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Socrates - Der friedvolle Krieger - Roman

Dan Millman

 

Verlag Ansata, 2009

ISBN 9783641012830 , 400 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR


 

PROLOG
Jede Reise hat eine geheime Bestimmung,
von welcher der Reisende selbst nichts weiß.
MARTIN BUBER
 
Ich habe Dimitri Sakoljew getötet.
Dieser düstere Gedanke tauchte wieder und wieder in Sergejs Kopf auf, während er bäuchlings auf einem moosbewachsenen Baumstamm lag und so schnell und leise wie möglich über den Kruglojesee paddelte, der fünfundzwanzig Kilometer nördlich von Moskau liegt. Sergej war aus der Newski-Kadettenanstalt und vor seiner Vergangenheit geflohen, aber der Tatsache, dass er Dimitri Sakoljew getötet hatte, konnte er nicht so leicht entfliehen.
Sergej versuchte, sich parallel zum Ufer zu halten. Ab und zu spähte er durch die Finsternis zu den bewaldeten Hügeln hinüber, die nur auftauchten, um gleich darauf wieder im dichten Nebel zu verschwinden. Die schwarze Oberfläche des Sees, die vom bleichen Licht des Mondes schwach erhellt wurde, wenn er durch die Wolken brach, glänzte bei jedem Eintauchen seiner Arme silbern auf. Die Wasserspritzer und die bittere Kälte lenkten Sergej einen Augenblick lang ab, bevor er wieder an Sakoljews Körper im Schlamm denken musste.
Sergej konnte seine Hände und Beine kaum noch fühlen. Er wusste, er würde bald an Land gehen müssen, weil der vollgesogene Baumstamm ihn nicht ewig tragen würde. Nur noch ein bisschen weiter, dachte er, nur noch einen Kilometer, dann werde ich an Land gehen. Die Flucht über das Wasser war sicher nicht die schnellste oder die sicherste Methode, aber sie besaß einen eindeutigen Vorteil: Auf dem Wasser hinterließ man keine Spuren.
Schließlich hielt er auf das Ufer zu, rollte vom Baumstamm herunter, stand einen Moment lang hüfttief im Wasser, bevor er durch den Schlamm und das Schilf zum Strand hinauf watete, um gleich darauf im dunklen Wald zu verschwinden.
Er war fünfzehn Jahre alt und er war ein Flüchtling.
Sergej liefen nicht nur wegen der Kälte eisige Schauer den Rücken hinunter, sondern auch, weil er ein Gefühl von Bestimmung hatte – als ob jedes Ereignis seines bisherigen Lebens ihn zu diesem Punkt geführt hätte. Während er sich seinen Weg durch das Unterholz zwischen den Kiefern und Birken bahnte, dachte er daran, was ihm sein Großvater erzählt hatte – und wie alles angefangen hatte.
 
Im Herbst des Jahres 1872 wehte ein eisiger Wind von der moosbewachsenen sibirischen Tundra über die Ural-Berge und die Taiga zu den riesigen Kiefern- und Birkenwäldern, die Sankt Petersburg umgaben – das Kronjuwel von Mütterchen Russland.
Vor dem Winterpalast patrouillierte die Leibgarde von Alexander II. in ihren Wollmützen und schweren Wollmänteln. Die nahe gelegene Newa war nur eine der neunzig Wasserstraßen, die unter achthundert Brücken hindurchflossen, vorbei an Häuserreihen und Kirchen, auf deren Turmspitzen Kreuze funkelten. Nicht weit vom Fluss befanden sich die Parkanlagen, in denen – beleuchtet von den Straßenlaternen, die in der beginnenden Abenddämmerung gerade angezündet worden waren – die Statuen von Peter dem Großen, Katharina der Großen und von Puschkin standen – Zar, Zarin und literarisches Genie.
Der beißende Wind riss die letzten gelben Blätter von den dürren Ästen, spielte mit den Wollröcken der Schulmädchen und zerwühlte das Haar zweier Jungen, die im Hof eines zweistöckigen Hauses miteinander rangen. Eine plötzliche Böe blies die Gardinen im Fenster des zweiten Stockes in ein Schlafzimmer hinein, in dem Natalja Iwanowa, die Frau des Sergej Iwanow stand. Sie zog ihren Schal enger um die Schultern und lächelte in sich hinein, als sie auf den Hof hinuntersah, auf dem ihr kleiner Sohn Sascha mit seinem Freund Anatoli spielte.
Anatoli rannte auf Sascha zu und versuchte, ihn zu Fall zu bringen. Im letzten Moment machte Sascha einen Schritt zur Seite und warf Anatoli über die Hüfte, so wie es ihn sein Vater gelehrt hatte. Vor lauter Stolz krähte er dabei wie ein Hahn. Was für ein starker Junge er doch ist, dachte Natalja. Er kommt ganz nach seinem Vater. Sie bewunderte seine Energie umso mehr, als es ihr im Moment völlig daran fehlte. Seit in ihrem Bauch ihr zweites Kind wuchs, war sie ständig erschöpft, was allerdings auch keine Überraschung war. Ihre Nachbarin Jana Waslakowa, die zugleich auch ihre Hebamme war, hatte sie gewarnt: »Eine so zerbrechliche Frau wie du sollte nicht noch ein Kind haben.« Und doch trug sie wieder ein neues Leben unter dem Herzen und betete täglich, dass ihr die Kraft gegeben werden möge, das Kind auszutragen. Und das trotz der immer häufiger auftretenden Ohnmachtsanfälle und der bleiernen Erschöpfung, die sich in ihren Knochen ausgebreitet hatte.
Natalja zog den Schal fester um die Schultern, weil ihr kalt war. Sie fragte sich, wie kleine Jungen es fertig bringen, an einem so kalten Abend wie diesem draußen zu spielen. Sie lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Sascha! Anatoli! Es wird bald regnen. Kommt jetzt rein!« Ihre müde Stimme war gegen den Wind kaum zu hören. Außerdem hörten die Ohren sechsjähriger Jungen sowieso nur das, was sie hören wollten.
Mit einem Seufzer setzte sich Natalja wieder auf das Sofa, auf dem sie sich mit Jana unterhalten hatte, und machte sich daran, ihr langes schwarzes Haar zu bürsten. Schon bald würde Sergej heimkommen. Für ihn wollte sie so schön wie möglich aussehen.
In diesem Moment sagte Jana: »Ruh du dich aus, Natalja. Ich gehe nach unten und hole die Jungen rein.« Während ihre Freundin nach unten ging, hörte Natalja das Geräusch der Regentropfen auf dem Dach und dann direkt über ihr etwas noch anderes: das Trippeln kleiner Füße und verschwörerisches Kichern. Sie sind wieder mal am Spalier hochgeklettert, dachte sie. In einer Mischung aus Zorn und Angst, die alle Mütter von kleinen Jungen kennen, die sich für unverwundbar halten, rief sie nach oben: »Ihr kommt auf der Stelle vom Dach herunter! Und seid vorsichtig!«
Als Antwort hörte sie nur Gelächter und andere Geräusche, die darauf schließen ließen, dass die Jungen oben miteinander rangen.
»Sascha, wenn du nicht sofort runterkommst, sag ich es deinem Vater!«
»Ja, Mamutschka«, rief Sascha mit zuckersüßer Stimme. »Bitte sag Vater nichts.« Darauf folgte weiteres Lachen.
Als Natalja sich umdrehte, um die Bürste wegzulegen, verwandelte sich das Gelächter der Jungen plötzlich in angsterfülltes Kreischen. Einen Augenblick später war es totenstill.
Als Natalja zum Fenster rannte und hinaussah, sah sie zu ihrem Entsetzen dort unten zwei kleine Körper liegen. Sie war wie gelähmt und konnte nur starren und starren. Dann begann Anatoli, sich zu bewegen und zu weinen. Aber Sascha lag mit verdrehten Gliedmaßen weiterhin still da. Jana, die gerade aus der Haustür trat, rannte zu den Jungen hinüber.
Nur einen Wimpernschlag später war Natalja ebenfalls draußen und kniete im Schlamm. Sie spürte weder den Regen noch ihren schweren Bauch. Sie hielt den leblosen Körper ihres Sohnes in den Armen und während ihr Tränen und Regentropfen übers Gesicht strömten, schaukelte sie im ewigen Rhythmus mütterlichen Schmerzes vor und zurück.
Plötzlich riss sie ein stechender Schmerz im Unterleib zurück in die Gegenwart und sie wurde sich bewusst, dass Jana und ein Mann neben ihr standen und zu ihr sprachen. Während Jana ihr auf die Beine half, versuchte der Mann, ihr die Last des toten Sohnes abzunehmen. Natalja wehrte sich zuerst, aber als der schrille Schrei eines Jungen ertönte, erstarrte sie. Voller Hoffnung schaute sie ihren Sascha an, aber es war Anatoli, der geschrien hatte, weil sein Bein gebrochen war und er nach dem ersten Schock nun den Schmerz zu spüren begann.
Jana Waslakowa half Natalja gerade ins Haus, als der Schmerz sie wieder überkam. Sie krümmte sich und brach noch im Hausflur zusammen. »Wo ist mein Sascha?«, fragte sie mit müder Stimme. »Er soll hereinkommen, es ist doch so kalt, so furchtbar kalt.«
Als sie wieder zu sich kam, lag sie umsorgt von der Hebamme im Bett. Und plötzlich kam ihr der Gedanke: Das Baby kommt … Es ist viel zu früh … Zwei Monate zu früh. Oder sind inzwischen Wochen vergangen? Wo bin ich nur? Wo ist Sergej? Er wird mir sagen, dass dies alles nur ein böser Traum ist. Sergej wird mich anlächeln, über mein Haar streichen und mir sagen, dass es Sascha gut geht … dass alles gut ist. Aber der Schmerz! Irgendetwas stimmt nicht. Wo ist Sascha? Wo ist Sergej?
Als Sergej Iwanow nach Hause kam, standen die Nachbarn mit bedrückten Mienen im Regen im Hof. Als er in ihre Gesichter sah, stürmte er voller böser Vorahnungen ins Haus. Jana erzählte ihm, was geschehen war: Sascha war tot, vom Dach gefallen. Bei Natalja hatten die Wehen eingesetzt, die Blutung konnte nicht gestillt werden, man konnte nichts tun. Beide waren...