dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Lebensgeister

Banana Yoshimoto

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607765 , 160 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR


 

{9}Als ich die Eisenstange bemerkte, wie sie da in meinem Bauch steckte, dachte ich: Verdammt, das sieht nicht gut aus … Ich werde sterben.

Was mich nicht weniger beunruhigte, war der Rost an der Stange. Verrückt. Sollte es in einer solchen Situation nicht vollkommen egal sein, ob die Stange rostig war oder glänzte wie Edelstahl?

Ein hef‌tiger Widerwille packte mich. Wie gebannt starrte ich auf das rostige Ding.

Damals war ich achtundzwanzig und lebte in dem Gefühl, noch eine Ewigkeit vor mir zu haben. Aus dem Nichts wurde ich mit der elementaren Lebenswirklichkeit konfrontiert, dass der Tod tatsächlich unser ständiger Begleiter ist. Ah, da ist er also!, dachte ich ungläubig.

Irgendwann war die Stange dann zwar weg, doch ich spürte sie noch lange Zeit in mir.

Der Unfall geschah auf dem Heimweg zum Wohnatelier meines Freundes Yōichi, er saß am Steuer. Yōichi lebte im Kamigamo-Viertel von {10}Kyōto, ich in Tōkyō, Hunderte Kilometer weit entfernt.

Es war Spätsommer. In Kurama1 hatten wir uns ein heißes Quellenbad gegönnt, waren dann nach Kibune gefahren, um uns im Schatten von üppig-feuchtem Grün ein wenig abzukühlen, und von da aus zurück nach Kyōto. Bis sich die herrlich weite Flusslandschaft des Kamo vor uns ausbreiten würde, war es nur noch ein kleines Stück.

Den kanadischen Sänger und Songwriter Leonard Cohen bewunderte Yōichi über alles. Er liebte seine Musik und hörte sie oft. Auch damals im Auto erklang Cohens tiefe, wundervolle Stimme – eine Liveaufnahme von Lover Lover Lover.

Wie schon tausend Mal zuvor, ganz alltäglich, selbstverständlich.

Wir ließen uns gegenseitig viel Freiheit, und wir genossen das beide sehr. Es war mir selbst ein Rätsel, wie ein solcher Raum an Freiheit zwischen Mann und Frau überhaupt möglich war. Ganz langsam, behutsam, mit viel Liebe und Geduld wuchs er heran. Es fühlte sich an wie ein Souf‌f‌lé oder wie ein frisches, noch warmes Brötchen.

{11}Plötzlich sahen wir ein Auto direkt auf uns zukommen. Der Fahrer musste eingenickt sein. Yōichi versuchte auszuweichen. Vergeblich. Ein hef‌tiger Aufprall, unser Auto schoss über die Uferböschung und überschlug sich.

Mein Kopf schlug irgendwo auf, Blut spritzte in die Augen, färbte alles rot. Und dann spürte ich auf einmal die Stange, die sich in meinen Bauch gebohrt hatte. Yōichi hatte sich gleich mehrere davon für eine Kunstinstallation besorgt.

Ist Yōichi okay? Oder sterben wir jetzt beide? Was für eine Dummheit, mit Eisenstangen im Auto herumzufahren …

Was mir zuallerletzt durch den Kopf ging, verdichtete sich zu einem unglaublich intensiven Gefühl.

Leonard Cohens tiefe, süße Stimme klang noch immer in meinem Ohr. Reflexartig begann ich still zu beten.

»Wenn es sein muss, muss es eben sein. Ich bin bereit zu sterben, wenn nur Yōichi heil davonkommt. Sollte mir noch ein bisschen Leben vergönnt sein, dann schenke ich es ihm. In meiner Zeit auf Erden habe ich so vieles gesehen und erlebt; wunderschöne Landschaften, unvergessliche Momente. Ich hatte stets ein Dach über dem Kopf, war gesegnet mit guten Eltern und guter Gesundheit, {12}habe jeden Tag viel gelacht und viel gegessen. Für all das bedanke ich mich und hoffe inständig, dass Yōichi weiterlebt.«

Keine Sekunde lang wollte ich lieber selbst gerettet werden. Das überraschte mich und hat mir lange sehr geholfen, ja mich am Ende vielleicht sogar am Leben erhalten.

Ich hoffte nur für ihn, so wie Eltern für ihre Kinder hoffen.

Dieses Gefühl, das mich wie ein weiches, warmes Licht umhüllte, werde ich nie vergessen.

*

Es ist schon oft beschrieben worden, und so ging es auch mir: Für eine Weile befand ich mich in einer unendlich weiten, bezaubernden Welt, umfangen von einem strahlenden Weiß.

Wohin ich auch schaute – überall glitzerte und funkelte es, ich fühlte mich so wohl und so leicht, dass ich am liebsten immerfort vor mich hin geträllert hätte.

Mir schien es, als dauere dieser Zustand mehrere Monate; in Wirklichkeit waren es wohl nur einige Augenblicke oder Tage.

Ich erinnere mich, dass mein geliebter verstorbener Hund während der ganzen Zeit an meiner Seite {13}war. Mein Gesicht in sein warmes Fell kuscheln zu können machte mich glücklich.

Du bist also tot. Aber sein warmes Fell schützt dich, gibt dir Geborgenheit. Und der Himmel ist so schön! Du kannst dich nicht beklagen, redete ich mir gut zu, mach dir keine unnötigen Gedanken.

Ich legte mich hin, schloss die Augen und wollte nichts anderes als meinen Hund riechen. Ein Geruch, viel süßer und verlockender als Drogen oder Alkohol. Ich kostete jeden einzelnen Moment aus und wünschte mir, es möge kein Ende nehmen. Die rosa Haut, die flauschige Wärme … Hier hat mein treuer Kleiner also gelebt, dachte ich erleichtert und voller Dankbarkeit.

Als der Hund starb, hätte ich nicht so traurig sein dürfen, weil die Trauer hierherweht und das Himmelreich verdunkelt. Nein, das war nicht nötig! Wir hatten eine schöne Zeit miteinander verbracht, waren jeden Tag spazieren gegangen und hatten viel Spaß gehabt. Das reichte doch aus, was wollte ich mehr?

Yōichi soll über meinen Tod nicht traurig sein, wünschte ich mir tief im Herzen, und auch Vater und Mutter nicht. Aber der Gedanke fühlte sich nicht etwa frisch und lebendig an, sondern eigenartig klar, wie etwas, das ganz in sich selbst ruht.

{14}Der Himmel erstrahlte wie eine Aurora oder wie ein Regenbogen in geradezu mystisch anmutenden Farben.

Das Leben leuchtete still. Es erinnerte mich an die Stimmung in der Morgen- oder Abenddämmerung. Wenn ein sanf‌ter Wind durch die Bäume strich, war es, als würden Wolken von flimmerndem Flaum in die Luft gepustet, und die Muster wechselten unaufhörlich, als blicke man durch ein Kaleidoskop. Ich konnte mich nicht sattsehen. Wie bezaubernd das alles ist!, dachte ich ein ums andere Mal.

Da tauchte völlig überraschend Opa auf.

Ich sah, wie sein Motorrad von den Bergen her mir entgegenrollte. Träume ich? Kann es wirklich sein, dass ich meinen verstorbenen lieben Opa wiedersehe?

Als hätte ich mich nie gefragt, ob ich nun tot war oder nicht, ob es mich allein getroffen hatte oder nicht, fühlte ich in meiner Brust ein Entzücken wie im siebten Himmel.

»Steig auf!« Opa deutete auf den hinteren Sitz der Harley.

»Ohne Helm lieber nicht, und abgesehen davon ist mir das Mitfahren nicht mehr so geheuer«, sagte ich zögernd, aber Opa grinste nur schelmisch.

{15}»Wenn wir zurückkommen, fährst du jeden Tag zehn Mal Achterbahn, okay?«

So blieb mir nichts anderes übrig, als wie befohlen aufzusitzen. »Ich komme wieder, warte auf mich, ja?«, sagte ich zu meinem Hund, knuddelte ihn und atmete seinen Geruch tief ein. Als ich mich endlich an Opas Rücken schmiegte, nahm ich einen anderen altvertrauten Geruch wahr. Von Gefühlen überwältigt, fing ich an zu weinen.

»Dass du lebst … Wahnsinn!«, sagte ich mit Freudentränen in den Augen.

»So ist es«, antwortete er ungerührt. »Sayo, normalerweise geht man mit dem geliebten Tier, das auf einen wartet, über die Regenbogenbrücke ins Himmelreich. Noch nie davon gehört? Dann guck doch mal im Internet … Du lungerst schon viel zu lange hier am Fuß des Regenbogens herum. Na ja, so hab ich dich wenigstens finden können.«

»Ich mag halt Tiere lieber als Menschen«, sagte ich entschuldigend und schnupperte an Opas kühler Lederjacke, die sich auch so vertraut anfühlte.

»Geh in die Welt zurück, und lebe dein Leben, bevor du wiederkommst. Dein Freund ist schon da rübergegangen, keine Chance, ihn noch mal zu sehen. Musst dich damit abfinden. Hauptsache, du lebst jetzt einfach mal weiter. Ohne nach dem Sinn zu fragen. Halte dich an deine Eltern, sie sind {16}wichtig. ’ne Weile lang wird es ganz schön hart sein. Nicht sofort, sondern nach und nach merkst du, wie es immer schlimmer wird, du hast keine Kraft, und manchmal weißt du vor Verzweiflung nicht mehr, wie es weitergehen soll. Dann denk an diese Landschaft hier, bewahre die Erinnerung daran in deinem Herzen. Sie wird dich tragen und beschützen.«

Rätselhaft, was Opa da erzählte. Gedankenverloren hörte ich zu und wurde immer trauriger. An diesem Ort zeigten sich die Gefühle aber nicht so deutlich; alles war wie in einen traumhaften Schleier gehüllt.

Die unendlich lange, von den Bergen her kommende Straße schlängelte sich bis zum Fluss hinunter.

Es wehte ein sanf‌ter, zärtlicher Wind, wie ich es in Hawaii erlebt hatte, und über mir leuchtete der in tausend Rosa- und Rottönen gefärbte, Himmel.

Wie schön das hier ist, dachte ich wieder, ganz und gar gefangen von dem Zauberreich. Was ich fühlte, was ich sah – alles war so wohltuend, und ich hoffte, es würde kein Ende nehmen. Eine entrückte, still dahindämmernde Welt.

Als Opa starb, war ich in der sechsten Klasse der Grundschule gewesen.

Jeden Tag weinte und weinte ich, die Stimme {17}heiser, die Augen so geschwollen, dass ich manchmal nicht zur Schule gehen konnte. Dann kam der Klassenlehrer zu mir nach Hause, oder meine Klassenkameraden nahmen mich bei der Hand und begleiteten mich zur Schule.

Mein Opa mit seiner coolen Lederjacke … Er war Bildhauer gewesen, und man hatte sich auf ihn immer verlassen können. Die Kinder liebten es, ihn in seinem Atelier zu besuchen und dort zu spielen. Oma schenkte ihnen Süßigkeiten, Opa ließ sie ungeniert an seinen Skulpturen herumfummeln, und manchmal durf‌ten sie sogar ein wenig mithelfen oder sich etwas kaufen...