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HELIX - Sie werden uns ersetzen - Roman

Marc Elsberg

 

Verlag Blanvalet, 2016

ISBN 9783641175870 , 672 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

2

Jegors Fahrer Andwele lenkte den Landcruiser von der staubigen Sandpiste auf eine Seitenstraße, die den Namen kaum verdiente. Die Schlaglöcher hämmerten direkt in Jegors Kreuz, sein Arm schlug gegen die Tür.

Aus dem Radio quasselte ein Moderator Englisch mit schwerem tansanischem Zungenschlag. Jegor hörte nicht hin. Sein Blick flog abwesend über die einfachen einstöckigen Häuschen an der Strecke, die Farben von der Witterung ausgebleicht, gesprungener und abblätternder Putz, gedeckt mit Wellblech oder zerfledderten Palmwedeln. Manche noch unverputzt, doch die Ziegel wirkten schon alt. Davor windschiefe, beschattete Tischchen mit Obst oder Gemüse, hinter denen eine Frau saß, manchmal auch zwei. Dazwischen eine Werkstatt, vor der ein paar Männer im Sand hockend brüteten, ein Krämerladen, aus dem eine Frau mit zwei prallen Plastiktüten und drei Kindern im Schlepptau stapfte und bei jedem Schritt eine kleine Staubwolke aufwirbelte. Seit zwölf Jahren lebte Jegor in Afrika, seit sechs in Tansania. Auf diesem Kontinent sah fast alles Menschengemachte entweder halb fertig oder halb verfallen aus, fand er.

Andwele wich einem Schlagloch aus, ohne die Geschwindigkeit zu reduzieren. Jegor klammerte sich fester an den Haltgriff über der Tür. Kinder in zerfaserten Pullovern, kurzen Hosen und bloßen Füßen winkten ihnen lachend zu. Die Häuser wurden weniger, Mais-, Maniok- und andere Felder übernahmen, unterbrochen von Dickicht, ab und zu gesäumt von Palmen. In der Ferne stieg eine breite Rauchwolke in den wolkenlosen Himmel, vermutlich Brandrodung.

An einem tristen Maisfeldrest lenkte Andwele den Wagen an den Rand der Straße, wo er schief zum Stehen kam. Sie sprangen hinaus in die süßlich-erdig riechende Hitze, traten an den Rand des Feldes. Oder was davon übrig war. Die verkümmerten, halb vertrockneten Pflanzen waren durchlöchert und zerfranst. Jegor begutachtete einige Blätter, bog die Deckblätter eines armseligen Maiskolbens auseinander. Überall wuselten kleine Raupen.

»Armyworm«, murmelte er. Als ob die vorangegangene Dürre nicht genügt hätte. In manchen Jahren zerstörte Spodoptera exempta bis zu dreißig Prozent der Maisernte befallener Gebiete. Teile der Pwaniregion westlich von Daressalam hatte es dieses Jahr besonders schlimm erwischt. Trotz der laufenden Beobachtung, Vorbeugung, Gräben gegen die Raupenkolonnen und intensivem Pestizideinsatz hatten weder Behörden noch Bauern das Desaster verhindern können. Hatten die Raupen ein Feld verwüstet, zogen sie in langen Reihen nebeneinander zum nächsten. Daher der Name.

Jegor warf die Blätter zu den anderen auf den Boden und kehrte zurück zum Wagen. Mais war eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel weltweit, auch hier in Tansania. Ein Befall mit dem Armyworm oder anderen Schädlingen konnte für den betroffenen Bauern den Ruin und für die Region eine Hungersnot bedeuten.

»So sieht es hier überall aus«, erklärte Andwele in seinem Singsangakzent, während er den Motor startete. »Dieses Jahr ist es besonders schlimm. Fast überall. Nur an einem Flecken nicht. Inzwischen nennen ihn alle nur noch das Wunder

Zwanzig Kilometer durch den Staub und zahllose Schlaglöcher weiter fuhr Andwele auf den breiten Streifen ab, der die Straße von den verstreut stehenden Häuschen trennte, und bremste vor einem so heftig, dass er den Wagen in eine Staubwolke hüllte.

»Ganz toll gemacht«, brummte Jegor.

»Wir sind da!« Andwele sprang hinaus, umrundete den Landcruiser und öffnete Jegors Tür.

»Verd…«, setzte Jegor zu einem Fluch an, als der Staub ins Wageninnere drang. Seufzend hievte er sich ins Freie. Er kniff die Augen zusammen und sah zu, dass er aus der heißen Wolke kam, die sich langsam setzte.

Im Schatten eines mit trockenen Palmblättern gedeckten Vordachs musterte sie eine ausgemergelte Frau. Sie trug ein ausgewaschenes T-Shirt, einen ehemals bunten Rock und Flip-Flops. Hinter ihr lugten zwei neugierige Kinder mit verschmierten Gesichtern aus dem Dunkel. Ein Jugendlicher lehnte am Türrahmen.

»Das ist Najuma Mneney, von der ich Ihnen erzählt habe!«, stellte Andwele die Hausherrin vor, die Jegor misstrauisch beäugte. Im Gegenzug plapperte Andwele mit Najuma auf Suaheli, von dem Jegor noch immer nur einzelne Wörter verstand. Erst jetzt entdeckte er die Machete in der Hand des Jugendlichen. Leise wies er Andwele darauf hin. Der schien nicht sonderlich beeindruckt.

»Gegen Diebe«, erklärte er Jegor. »Die Wunderpflanzen sind sehr begehrt, wie man sich vorstellen kann.« Ungerührt verhandelte er weiter mit der Frau.

Najumas Blick flog zwischen Andwele und Jegor hin und her. Dann trat sie vor und gab ihnen ein Handzeichen, ihr zu folgen. Sie hatte den steifen Gang schwer arbeitender Menschen. Ein Blick über die Schulter überzeugte Jegor, dass der Machetenjunge auf seinem Posten blieb, sie jedoch wachsam beäugte. Hinter dem Haus befand sich eine kleine, bröcklige Terrasse mit verwitterten Plastikstühlen und einem wackeligen Holztisch unter einem zerfledderten Palmenblattdach. Daneben warteten zwei Kisten mit Mais auf dessen Verarbeitung oder den Verkauf. Andwele nahm einen Kolben heraus und reichte ihn Jegor. Gelb, groß, prall, gesund. Jegor nickte Najuma anerkennend zu. Die lächelte schüchtern.

Unmittelbar hinter der Terrasse begann Najumas Garten. Oder Feld, je nachdem, wie man es betrachtete. Für einen tansanischen Kleinbauern war oft schon ein Fleck von der Größe eines durchschnittlichen europäischen Vorgartens viel.

Najuma erklärte Andwele, der übersetzte: »Sie bewirtschaftet hier etwa zweitausend Quadratmeter Grund.« Najuma grenzte das Land mit ein paar Gesten ab. Dreißig Meter in der Breite, schätzte Jegor, enden musste es demnach in knapp siebzig Metern Entfernung hinter dem Gemüsegarten und den übermannshohen Maisstauden.

Najuma führte sie zwischen dichten Reihen hüfthoher Tomaten- und Paprikastauden voll halb reifer Früchte hindurch zum Mais. Dicht und in saftigem Grün ragte er über zwei Meter hoch. Noch nie hatte Jegor in dieser Gegend so vitale Maispflanzen gesehen. Najuma sagte etwas, ihr Arm beschrieb einen Kreis, doch Jegor hörte nicht zu und untersuchte stattdessen die Blätter und Kolben.

»Keine Raupen, nirgends«, erklärte Andwele. »Im Umkreis von etwa vier Kilometern leidet kein einziger Maisbauer unter den Schädlingen. Wenn einmal ein paar auftauchen, lassen sie die Pflanzen in Frieden, sterben oder ziehen weiter. Und«, erklärte Andwele mit einer Geste auf einen Kolben, »die Früchte sind viel größer als sonst.«

Nachdenklich wanderte Jegors Blick die Maispflanze aufwärts und wieder herunter. Seit er in Afrika für internationale Landwirtschaftskonzerne arbeitete, beschäftigte sich Jegor mit der Erforschung und Entwicklung von Nutzpflanzen, die ertragreicher, genügsamer, widerstandsfähiger und gegen Schädlinge resistenter waren als ihre Vorfahren. Mais war eigentlich nicht sein Spezialgebiet, auch nicht von seinem Arbeitgeber, der Saudi-Arabischen ArabAgric, die in Afrika Gemüse und Getreide für den Export in ihr Heimatland anbaute. Doch die Nachricht von der kleinen Insel der Seligen inmitten der katastrophalen Raupenpest und Dürre dieser Saison hatte Jegors Aufmerksamkeit erregt.

»Woher hat sie das Saatgut?«

»So wie alle anderen Kleinbauern hier«, erklärte Andwele nach Rückfrage an Najuma. »Korn aus der Ernte des Vorjahrs.«

»Verwendet sie Dünger und Pestizide? Womöglich andere als die betroffenen Bauern in der Umgebung?«

Kurzer Dialog, Najuma schüttelte den Kopf.

»Nein«, bestätigte Andwele.

»Weißt du, ob der Boden im heilen Gebiet eine andere Beschaffenheit hat?«

»Unsere Bodenkarten sagen Nein. Trotzdem habe ich Proben genommen und ins Labor gebracht«, erklärte der Afrikaner.

»Gut. Andere Bewässerungsmethoden? Diese Pflanzen sehen nicht aus, als litten sie unter der Dürre.«

Fragen auf Suaheli. Kopfschütteln.

»Hat sie sonst irgendetwas anders gemacht als früher?«

Nein.

»Bitte Najuma um ein paar Blätter und Kolben als Proben.«

Andwele diskutierte wieder mit Najuma, drückte ihr schließlich ein paar zerknitterte Scheine in die Hand und empfing im Gegenzug ein Büschel Blätter und einen Arm voll Maiskolben. Auf dem Weg zurück zur Terrasse unterhielten sich die zwei angeregt, während Jegor ihnen durch die schwüle Hitze folgte. Abwesend verfolgte er, wie die Diskussion der beiden aufgeregter wurde. Auf der Terrasse wandte sich Andwele an Jegor.

»Najumas Nachbarn machen die Geister für das Wunder verantwortlich.«

Natürlich. Geister. An allem in diesem Kontinent waren Geister, Ahnen oder Zauberer schuld. Jegor wollte es gar nicht so genau wissen. Er fragte trotzdem.

»Welche Geister?«

Es entspann sich ein Trilog auf Suaheli und Englisch.

»Niemand hat sie richtig gesehen, nur von Weitem. Vor ein paar Monaten, zur Blütezeit, flogen in der Morgendämmerung über die Felder. Jetzt noch ab und zu.«

»Wie haben sie ausgesehen, die Geister?«

»Sehr komisch. Luftgeister. Noch größer als eine Riesentrappe oder ein Helmperlhuhn. Aber wer weiß, was sie redet«, meinte Andwele mit einer abfälligen Handbewegung. Sie umrundeten das Haus, während Najuma weiter auf Andwele einredete.

»Geklungen haben sie wie Insekten. Gesummt, gebrummt«, übersetzte Andwele, nun bereits sichtlich genervt. Als sie den Wagen erreichten, wechselte Andwele zu ein paar Dankesfloskeln, die auch Jegor verstand. Wortreich und mit freundlichen Verbeugungen verabschiedete sie die...