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Gefahr

Dick Francis

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257606782 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{7}Italien


1


In Bologna war alles zu spät.

Ich bemühte mich, so still wie möglich zu stehen, während Wellen kalter Wut und heißer Angst an mir zerrten, daß ich hätte durchdrehen können.

Ich stand still … während ein Menschenleben, das vielleicht von mir abhing, bedenkenlos von anderen aufs Spiel gesetzt wurde. Stand still inmitten der Trümmer eines fast errungenen Erfolges, einer fast erwirkten Freiheit, einer schon greifbaren Rettung.

Die gefährlichste, heikelste Phase einer jeden Entführung ist die Übergabe des Lösegelds. In dem Moment, da es den Besitzer wechselt, muß irgend jemand irgendwie aus dem Dunkel heraustreten … und ein Entführer nähert sich seinem Wasserloch mit größerer Vorsicht als jedes Tier des Dschungels.

Ein Verdacht, eine Spur, schon der leiseste Hinweis auf Beobachter reicht aus, daß er die Beine in die Hand nimmt und davonrennt. Danach, wenn die Angst in ihm gärt und seine Rachgier entbrennt, wird er am ehesten töten. Die Übergabe zu verpatzen heißt, die Gefahr für das Opfer hundertfach höherschrauben.

Alessia Cenci, dreiundzwanzig Jahre alt, war zu dem Zeitpunkt bereits seit fünf Wochen, drei Tagen, zehn Stunden in den Händen der Entführer, und nie war sie näher daran gewesen, ihr Leben zu verlieren.

{8}Enrico Pucinelli kletterte mit grimmigem Gesicht durch die Hecktür des Krankenwagens, in dem ich stand – ein Transporter, genauer gesagt, der von außen wie ein Krankenwagen aussah, dessen dunkel getönte Fenster jedoch eine Bank, einen Stuhl und eine Masse elektronischer Ausrüstung im Innern verbargen.

»Ich hatte dienstfrei«, sagte er. »Diese Befehle kamen nicht von mir.«

Er sprach italienisch, aber mir zuliebe langsam. Als Männer verstanden wir uns sehr gut. Als Dolmetscher, die wir beide die Sprache des anderen besser verstanden, als wir sie sprechen konnten, brauchten wir Zeit. Wir redeten sehr artikuliert miteinander, jeder in seiner Muttersprache, und hörten aufmerksam zu; wenn nötig, baten wir um Wiederholung.

Er war der Carabinieri-Offizier, der die amtlichen Ermittlungen leitete. Den Erfordernissen äußerster Vorsicht und minimalen sichtbaren Einsatzes hatte er durchweg zugestimmt. Vor der Villa Francese, in der Paolo Cenci bleich auf Nachricht von seiner Tochter wartete, war nie ein heraldisch geschmücktes Fahrzeug mit hektisch kreisendem Blaulicht erschienen. Nirgends war ein Uniformierter in das Blickfeld feindlicher Augen gerückt. Nicht, solange Pucinelli es hatte verhindern können.

Wir waren uns einig gewesen, daß es in erster Linie auf die Sicherheit des Mädchens ankam und erst in zweiter auf das Ergreifen der Kidnapper. Längst nicht jeder Polizeibeamte sah das in dieser Reihenfolge; die Jagdinstinkte vieler Gesetzeshüter werden allein durch das Aufbringen ihrer Beute befriedigt.

Leider hatte Pucinellis diensttuender Kollege an diesem verhängnisvollen Abend, als er plötzlich die Chance erkannte, relativ leicht über die Kidnapper herzufallen, wenn sie das Lösegeld abholten, keinen Grund gesehen, sich zurückzuhalten. In die sommerlich schwüle Dunkelheit, in den sorgfältig ausgehandelten, geduldig abgedämpften Moment der größten Ruhe {9}hatte er seinen Stoßtrupp preschen lassen: fuchtelnde Gummiknüppel, Stimmengewirr, blendende Scheinwerfer, ominös zum Nachthimmel erhobene Pistolen, Sirenengeheul … die ganze moralische Aggressivität einer gerechten Armee in wilder Verfolgung.

Von dem Krankenwagen aus, der weit entfernt auf der Straße stand, hatte ich ungläubig, mit ohnmächtigem Zorn zugesehen, wie es geschah. Mein Fahrer hatte fluchend den Motor angelassen und uns im Schleichtempo näher an den Tumult herangebracht, und wir hatten beide recht deutlich die Schüsse gehört.

»Man bedauert es«, sagte Pucinelli steif, mich beobachtend.

Darauf hätte ich wetten können. So viele Carabinieri waren auf der schlecht beleuchteten Seitenstraße in Aktion gewesen, daß sie in der Ungewißheit, wo sie genau suchen sollten, ihr Ziel vollends verfehlt hatten. Zwei dunkelgekleideten Männern war es gelungen, mit dem Koffer, der den Gegenwert von sechshundertfünfzigtausend Pfund enthielt, ein verstecktes Fahrzeug zu erreichen, es zu starten und davonzufahren. Zweifellos war die Aufmerksamkeit der Gesetzeshüter, wie auch die meine, zu sehr auf den Anblick des jungen Mannes konzentriert gewesen, der kopfüber aus dem anderen Wagen kippte. Es war der Wagen, den man die ganze Zeit über deutlich hatte sehen können; der Wagen, in dem das Lösegeld zu diesem verpfuschten Rendezvous gebracht worden war.

Der junge Student, Sohn eines Rechtsanwalts, war niedergeschossen worden. Ich sah das leuchtende Rot auf seinem Hemd, das schwache Flattern seiner Hand, und ich dachte daran, wie wach und zuversichtlich er bei unserem Gespräch war, ehe er aufbrach. Er sei sich über das Risiko im klaren, hatte er gesagt, er werde ihre Anweisungen unbedingt befolgen, und er werde mich über Funk direkt vom Wagen zur Ambulanz auf dem laufenden halten. Gemeinsam hatten wir den winzigen, im Griff des Lösegeldkoffers eingenähten Sender in Betrieb gesetzt. Wir {10}hatten uns vergewissert, daß er korrekt als Zielgeber funktionierte und seine Botschaften das Radargerät im Krankenwagen erreichten.

Im Innern des Krankenwagens zeigte eben dieses Suchgerät unverkennbar, daß der Koffer auf dem Marsch war und sich rasch entfernte. Ich hätte ohne Zweifel die Kidnapper entkommen lassen, denn das war für Alessia am sichersten, aber einer der Carabinieri hatte im Vorübergehen das Echozeichen erblickt. Aufgeregt lief er zu dem bulligen Mann mit der Trillerpfeife, der den Einsatz zu leiten schien. Durch den Lärm brüllte er ihm etwas zu und wies mit dem Finger auf unseren Wagen.

In unschlüssiger Verwirrung sah der Beamte gequält zu uns herüber und kam dann im Laufschritt auf mich zu. Den dicken Kopf im Fenster der Fahrerkabine, starrte er stumm auf den Radarschirm, wo er unfehlbar die schlechte Neuigkeit ablas. Der Schweiß brach ihm aus.

»Verfolgen!« sagte er heiser zu meinem Fahrer und wischte mein Bemühen, ihm auf italienisch mitzuteilen, warum er nichts dergleichen tun solle, beiseite.

Der Fahrer hatte resigniert die Achseln gezuckt. Mit einem Ruck waren wir unterwegs gewesen, begleitet von einem wahren Aufgebot jaulender Fahrzeuge, deren Gekreisch die leeren Straßen des von den Arbeitern längst verlassenen Industrieviertels erfüllte.

»Seit Mitternacht«, sagte Pucinelli, »tue ich Dienst. Ich führe wieder den Befehl.«

Düster sah ich ihn an. Der Krankenwagen stand jetzt mit abgestelltem Motor auf einer breiteren Straße. Das Peilgerät zeigte eine konstante Spur und lokalisierte den Koffer in einem modernen Wohnblock der unteren Einkommensklasse. Vor dem Gebäude stand im Winkel zur Straßenkante ein unscheinbarer schwarzer Wagen, dessen überhitzter Motor langsam abkühlte. Um ihn herum bildeten die Polizeiautos, mit offenen Türen und {11}flammenden Scheinwerfern, eine Art Schranke. Ihre Insassen lagen mit schußbereiter Waffe in Deckung.

»Wie Sie sehen, halten sich die Entführer in der vorderen Wohnung im dritten Stock auf«, sagte Pucinelli. »Sie haben die Wohnungsinhaber als Geiseln genommen und sagen, sie würden die Leute umbringen, wenn wir ihnen keinen freien Abzug geben, und auch Alessia Cenci würde mit Sicherheit sterben.«

Ich hatte sie das alles aus dem offenen Fenster schreien gehört, die Wiederholung war kaum notwendig.

»Binnen kurzem wird das Abhörgerät in Position sein.« Pucinelli sah unbehaglich in mein starres Gesicht. »Und bald können wir das Telefon mithören. Wir haben Leute oben auf der Treppe. Die nageln sie fest.«

Ich schwieg.

»Meine Männer behaupten, Sie hätten die Entführer laufenlassen wollen … mitsamt dem Geld.«

»Das stimmt.«

Wir sahen uns ohne Lächeln an, wie Feinde fast, dabei vor kurzem noch Verbündete. Er war dünn und so ungefähr um die Vierzig. Dunkel, leidenschaftlich und energisch. Als Kommunist in einer kommunistischen Stadt mißbilligte er den Kapitalisten, dessen Tochter in Gefahr war.

»Sie hatten auf den Jungen, der den Wagen fuhr, geschossen«, sagte er. »Wir konnten sie unmöglich entkommen lassen.«

»Der Junge hat sein Glück versucht. Das Mädchen muß noch immer gerettet werden.«

»Ihr Engländer«, meinte er. »Immer cool.«

Der Zorn in mir würde Asbest versengt haben. Wenn seine Männer nicht ihren mißlungenen Hinterhalt gelegt hätten, wäre auf den Jungen gar nicht erst geschossen worden. Er wäre unversehrt ausgestiegen und hätte, wie angewiesen, das Lösegeld im Auto zurückgelassen.

Pucinelli wandte seine Aufmerksamkeit der Bank mit den {12}Funkgeräten zu. »Ich lasse einen Mann für den Empfang kommen«, sagte er. »Ich werde auch hiersein. Sie können bleiben, wenn Sie wollen.«

Ich nickte. Es war zu spät, um sonst noch etwas zu tun.

Es hatte völlig meinem Instinkt und meiner Schulung widersprochen, mich auch nur in der Nähe des Übergabeortes für das Lösegeld aufzuhalten, doch Pucinelli hatte meine Anwesenheit dort verlangt, als Gegenleistung für die versprochene Abwesenheit seiner Truppe.

»Sie können unseren Wagen nehmen«, hatte er gesagt. »Unseren Funkwagen. Sieht aus wie eine Ambulanz. Sehr diskret. Das läßt sich machen. Ich schicke Ihnen einen Fahrer. Wenn die Entführer den Koffer haben, folgen Sie ihnen. Sie geben uns Bescheid, wo sie sich versteckt halten. Wenn das Mädchen dann frei ist, nehmen wir sie fest. Okay?«

»Wenn das Mädchen frei ist, werde ich Ihnen sagen, wohin sie das Geld gebracht haben.«

Er hatte leicht die...