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Psychotherapie suizidaler Patienten - Therapeutischer Umgang mit Suizidgedanken, Suizidversuchen und Suiziden

Tobias Teismann, Christoph Koban, Franciska Illes, Angela Oermann

 

Verlag Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2016

ISBN 9783840925849 , 208 Seiten

Format PDF, ePUB, OL

Kopierschutz Wasserzeichen

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35,99 EUR


 

Kapitel 3 Diagnostik und Risikoabschätzung (S. 40-41)

Die Risikoabschätzung basiert auf den Annahmen der in Kapitel 2 beschriebenen theoretischen Modelle und dem grundsätzlichen Wissen um Risiko- und Schutzfaktoren für suizidales Erleben und Verhalten. Im Folgenden werden zunächst allgemeine Hinweise zur Risikobschätzung gegeben, bevor mit dem „Collaborative Assessment and Managment of Sucidiality“ von Jobes (2006) und dem „Chronological Assessment of Suicidal Events“ von Shea (2011) zwei spezifische Verfahren zur Risikoabschätzung vorgestellt werden. Abschließend wird kurz auf Fragebogen- und Interviewverfahren eingegangen.

3.1 Allgemeine Hinweise zur Risikoabschätzung

Das Ziel eines jeden Kontaktes mit einer suizidgefährdeten Person besteht darin, das aktuelle Ausmaß suizidalen Erlebens und Verhaltens zu erfassen und die Distanzierungs- und Absprachefähigkeit der Person einzuschätzen. Todeswünsche und Suizidgedanken sollten hierbei immer offen und mit konkreten Worten angesprochen werden. Die Risikoabschätzung ist ein zu ernstes Thema, als dass Raum für Missverständnisse gegeben werden darf! Ohnehin ist es ein Mythos anzunehmen, dass man Patienten auf die Idee bringt, sich umzubringen, wenn man sie auf Suizidgedanken und -pläne anspricht. Diagnostische Fragen stellen vielmehr wirkungsvolle Interventionen dar, durch welche Isolation und Einengung begrenzt werden können (vgl. auch den Leitfaden mit Fragen zur Risikoabschätzung im Anhang, S. 203).

Mythos: „Wenn man Menschen auf Suizidgedanken anspricht, bringt man sie erst auf die Idee.“

Gould und Kollegen (2005) konnten diese Befürchtung in einer groß angelegten Fragebogenstudie bei Jugendlichen (N = 2.342, 13 bis 19 Jahre) eindrücklich entkräften. Im Rahmen dieser Untersuchung wurden alle teilnehmenden Schüler zu zwei Zeitpunkten im Abstand von einer Woche nach ihrem Befinden befragt. Eine Hälfte der Schüler wurde zu beiden Messzeitpunkten nach Suizidgedanken befragt, während die andere Hälfte nur zum zweiten Zeitpunkt zu Suizidgedanken befragt wurde. Wenn Fragen nach Suizidgedanken selbige tatsächlich bedingen oder verstärken können, dann sollten die Schüler, die zweimal nach Suizidgedanken befragt wurden, zum zweiten Messzeitpunkt in stärkerem Maße suizidal sein als die Schüler, die nur einmal gefragt wurden. Tatsächlich fand sich zwischen den beiden Gruppen jedoch kein Unterschied bezüglich des Grades allgemeiner Belastung und Suizidgedanken. Im Gegenteil äußerten jene Schüler, die in der ersten Erhebung depressive Symptome und/oder suizidales Erleben und Verhalten geschildert hatten, weniger Belastung und weniger Suizidgedanken bei der zweiten Erhebung.

Deuten sich im Gespräch Hinweise auf Lebensmüdigkeit oder Suizidabsichten an, so sollten diese also unmittelbar thematisiert und expliziert werden (Teismann & Dorrmann, 2014):
–– Ihr Leben ist gerade wirklich extrem schwierig!
… Ich kenne andere Menschen, die sich bereits in einer weniger zugespitzten Situation nicht mehr sicher waren, ob sie überhaupt noch leben möchten – wie ist das denn bei Ihnen?
–– Gibt es derzeit Momente, in denen Sie sich wünschen, lieber tot zu sein?
–– Denken Sie daran, sich das Leben zu nehmen/ sich selbst zu töten?

Bejaht der Patient eine solche Frage oder lassen andere Reaktionsweisen das Vorhandensein von Suizidgedanken vermuten, sollte sich eine weiterführende Exploration anschließen. Vage Antworten wie „nicht wirklich“ und mimische und gestische Reaktionen/Veränderungen in Reaktion auf die Frage nach Suizidgedanken müssen sorgfältig beobachtet, aufgegriffen und vorsichtig angesprochen werden:

–– Was meinen Sie mit „nicht wirklich“?
–– Was geht denn gerade in Ihnen vor?

Grundsätzlich ist sorgfältig auf Ambivalenzen des Patienten acht zu geben (vgl. Kapitel 4.2): So kann die Erleichterung und der Wunsch, über Suizidimpulse zu sprechen, immer wieder auch durch Befürchtungen bezüglich potenziell negativer Konsequenzen ehrlicher Antworten (z. B. in Form einer stationären Einweisung) torpediert werden. Phasen des offenen Austauschs können sich daher mit abweisenden Reaktionen des Patienten abwechseln. In Anbetracht von Schamgefühlen bei der Offenbarung suizidaler Intentionen ist es schließlich hilfreich, proaktiv zu normalisieren:
–– Es ist absolut menschlich, dass Ihnen in dieser Situation die Frage durch den Kopf geht, ob Sie noch weiterleben möchten. Ich finde das sehr nachvollziehbar und überhaupt nicht verwunderlich!
–– Viele Menschen erwägen im Laufe ihres Lebens die Möglichkeit einer Selbsttötung.
–– Gerade nach traumatischen Erlebnissen/in Anbetracht massiver Schmerzen/der Diagnose einer solchen Erkrankung usw. ist es nicht unnormal, an einen Suizid zu denken.

Sollten Patienten fürchten, dass die Offenbarung von Suizidgedanken unmittelbare Zwangsmaßnahmen nach sich zieht, können psychoedukative Hinweise zum therapeutischen Umgang mit Suizidabsichten hilfreich sein (vgl. Kapitel 4.1).

3.2 Einschätzung von Risikofaktoren

In Abhängigkeit davon, ob die suizidale Person dem Kliniker bereits bekannt ist, also auch schon Vorwissen zur Lebensgeschichte, psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie aktuellen Stressoren besteht, oder es sich um eine unbekannte Person handelt, die beispielsweise im Rahmen eines Erstgesprächs, einer Krisenintervention oder einer Konsiliaruntersuchung gesehen wird, nimmt die Risikoabschätzung naturgemäß einen unterschiedlichen Verlauf. Wird es im einen Fall zunächst darum gehen, Informationen über das Vorliegen psychischer Störungen (akut und/oder lifetime), die Lebenssituation des Patienten und aktuelle krisenhafte Erlebnisse (z.?B. Todesfälle, Trennungen, Verluste, familiäre Konflikte, Arbeitslosigkeit, finanzielle Engpässe, anstehende Inhaftierung, Obdachlosigkeit, akute und/oder chronische Erkrankungen, Traumatisierungen) zu erhalten, kann im anderen Fall unmittelbar mit der Exploration der akuten Suizidalität begonnen werden. Hier muss direkt nach Suizidgedanken, Suizidplänen, vorbereitenden Verhaltensweisen und Suizidversuchen gefragt werden. Im Folgenden werden mögliche Fragen genannt (Dorrmann, 2012; Teismann & Dorrmann, 2014):