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Ein passender Mieter

Lukas Hartmann

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607307 , 368 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{5}1 Margret


Ein Abschied

Nun zog Sebastian also doch aus. Es war ein stürmischer Tag, früher Herbst, die Birken vor dem Haus bogen sich unter den Windstößen, Blätter wirbelten herum und fleckten den nassen Rasen. Sebastian hatte zwei Freunde aufgeboten, einen Lieferwagen gemietet. Sie trugen Möbel, Schachteln, Kleidersäcke vom Anbau durch den Garten und füllten den Laderaum des Autos. Es war mehr, als Margret gedacht hatte. Wie viel sich doch im Lauf von vier Jahren angehäuft hatte! So lange erst gab es ihn, den kleinen Anbau, doch der Sohn, für den er bestimmt gewesen war, verließ ihn nun. »Hast du denn gedacht, Sebastian bleibe ewig hier?«, hatte Gerhard am Morgen gesagt, als er ihre Tränen bemerkte. Pünktlich um sieben ging er weg. Es wäre ihm nicht eingefallen, sich Sebastians wegen im Institutsbüro zu verspäten; immerhin hatte es am Vorabend ein Abschiedsessen zu dritt gegeben. Man werde sich schon nicht aus den Augen verlieren, hatte Gerhard gesagt. Die zwei Männer prosteten sich am Esstisch verlegen zu, für einen Moment schienen sie ihre Konflikte vergessen zu haben. Später, beim Grappa, fragte Gerhard ein weiteres Mal, warum Sebastian jetzt nach bloß drei Semestern die Medizin aufgebe, und was er überhaupt in der Theologie suche. Und Sebastian entgegnete, er nehme sich eben die Zeit {6}herauszufinden, was er wirklich wolle. »Gewiss«, sagte Gerhard, »das klappt bestens, solange dein Lebensunterhalt garantiert ist.« Sebastian schaute sein leeres Glas an, dann stand er auf: »Ich habe noch nicht alles eingepackt, sorry.« Schon war er weg, drüben, in seinem Refugium, und ließ die Eltern in einem aufgeladenen Schweigen zurück.

Sebastian verdiene ja eigenes Geld, hätte Margret gerne entgegnet, er habe doch einen Nebenjob beim Sozialarchiv. Aber sie wollte keinen Streit und zog es vor zu schweigen.

Jetzt stand sie auf der Schwelle der Terrassentür, schaute den jungen Männern zu, die mit ihren Lasten über den Plattenweg gingen, und kam sich nutzlos vor.

»Ach nein, Mama«, sagte Sebastian, als sie ihre Hilfe anbot, »das schaffen wir schon allein. Entspann dich, ja?«

Dieses fragende und leicht gedehnte Ja kannte sie von beiden, vom Vater und vom Sohn. Sie rieb sich die kalten Hände. Sebastian war der magerste der drei Jungen, der schwächste; er mühte sich mit einer schweren Bücherkiste ab, die ihm beinahe aus den Händen glitt. Es hatte zu nieseln begonnen, seine Haare waren feucht. Margret hatte den Impuls, ihm die Regenjacke aus der Garderobe zu bringen, ließ es aber bleiben; vielleicht hatte er sie ja schon eingepackt. Der Gedrungene, der Sebastian auf den Fersen folgte, begnügte sich mit zwei übereinandergestapelten Wiener Stühlen, er nickte Margret freundlich zu.

»Soll ich euch einen Tee machen«, fragte sie den Sohn beim nächsten Vorübergehen, »oder einen Cappuccino?« Sie verschwieg, dass sie am frühen Morgen in der Bäckerei gewesen war, um frische Croissants und Schokoladenstengel zu kaufen; es sollte eine Überraschung sein.

{7}Sebastian, der jetzt ein in Zeitungspapier eingeschlagenes Bild trug, blieb einen Moment stehen. »Lieber nicht, Mama«, sagte er, »wir wollen bei diesem Wetter so schnell wie möglich vorankommen.«

Es gelang ihr nur halb, ihre Enttäuschung zu verbergen. »Ich dachte bloß, etwas Warmes …« Sie stockte, deutete aufs Bild, das Sebastian neben sich abgestellt hatte. »Das ist der Escher, nicht wahr?«

Er lächelte und zwinkerte dazu, dann strich er sich eine feuchte Strähne aus der Stirn. »Ja, der kommt mit.«

Es war die berühmte schwarzweiße Lithographie mit den vielen Treppen, die gar nicht zueinander passen, teils in die Quere und in die Leere führen, teils auf zwei Seiten betretbar scheinen, so dass die Leute, vom Betrachter aus gesehen, aufrecht oder kopfunter gehen. Eine verwirrende, schwindelerregende Welt. Margret mochte das Bild nicht, hatte aber wissen wollen, was Sebastian daran anzog, und er hatte sich die Zeit genommen, ihr zu erklären, dass es um unterschiedliche Perspektiven gehe, die Escher ineinandergeschachtelt habe, was den Betrachter dazu zwinge, immer wieder seinen Standpunkt zu wechseln. Auch danach war ihr das Bild fremd geblieben, abweisend.

Der Sohn ging weiter, mit leicht schleppenden Schritten, als ob ihm die Schuhe – knöchelhohe Turnschuhe mit orangefarbenen Streifen – zu schwer wären.

Schnell war alles aufgeladen, was er mitnehmen wollte. Er verabschiedete sich draußen vor dem Kleinbus. Eine kurze Umarmung, zwei angedeutete Wangenküsse. Margrets breitkrempiger Regenhut behinderte die Annäherung.

{8}Der Gedrungene saß am Steuer, Sebastian auf dem Beifahrersitz, der Dritte hinten, im Laderaum, eingezwängt zwischen Bett und Schachteln. Wenn sie genau hinschaute, war es nun doch nicht so viel. Sebastian kurbelte, bei laufendem Motor, die Scheibe herunter. Sie sah, dass er nicht angegurtet war.

»Wiedersehen, Mama«, sagte er. »Sobald ich eingerichtet bin, lade ich euch ein.«

Sie nickte, hob die Hand zum Winken, als der Wagen anfuhr. Dann rief sie noch: »Die Sicherheitsgurte, denk daran!«, und bereute ihre Ermahnung im gleichen Augenblick. Eigentlich hatte sie erwartet, dass sie nun, nachdem der Kleinbus verschwunden war, weinen würde; aber die Augen blieben trocken, sie brannten bloß, und es brauchte keinen Blick in den Spiegel, um zu wissen, dass sie gerötet waren. Sie blieb eine Weile stehen und nahm den Regenhut ab, so spürte sie doch etwas Nässe auf der Haut. Wohin er fuhr, der Sohn, war ihr nicht klar, ein Zimmer in einer kleinen Wohngemeinschaft am anderen Ende der Stadt hatte er gemietet, fast dreißig Quadratmeter in einem Altbau, Parkettboden, Gasheizung und Gasherd, so viel hatte sie ihm doch entlockt, zwei gleichaltrige Mitbewohner, Kunstgeschichte und Jus, das klang ja ganz gut. »Margret!« Im ersten Stock des Hauses auf der anderen Straßenseite hatte sich ein Fenster geöffnet, Angelika, die Nachbarin, schaute heraus, Angelika, das Urbild der schönen reifen Frau, durchtrainierte Tanzlehrerin mit eigenem Studio, Mutter zweier erwachsener Kinder, die ohne Umwege ihrem Master entgegenstrebten, Hundehalterin, dazu die schönsten Dahlien weit und breit.

{9}»Ich hab’s zufällig gesehen. Er fährt jetzt in sein eigenes Leben, dein Sohn.«

»Es wurde ja auch Zeit«, sagte Margret.

»Wie alt ist er denn schon wieder?«

»Zweiundzwanzig, knapp.« Und darauf, dachte Margret, würde die Nachbarin gleich erwidern: Wie doch die Zeit vergeht. Aber sie sagte: »Da war Fred schon lange weg. Wir Eltern müssen ihnen manchmal eben Beine machen.«

»Nun ja«, wehrte Margret ab. »Eigentlich habe ich ja genug zu tun.«

Der Labrador bellte, Angelika verschwand vom Fenster und wies ihn schroff zurecht; das Bellen ging in ein Winseln über.

»Ich muss, tschüss«, rief Margret hinüber, ins dunkle Viereck hinein, in dem sich niemand mehr zeigte; sie merkte, dass sie ihren Regenhut zusammengeknüllt hatte, glättete ihn und setzte ihn wieder auf; nun waren auch ihre Hände nass. Sie ging die paar Schritte zur Haustür, die offen stand, streif‌te die Überschuhe im Flur ab, ließ sie achtlos liegen. Es zog sie hinüber in den Anbau, ins Studio, wie Gerhard sagte. Die doppelte Verbindungstür zwischen ihm und ihrem Wohnraum war nun nicht mehr verschlossen. Sie hatten bei der Planung damals darauf geachtet, dass es möglich war, den Anbau direkt, vom Haus aus, zu betreten, aber auch vom Garten her durch einen eigenen Eingang. Nach anderthalb Jahren hatte Sebastian darauf bestanden, die Verbindungstür abzuschließen, eher: abzusperren. Das war vorgesehen gewesen für den Fall, dass irgendwann ein Mieter das Studio bewohnen würde, aber nicht bei einem Familienmitglied.

{10}Sie klopfe doch an, hatte Margret entgegnet. Er hatte sie mit schräg geneigtem Kopf angesehen: Klar, aber er brauche einfach mehr Privatsphäre. Sie empfand dies als Vertrauensverlust; Gerhard indessen schlug sich dieses Mal auf Sebastians Seite und war sogar einverstanden, die Verbindungstür mit einer aufgeklebten Dämmplatte besser gegen Schall zu isolieren, damit Gespräche und Musik von drüben kaum noch hörbar wären. So war Margret eben die letzten zweieinhalb Jahre auch bei Wind und Wetter durch den Garten gegangen, wenn sie dem Sohn etwas mitteilen oder ihn zum Essen einladen wollte. Auch da hatte er manchmal abweisend reagiert, deshalb hatte sie in letzter Zeit angefangen, ihm jeweils über die Distanz von wenigen Metern eine SMS zu schicken. Das kam ihr zwar absurd vor, aber es schien ihm so lieber zu sein.

Nun betrat sie den Anbau ohne Umweg. Es war ein heller Raum mit drei Fenstern, beinahe leer jetzt. Nur der Lederhocker aus Marokko, ein Geschenk von ihr, war noch da, und darauf lag seine Querflöte. Dass es sie gab, hatte Margret beinahe vergessen. Sebastian war talentiert, und er hatte während einiger Zeit so viel geübt, dass sie gedacht hatte, ihr Sohn könnte Musiker werden. Das war längst vorbei. Wo hatte er die Flöte die ganze Zeit aufbewahrt? Vermutlich im Schrank, der nun zerlegt und wegtransportiert worden war. Ein Bild von Klee hing noch an der Wand, eine kleiner roter Fisch, schwimmend in blau-brauner Steinblocktiefe. Das Bild hatte Sebastian einst gefallen, sie hatte ihm den teuren Druck gekauft, er hatte ihn die letzten Jahre wohl noch aus Pietät hängen lassen. Es begann, sie in der Kehle zu würgen. Dort, wo das Bett gestanden hatte, {11}entdeckte sie Staubflusen, die sich beim geringsten Luftzug bewegten, und ein paar gebrauchte Papiertaschentücher. In der Küchenecke stand schmutziges Geschirr, das Sebastian bei ihr ausgeliehen hatte. Sie...