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Die Gesichter der Wahrheit

Donal Ryan

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607185 , 256 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

{5}1 Bobby


Mein Vater lebt immer noch die Straße runter und am Wehr vorbei in dem Häuschen, in dem ich aufgewachsen bin. Ich gehe jeden Tag hin, um zu sehen, ob er tot ist, und jeden Tag enttäuscht er mich. Es ist noch kein Tag vergangen, an dem er mich nicht enttäuscht hat. Er grinst mich an; dieses ekelhafte Grinsen. Er weiß, dass ich komme, um nachzusehen, ob er tot ist. Er weiß, dass ich weiß, dass er es weiß. Er grinst sein schiefes Grinsen. Ich frage ihn, ob er alles hat, was er braucht, und er lacht nur. Wir schauen uns eine Weile lang an, und wenn ich seinen Gestank nicht mehr ertrage, gehe ich. Viel Glück, sage ich, wir sehen uns morgen. So ist es, gibt er zurück. Ich weiß, dass es so sein wird.

In dem niedrigen Tor im Vorgarten dreht sich ein rotes Metallherz an einer Achse. Der Lack blättert inzwischen ab; das Rot ist fast verschwunden. Es muss abgebürstet, geschliffen, lackiert und geölt werden. Aber es dreht sich noch im Wind. Ich kann es quietsch, quietsch, quietschen hören, während {6}ich weggehe. Ein blätterndes, quietschendes, rotierendes Herz.

Wenn er stirbt, gehören mir das Haus und der Hektar Land, der noch übrig ist. Er hat Großvaters Hof schon vor Jahren versoffen. Sobald ich ihn unter die Erde gebracht habe, fackel ich das Haus ab und pisse auf die Asche, und den Hektar Land verkaufe ich an den Meistbietenden. Jeder Tag, den er noch lebt, senkt den Preis, den ich verlangen kann. Das weiß er genau; er lebt aus reiner Bosheit weiter. Sein Herz ist verkrustet, seine Lunge ist schwarz und verkümmert, und trotzdem schafft er es, Luft zu holen und sie dann ächzend und hustend wieder auszuspucken. Ich wurde vor zwei Monaten entlassen, das war die beste Medizin für ihn. Das hat ihm bestimmt noch mal ein halbes Jahr verschafft. Wenn er je rausfindet, wie Pokey Burke mich aufs Kreuz gelegt hat, wird ihn das vollends genesen lassen. Burke könnte sich seligsprechen lassen, nachdem er so ein Wunder bewerkstelligt hat.

Aus welchem Grund hätte ich Pokey Burke nicht trauen sollen? Er war jung, als ich angefangen habe, für ihn zu arbeiten – drei Jahre jünger als ich –, aber jeder in der Gemeinde hatte schon für seinen alten Herrn gearbeitet, und abgesehen von den üblichen Lästereien verlor niemand ein schlechtes Wort über ihn. Pokey Burke war nach dem Papst benannt: {7}Seán Pól hatten seine Eltern ihn getauft. Aber sein Bruder Eamonn war noch keine zwei Jahre alt, als seine Eltern das neue Baby nach Hause brachten, und er nannte das neue Baby Pokey, und alle machten mit, und so blieb der Name Pokey zeit seines Lebens an dem kleinen Seán Pól haften. Und das wird er wohl auch darüber hinaus, falls er jemanden hinterlässt, der sich an ihn erinnert oder von ihm redet, wenn er tot ist.

 

Ich hätte wissen müssen, dass was nicht stimmt, als Mickey Briars letztes Jahr ankam und nach seiner Betriebsrente fragte. Jungs, wusstet ihr, dass wir alle Anspruch auf ’ne Betriebsrente haben? Wussten wir nich, Mickey. Is so, bei ’nem Verein namens SIF. So ’ne richtige Betriebsrente, nich nur die von Vater Staat. Die is extra. Mickey hatte die linke Hand ausgestreckt. Sie hielt das unsichtbare Gewicht dessen, was er nicht bekommen hatte, obwohl es ihm zustand. Er zählte die Liste der Dinge ab, die ihm verwehrt worden waren, ein knochiger Finger auf sonnengegerbtem, kalkverbranntem Fleisch. In seinen gelben Augen standen die Tränen. Er war aufs Kreuz gelegt worden. Ausgeraubt. Und das nicht mal von einem Mann, sondern von einem kleinen Wichser. Das war es, worüber er nicht hinwegkam.

{8}Er ging rüber und fing an, so lange auf die Fertigtür einzudreschen, bis Pokey Burke sie einen Spaltbreit öffnete, ihm einen Umschlag hinwarf und die Tür wieder zuschmiss, gerade als Mickey den Kopf senkte und ihn wie ein Ziegenbock rammen wollte. Mickeys harter alter Schädel brachte das Holz zum Splittern, und die Tür hätte tatsächlich fast nachgegeben. Pokey Burke muss sich da drinnen eingeschissen haben vor Angst. Ich will meine scheiß Rente, du kleiner Wichser, brüllte Mickey immer wieder. Ich will meine scheiß Rente und meine restlichen Marken. Komm da raus, du Dreckskerl, ich bring dich um. Am Ende fing er richtig an zu randalieren, er warf Schubkarren um, riss Schalungen auseinander, und als er eine Schaufel in die Hand nahm und anfing, sie zu schwingen, gingen wir alle in Deckung. Bis auf den armen, naiven Timmy Hanrahan: Der stand nur da und grinste bis über beide Ohren, der Hornochse.

Der gute Mickey Briars hatte Timmy Hanrahan schon links und rechts eins über seinen naiven jungen Schädel gezogen, ehe wir ihn überwältigen konnten. Wir sperrten Mickey hinten in Seanie Schnösels Hiace, bis er wieder genießbar war. Dann ließen wir ihn raus, schleppten den heulenden, blutenden Timmy die Straße rauf in Ciss Briens Pub und versorgten ihn den ganzen Abend lang mit {9}Pints. Mickey Briars verdünnte seinen Jameson mit Tränen und sagte zu Timmy, es täte ihm leid, er hätte ihn immer gerngehabt, er wäre ein guter Junge, wirklich, aber er hätte geglaubt, er lachte ihn aus. Aber ich würde dich doch nie auslachen, Mickey, sagte Timmy. Ich weiß, mein Sohn. Das weiß ich doch.

Pokey Burke hatte uns hinterhergebrüllt, die erste Runde ginge auf seinen Deckel. Den ganzen Abend hat nicht einer von uns auf seine eigenen Kosten getrunken. Der arme Timmy kotzte sich schon kurz nach Beginn des Gelages die Seele aus dem Leib, und wir zogen ihn damit auf – gutgemeint natürlich –, und er lachte durch den Rotz und die Tränen, und die Wunden an seinem Kopf hörten auf zu bluten und die dünne Kruste ging in einem ab, bevor wir ihn mit einer Tüte Pommes, drei Würstchen im Teigmantel und einer Gehirnerschütterung, die sich gewaschen hatte und die ihn ohne weiteres hätte umbringen können, auf den Nachhauseweg schickten.

Bis heute reagiert eines seiner Augen ein bisschen schleppend, als könnte es nicht mit seinem Kameraden Schritt halten. Aber für Tim macht es keinen Unterschied; wenn er überhaupt einen Spiegel zu Hause hat, guckt er da wohl eh nicht rein. Und ob er jetzt blöder ist als vorher, wer weiß das {10}schon? Und wen interessiert’s? Man braucht nicht viel Hirn, um Scheiße zu schaufeln und Steine zu schleppen und Befehle von rattengesichtigen kleinen Männern auszuführen, die einen den ganzen Tag lang ausbeuten und abends noch auslachen und die Marken nicht einreichen.

Das war das Schlimmste an der ganzen Sache. Wir wollten unsere Marken abholen, und die lachten uns nur aus. Marken? Was für Marken? Für keinen von uns gab es auch nur eine einzige Marke, geschweige denn eine Meldung ans Finanzamt. Ich zeigte der kleinen blonden Frau hinter der Scheibe meine letzte Gehaltsabrechnung. Darauf stand eindeutig, was abgezogen worden war: Sozialversicherung, Lohnsteuer, Betriebsrentenbeitrag. Sie hielt es sich mit krausgezogener Nase vors Gesicht, als hätte ich mir damit gerade die Achseln trockengewischt. Und?, fragte ich. Und was? Was ist da passiert? Woher soll ich wissen, was da passiert ist, Sir? Ich saß nicht bei Pokey Burke oder irgendjemand anderem am Computer. Haben Sie denn nie eine Verdienstbescheinigung von Ihrem Arbeitgeber bekommen? Eine was? Du bist vielleicht ein Trottel, sagten ihre Augen. Ich weiß, sagten meine roten Wangen. Ich glaube, das war der Augenblick, in dem sie Mitleid mit mir bekam. Aber als sie die Schlange von Hornochsen hinter mir sah – Seanie {11}Schnösel, der naive Timmy, der fette Rory Slattery und der Rest der Jungs, alle mit ihren dreckigen Gehaltsabrechnungen in der Hand –, bekam sie eher Mitleid mit sich selbst.

 

Triona tut so, als würde sie es mir nicht verübeln, dass ich mich habe zum Narren halten lassen. Na, warum hättest du das auch prüfen sollen, Schatz? Du warst ja nicht der Einzige. Er hat alle zum Narren gehalten. Meine liebste, liebste Triona, sie hat mit mir ganz schön herabgeheiratet. Sie hätte bei jedem von den klugen Jungs landen können, die das dicke Geld mit dem Boom gemacht haben: den Architekten, Anwälten, Auktionatoren. Die waren alle hinter ihr her. Aber sie wollte unbedingt mich, als hätte sie denen eins auswischen wollen. Eines Abends in der Stadt legte sie ihre Hand in meine, und damit hatte sich die Sache; sie ließ mich nie mehr los. Sie sah Dinge in mir, von denen ich nicht wusste, dass sie da waren. Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin, wirklich. Sie hat sogar meinen Vater erweicht. Wie hast du die denn rumgekriegt?, wollte er wissen. Die wird nicht bei dir bleiben. Die ist zu gut für dich. Du bist ihre wilde Phase, sagte er. Die machen alle Frauen durch. Tja, dachte ich, genau wie meine Mutter, nur dass die Phase bei ihr nicht vorbei war, bis sie starb, {12}verbogen und innerlich zerfressen, verbraucht, erschöpft, ausgebrannt vom Leben mit ihm.

Und jetzt kann ich nicht mal mehr die Einkäufe bezahlen. Verdammte Hacke. Ein paar Jahre lang bin ich ganz schön rumstolziert und hab mich für was Besonderes gehalten. Vorarbeiter war ich, mit ’nem Tausender pro Woche. Hatte ausgesorgt. Häuser würden immer gebaut werden müssen. Ich sah, wie unten im Dorf Babys im Kinderwagen herumgeschoben wurden, wie unser eigenes, und dachte: Super, unsere Arbeitsplätze sind gesichert, die werden auch alle irgendwann Häuser brauchen. Wir wussten, dass Pokey Burke ein Wichser war, aber das kümmerte uns nicht. War doch egal, was er für ein Typ war, solange die Bank ihm Geld gab, damit er immer mehr bauen konnte. Seit sie den Jungen von den Cunlif‌fes vor Jahren beerdigt hatten und sein altes Tantchen sich das Land unter den Nagel gerissen und unter den Bonzen...