musik zu hören. Er wählte Wagners Walkürenritt und stellte den Sound auf die maximale Lautstärke, um die Motoren zu übertönen. Als das Stück begann, schaute er aus dem Fenster. Draußen waren nur wenige Lichter am Boden zu sehen. Sie hatten Köln längst hinter sich gelassen und flogen nun über die Eifel. Gleich würden sie einen Ort namens Simmerath erreichen. Da gab es tatsächlich ein Krankenhaus. Joe hatte dort bislang noch keinen Einsatz gehabt, soweit er sich erinnern konnte. Er wusste nichts über das Haus und die dortige Einrichtung. Zum Sterben wird es allemal reichen, dachte er.

Sein Kollege Jörn bediente den HeliMap und bewegte dabei seine Lippen, als betete er für einen sicheren Flug. Um Kosten zu sparen, musste einer der Ärzte aus dem Entnahmeteam zusätzlich Flugpersonal-Funktionen übernehmen und beim Navigieren helfen. Diese Zusatzausbildung wollte Joe sich keinesfalls antun. Es hatte ihn auch keiner gefragt.

Joe the Butcher.

So nannten sie ihn. Aber niemals in seiner Gegenwart. Als wenn es ihm etwas ausmachen würde. Aber bei Joe passte man auf, was man sagte. Joe war nicht gut drauf.

Das stimmte. Zumindest wenn er nüchtern war. Der Gesang der Walküren nervte inzwischen. Irgendwie fand er Wagner immer dann so richtig gut, wenn kein Sänger den Mund aufmachte. Aber jetzt war es auch egal, denn der Helikopter setzte zur Landung an. Joe machte das Handy aus und nahm die Stöpsel aus den Ohren. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es gerade halb zwei war. Sie lagen gut in der Zeit. Wenigstens das, dachte er und riss die Tür auf. Zuerst kletterte Franzi aus der Kabine, dann Joe, Jörn als Letzter. Sie bewegten sich geduckt, als wenn sie von den vier Rotorblättern geköpft werden könnten.

Man erwartete sie schon. Und wie immer bemerkte Joe auch hier diese Blicke. Da kommen sie, glaubte er die Gedanken in den Gesichtern lesen zu können, da kommen sie, die apokalyptischen Reiter, die Leichenfledderer im Schutze der Verdunkelung.

Leise murmelte er: »Unsterbliche Seele, nimm dich in Acht, dass du nicht Schaden leidest, wenn du aus dem Irdischen scheidest; es geht der Weg durch Tod und Nacht.«

Der Weg führte das Ärzteteam direkt in den OP. Im Vorraum wartete die immer gleiche Prozedur auf sie, die Desinfektion und das Anlegen steriler Kleidung, während ihre Patientin noch vorbereitet wurde. Dann gingen sie hinein.

Die Spenderin lag auf dem Tisch. Mit einem Rundumblick erfasste Joe das Wesentliche. Das volle Monitoring war angeschlossen. Die Homöostase lief einwandfrei. Ein Blick auf den Boden sagte ihm, dass alles penibel sauber war, aber auch glatt, wie es bei normalen Operationen üblich und gewollt war. Es würde rutschig werden.

Joe musste dazu gar nichts sagen. Franzi übernahm das. Sie bedeutete der OP-Schwester, dass Matten auf dem Boden benötigt würden. Die Frau verstand das zuerst nicht. Franzi erläuterte ihr geduldig, dass Handtücher, Leinenzeug, was immer man hier auftreiben könne, zum Auslegen heranzuschaffen seien. Rund um den Tisch brauchten sie saugfähiges Material.

Joe schaute demonstrativ auf die Uhr. Mehr als zwei Minuten wollte er ihnen nicht geben.

Jörn prüfte Menge und Temperatur der bereitstehenden Perfusionslösung. Dann fragte er nach der Verfügbarkeit kalten Wassers. Der Anästhesist wies auf einen Schlauch, der an einer Wasserleitung angeschlossen war, und bestätigte, dass es maximal vier Grad Celsius hatte. Franzi nickte ihm zu und sagte etwas Freundliches, Aufmunterndes. Joe hörte nicht hin. Er war sehr dankbar, dass seine Kollegen die Kommunikation mit dem OP-Personal vor Ort übernahmen. Jörn und Franzi wussten das und taten alles, damit er nicht mit den Leuten reden musste.

Die Schwester kehrte mit einem Wagen des Reinigungsservice zurück. Darauf lagen saubere Bettlaken, Handtücher und ein paar OP-Kittel. Jörn legte mit Hilfe der Schwester das Material flach aus. So würden sie gleich in der Sauerei nicht ausrutschen.

Joe entschied, dass sie anfangen konnten. Jörn und Franzi waren bereit. Der Anästhesist überprüfte die Anzeigen und nickte Joe zu, die OP-Schwester reichte ihm das Skalpell. Die Spenderin lag friedlich da. Sie hatte ein hübsches Gesicht und einen jungen, sportlichen Körper. Bis auf das schwere Schädel-Hirn-Trauma war sie unversehrt. Die Brust hob und senkte sich im Rhythmus des Beatmungsgeräts. Der Tubus war über einen Luftröhrenschnitt platziert worden.

Joe setzte das Skalpell mit sanftem Druck unterhalb des Brustbeins an, und die Klinge tauchte ein ins Fleisch. Im Gesicht der Spenderin zuckte es leicht. Joe schnitt weiter. Der Anästhesist gab ihm ein Zeichen. Er sah es aus dem Augenwinkel, aber er hörte auch so die Warnsignale des Überwachungsmonitors. Der Körper reagierte. Plötzlich kamen ruckartig die Arme hoch. Joe wich reaktionsschnell aus und sprang weg vom Tisch. Das Skalpell ließ er in der Brust der Frau stecken. Sie fuchtelte wild. Die Schwestern wurden kreidebleich, eine schrie kurz auf, hielt sich dann die Hände vor den Mund.

Wut stieg in Joe auf. »Dilettantische Anästhesie!«, schrie er. »Verdammtes Dorfkrankenhaus, ich hätte es mir denken können! Amateure!« Er atmete schwer und sah sich um. Niemand ging das Risiko ein, seinen Blick zu erwidern. Das Piepsen des Monitoring und das seltsame Geräusch der künstlichen Beatmung kamen ihm in der nun einsetzenden Stille wie der Lärm riesiger Motoren vor. »Joe, reg dich ab«, sagte Jörn. »Wir wissen, dass so etwas immer mal passieren kann.« Dann wandte er sich an das OP-Team des Krankenhauses: »Nehmen Sie es ihm bitte nicht übel. Das ist für uns alle sehr belastend.«

Langsam kam Bewegung in das Team. Die Spenderin zuckte immer noch. Ihr bleiches, eben noch so hübsches Gesicht hatte sich zu einer Fratze verzerrt. Franzi redete auf den Anästhesisten ein. Eine hektische Diskussion begann. Er hatte nicht gewusst, dass er bei einer Hirntoten sowohl Muskelrelaxans als auch Vollnarkose geben musste. Er schien verstört. Jörn und Franzi mussten ihm helfen, den Fehler zu korrigieren.

»Verdammter Dreck«, sagte Joe. »Wir haben keine Zeit!«

Er ging wieder an den Tisch, gab der gefassteren der beiden OP-Schwestern einen Wink und bedeutete ihr, der Spenderin die Arme festzuhalten. Dann ging es weiter. Joe führte mit dem Skalpell einen Schnitt bis zur Schambeinfuge aus. Die Schwester musste hart arbeiten, um die Spenderin zu fixieren. Der Körper zuckte immer noch. Joe winkte die zweite Schwester heran.

»Klammern!«

Die Schwester trat näher, schien sich wieder im Griff zu haben und setzte die Klammer an. Joe machte einen weiteren Schnitt. Er beobachtete jede Bewegung des Körpers konzentriert und zischte leise: »Lazarus, bleib, wo du bist.«

Die beiden Schwestern sahen sich an. Joe kümmerte sich nicht um sie. Jetzt gab es nur noch ihn und den Körper dieser Frau. Die Narkose wirkte. Joe murmelte: »Mancher leider wurde lahm und nicht mehr nach Hause kam – streckt verlangend aus die Arme, dass der Herr sich sein erbarme!«

Jörn trat an ihn heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Joe, du machst den Mädels Angst. Rezitiere den Heine bitte leiser.«

Joe nickte stumm, ohne seine Konzentration von der Spenderin abzuwenden. Jetzt wurde es etwas einfacher. Er führte zwei weitere Schnitte aus. Die Schwestern setzten unter Jörns Anleitung die Klammern, um die Öffnung zu fixieren. Mit einer Handbewegung verlangte Joe nach der Knochensäge und durchtrennte schnell und sauber das Brustbein. Thorax und Abdominalraum lagen offen, wieder wurden Klammern gesetzt. Joe legte das Pericardium frei. Den Herzbeutel behandelte er ganz sorgfältig und registrierte erleichtert, dass das Herz einwandfrei schlug. Aorta und Hohlvene lagen gut zugänglich. Nun musste das Blut aus dem Körper entfernt werden. Jörn legte die Perfusionslösung an, Franzi bedeutete den Schwestern, kaltes Wasser in den offenen Körper zu füllen. Der weit aufgeklammerte Brustkorb bildete ein unheimliches Gefäß, das nach kurzer Zeit überlief. Die Schwestern stockten, doch Franzi bedeutete...