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Möge die Stunde kommen - Die Clifton Saga 6 - Roman

Jeffrey Archer

 

Verlag Heyne, 2017

ISBN 9783641204440 , 592 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

2

Am folgenden Morgen stand Sebastian früh auf, und nachdem er die Financial Times und den Daily Telegraph gelesen hatte, konnte er sich nicht vorstellen, wie seine Mutter noch irgendeine Aussicht darauf haben sollte, ihren Verleumdungsprozess zu gewinnen.

Der Telegraph wies seine Leser darauf hin, dass es der Sache seiner Mutter nicht helfen würde, sollte der Inhalt von Major Fishers Brief geheim bleiben. Die Financial Times beschäftigte sich vor allem mit den Problemen, die Barrington Shipping bekommen würde, sollte die Vorstandsvorsitzende den Prozess verlieren und von ihrem Posten zurücktreten müssen. Die Aktien des Unternehmens waren bereits um einen Shilling gefallen, da viele Aktionäre offensichtlich davon überzeugt waren, dass Lady Virginia gewinnen würde. Es wäre wahrscheinlich, so schien es Sebastian, das beste Ergebnis für seine Mutter, wenn die Geschworenen sich auch weiterhin nicht einigen konnten. Wie alle anderen fragte er sich immer wieder, was in dem Brief stand, den Mr. Trelford ihn nicht lesen ließ, und welcher Seite dieses Schreiben wohl mehr helfen würde. Nachdem er von der Arbeit zurückgekommen war, rief er seine Mutter an, die jedoch nicht viel zu diesem Thema sagen wollte. Seinen Vater fragte er gar nicht erst.

Sebastian kam sogar noch früher als üblich in die Bank, doch als er hinter seinem Schreibtisch Platz genommen und angefangen hatte, sich mit der morgendlichen Post zu beschäftigen, wurde ihm klar, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Nachdem seine Sekretärin Rachel ihm mehrere Fragen gestellt und er nicht darauf geantwortet hatte, gab sie auf und schlug vor, er solle ins Gericht gehen und erst wieder zurückkommen, wenn die Geschworenen ihr Urteil gesprochen hatten. Nach einigem Zögern willigte er schließlich ein.

Als sein Taxi die City verließ und in die Fleet Street einbog, sah Sebastian auf einem Plakat die dramatische Titelzeile der Daily Mail und rief: »Stopp!« Der Taxifahrer fuhr an den Straßenrand und bremste scharf. Sebastian sprang aus dem Wagen und rannte zu dem Zeitungsjungen hinüber. Er reichte ihm vier Pence und nahm sich ein Exemplar der Zeitung. Als er auf dem Bürgersteig stand und die Titelseite las, fühlte er sich hin und her gerissen: Er freute sich für seine Mutter, die zweifellos den Prozess nun schon bald gewinnen würde, und trauerte gleichzeitig mit seinem Onkel Giles, der seine politische Karriere geopfert hatte, um das zu tun, was er für richtig und ehrenhaft hielt. Denn Sebastian wusste, dass es seine Mutter niemals zugelassen hätte, dass irgendjemand außerhalb der Familie den Brief zu Gesicht bekommen würde.

Er stieg wieder ins Taxi, und während er aus dem Fenster starrte, fragte er sich, wie er in so einem Dilemma reagieren würde. Ließ sich die Vorkriegsgeneration von einem anderen moralischen Kompass leiten? Er war sicher, was sein Vater getan haben würde, und er zweifelte nicht daran, dass seine Mutter wütend auf Giles war. Dann dachte er an Samantha, die nach Amerika zurückgekehrt war, nachdem er sie enttäuscht hatte. Was hätte sie unter diesen Umständen getan? Wenn sie ihm nur eine zweite Chance geben würde, würde er denselben Fehler nicht noch einmal machen.

Sebastian sah auf die Uhr. Die meisten gottesfürchtigen Menschen in Washington würden jetzt noch schlafen, weshalb er Dr. Wolfe, die Leiterin von Jessicas Schule, nicht anrufen und somit auch nicht herausfinden konnte, warum sie ihn so dringend hatte sprechen wollen. Sollte es denn tatsächlich möglich sein, dass …?

Das Taxi hielt vor den Royal Courts of Justice in The Strand. »Das macht dann vier sechs, Chef«, sagte der Fahrer, wodurch Sebastian aus seinen Gedanken gerissen wurde. Er reichte ihm zwei halbe Kronen.

Kaum dass er aus dem Taxi gestiegen war, leuchteten auch schon die Blitzlichter der Kameras auf. Die ersten Worte, die er im lärmenden Stimmengewirr der Journalisten verstehen konnte, lauteten: »Haben Sie Major Fishers Brief gelesen?«

Als Mrs. Justice Lane den Gerichtssaal Nummer vierzehn betrat und auf dem hochlehnigen Stuhl auf dem Podium Platz nahm, sah sie nicht besonders erfreut aus. Die Richterin konnte nicht daran zweifeln, dass heute Morgen das einzige Thema im Geschworenenzimmer die Titelseite der Daily Mail sein würde, obwohl sie die Geschworenen eindringlich aufgefordert hatte, für die Dauer des Prozesses keine Zeitungen zu lesen. Sie wusste nicht, wer Major Fishers Brief an die Presse gegeben hatte, doch das hinderte sie so wenig wie jeden anderen im Gerichtssaal daran, eine eigene Meinung dazu zu haben.

Obwohl der Brief an Mr. Trelford geschickt worden war, war sie davon überzeugt, dass nicht er es getan hatte. Er würde sich niemals auf ein so zwielichtiges Vorgehen einlassen. Zwar kannte sie Anwälte, die beide Augen zugedrückt und ein solches Verhalten sogar stillschweigend geduldet hätten, doch Donald Trelford gehörte nicht zu ihnen. Er würde lieber einen Prozess verlieren, als in einem so trüben Gewässer zu schwimmen. Ebenso überzeugt war sie davon, dass es sich nicht um Lady Virginia Fenwick handelte, denn durch eine solche Aktion konnte sie ihrer Sache nur schaden. Hätte ihr die Weitergabe des Briefes einen Nutzen gebracht, wäre sie die Hauptverdächtige der Richterin gewesen.

Mrs. Justice Lane sah zu Mrs. Clifton hinab, die den Kopf gesenkt hielt. Während der letzten Woche hatte sie die Angeklagte immer mehr bewundert, und sie hätte sie gerne besser kennengelernt, sobald der Prozess erst einmal vorüber war. Aber das war unmöglich. Genau genommen würde sie sogar nie wieder mit dieser Frau sprechen. Sollte sie es nämlich tun, so wäre dies zweifellos der Grund für ein Wiederaufnahmeverfahren.

Hätte die Richterin raten müssen, wer für die Weitergabe des Briefes verantwortlich war, so hätte sie eine kleine Summe auf Sir Giles Barrington gesetzt. Aber sie versuchte nie, etwas zu erraten, und sie war keine Spielerin. Sie beschäftigte sich einzig und allein mit dem Beweismaterial. Die Tatsache jedoch, dass Sir Giles heute Morgen nicht im Gericht war, hätte man als Beweis betrachten können – wenn auch nur als Indizienbeweis.

Die Richterin wandte sich Sir Edward Makepeace zu, dessen Miene wie üblich nicht zu deuten war. Der berühmte Anwalt hatte seine Sache geschickt vertreten, und seine Eloquenz hatte Lady Virginias Fall zweifellos geholfen. Doch das war, bevor Mr. Trelford das Gericht auf Major Fishers Brief aufmerksam gemacht hatte. Die Richterin konnte gut verstehen, warum weder Emma Clifton noch Lady Virginia wollte, dass der Inhalt des Briefes vor Gericht offen gelegt wurde, obwohl sie sicher war, dass Mr. Trelford seine Mandantin dazu gedrängt hatte, ihn als Beweismaterial anerkennen zu lassen. Schließlich vertrat er Mrs. Clifton und nicht ihren Bruder. Mrs. Justice Lane nahm an, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Geschworenen zurückkommen und ihr Urteil sprechen würden.

Als Giles an jenem Morgen sein Wahlkreisbüro in Bristol anrief, brauchten er und Griff Haskins, der Leiter seines Wahlkampfs, kein langes Gespräch zu führen. Nachdem Griff die Titelseite der Daily Mail gelesen hatte, musste er, wenn auch widerwillig, akzeptieren, dass Giles seinen Namen als Labour-Kandidat für Bristol Docklands bei der bevorstehenden Nachwahl zurückzog.

»Das ist typisch Fisher«, sagte Giles. »Voller Halbwahrheiten, Übertreibungen und versteckter Andeutungen.«

»Es überrascht mich nicht«, sagte Griff. »Aber können Sie das vor dem Wahltag beweisen? Denn eines ist sicher: Wenn die Tories am Abend vor der Wahl noch einmal mögliche Wähler anschreiben, wird es genau um diesen Brief gehen. Sie werden ihn in jeden Briefkasten im Wahlkreis stecken.«

»Wir würden dasselbe tun, wenn sich uns eine Gelegenheit eröffnen würde, die auch nur halb so viele Aussichten bietet«, gab Giles zu.

»Aber wenn Sie beweisen könnten, dass es sich dabei um nichts als einen Haufen Lügen handelt?«, sagte Griff, der sich weigerte aufzugeben.

»Dazu habe ich nicht genügend Zeit, und ich bin mir nicht sicher, dass mir noch irgendjemand glauben würde, selbst wenn ich es versuchen sollte. Die Worte eines Toten sind so viel mächtiger als die der Lebenden.«

»Dann können wir nur noch eines tun«, sagte Griff. »Auf eine Sauftour gehen und unsere Sorgen ertränken.«

»Das habe ich schon letzte Nacht gemacht«, gestand Giles. »Und Gott weiß, was sonst noch alles.«

»Sobald wir eine Kandidatin oder einen Kandidaten ausgewählt haben«, sagte Griff, der sofort wieder auf Wahlkampf umschaltete, »möchte ich, dass Sie ihn oder sie beraten. Denn wer es auch immer sein wird, er wird Ihre Unterstützung brauchen und, wichtiger noch, Ihre Erfahrung.«

»Das könnte unter diesen Umständen kein Vorteil sein«, gab Giles zu bedenken.

»Sie sollten besser aufhören, auf mein Mitleid zu spekulieren«, sagte Griff. »Ich habe nämlich das Gefühl, dass wir Sie nicht so schnell loswerden. Die Labour Partei steckt Ihnen im Blut. Und soweit ich weiß, war es Harold Wilson selbst, der gesagt hat: Eine Woche ist eine lange Zeit in der Politik.«

Als die unauffällige Tür aufschwang, beendeten alle Anwesenden im Gerichtssaal ihre Gespräche und wandten sich dem Gerichtsdiener zu, der beiseitetrat, damit die sieben Männer und fünf Frauen in den Saal kommen und ihre Plätze auf den Geschworenenbänken einnehmen konnten.

Die Richterin wartete, bis sich die Geschworenen gesetzt hatten, und fragte dann den Obmann: »Ist es Ihnen gelungen, ein Urteil zu finden?«

Langsam erhob sich der Obmann, schob seine Brille zurecht, sah zur...