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Schlaflied - Kriminalroman

Cilla Börjlind, Rolf Börjlind

 

Verlag btb, 2017

ISBN 9783641201333 , 576 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

10,99 EUR


 

Beim letzten Mal stand sie zu nah am Geschehen und bekam ein paar hässliche Blutspritzer auf ihre weiße Leinenhose. Deshalb suchte sie sich in dieser Nacht einen Platz weiter hinten. Die Düfte fremder Pflanzen und Gewürze hingen schwer in der Luft, aber da war noch ein anderer Geruch, oder besser gesagt: Gerüche. Blut, Terpentin, Zigarettenrauch, säuerlicher Schweiß. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt. Der Raum war klein, und die einzige Luftzufuhr, die es gab, war die Öffnung mit der schmalen Holztür zum Hof, doch sie war geschlossen. Fast fünfzig Personen hatten sich in den engen Raum gedrängt und um die Arena verteilt, und jede einzelne verbreitete ihre persönliche Duftnote. Kein Wunder, dass die Luft so schlecht war.

Sie selbst roch leicht nach Kernseife.

Die Männer in dem Raum, außer ihr waren nur Männer anwesend, trugen alle fast identische Klamotten. Schmutzig gelbe Hosen und ein weißes, dünnes Hemd, um den Hals der Älteren das eine oder andere rotblaue Tuch. Manche hatten weiße, schmalkrempige Hüte auf, andere hielten Flaschen in den Händen, aus denen sie tranken. Braunen, selbst gebrannten Schnaps. Sie hatte bereits höflich mehrere Trinkangebote der Männer abgelehnt, die in ihrer Nähe standen. Jedes Mal hatten sie ihr zugeblinzelt, sie angelacht und ihre kaputten Zähne entblößt.

Und wieder einen Schluck getrunken.

Sie streckte sich ein wenig. Schon so war sie größer als die meisten im Raum, aber wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie leicht über alle anderen hinwegschauen. Und jetzt sah sie den ersten Kampfhahn. Er hieß Black Killer, laut dem handgeschriebenen Schild, das der Besitzer hochhielt. Ein großer, schwarzer Hahn mit stolzem Kamm und kräftigem roten Einschlag im Federkleid. Er wurde in die runde Arena gesetzt, begleitet von einer Kakophonie an Stimmen, in Sprachen, die zu verstehen sie inzwischen gelernt hatte. Natürlich Tagalog, aber auch so melodiöse Sprachen wie Cebuano und Bikolano.

Jetzt wurde der zweite Hahn auf den Boden gesetzt. Red Alert. Genauso groß, genauso selbstsicher wie der andere, genauso bunt und kampfbereit. Die langen, spitz geschliffenen Sporne am Sprunggelenk blitzten in dem gelben Licht auf. Sie sah, wie rund um die Arena Scheine die Hände wechselten, und wusste, einige würden am Ende dieser Nacht nicht mehr ganz so arm sein und andere würden ihren Kummer in braunem Schnaps ertränken.

Sie selbst hatte auf Red Alert gesetzt.

Eine falsche Entscheidung.

Die beiden Hähne wurden freigelassen, sie umkreisten einander ein paar Sekunden lang, schätzten die Situation ein, hielten Abstand, spreizten ihr Federkleid, um zu imponieren oder abzuschrecken, und dann kam plötzlich der Angriff. Von beiden gleichzeitig. Mit einem Mal war nicht mehr zu unterscheiden, welcher Hahn welcher war, ein stürmisch wirbelnder Federball, verursacht durch schwirrende Sporne, rollte über den Boden und füllte die Luft mit abgerissenen Flügelfedern und Blutspritzern, während das Publikum johlte.

Und dann war es vorbei.

Red Alert lag dicht an der niedrigen Holzkante der Arena auf dem Rücken, der zerfetzte Hahnenkörper zitterte, und eines der Beine schlug gegen die Erde. Der Raum war erfüllt von heiseren Schreien. Was davon Freudenschreie waren und was heftige Flüche, war für sie nicht herauszuhören. Aber an den grinsenden Gesichtern einiger der Männer konnte sie ablesen, auf welchen Hahn sie gesetzt hatten.

Nachdem die kleine Wettkampfarena von einem Sieger und einem Toten geräumt und das Blut mit Kies bedeckt worden war, konnte der nächste Kampf beginnen. An dem hatte sie kein Interesse mehr. Sie war gekommen, um auf Red Alert zu setzen, und sie hatte verloren.

Durch die schmale Holztür ging sie hinaus ins Dunkel. Vor ihr lag eine schmale Gasse mit Lehmboden, die in eine größere Straße mündete, die wiederum zum Muelle Pier in Puerto Galera führte, einen der vielen bunten Küstenorte von Mindoro. Sie holte ein Päckchen Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Hosentasche.

»Cosmina.«

Sie drehte sich um. Ein zerfurchter, braun gebrannter Mann mit weißem Hut war ihr gefolgt. In der Hand hielt er den toten Hahn. Er gehörte ihm, Ferdinand. Er war einer der wenigen Einheimischen, die sie hier näher kennengelernt hatte. Das war auch der Grund, warum sie auf seinen Hahn gesetzt hatte.

»Kommst du mit und isst mit uns?«, fragte er.

Cosmina wusste, es war eine Ehre, eingeladen zu werden. Der tote Hahn sollte zubereitet und verzehrt werden, und nur Auserwählte durften an diesem Essen teilnehmen. Die Mahlzeit des Verlierers, wie sie hier genannt wurde. Aber sie mochte um diese Tageszeit nichts essen. Und schon gar nicht ein Tier, das vor ihren Augen gerade eben von einem anderen Tier zerfetzt worden war.

»Danke, Ferdinand, aber ich muss los. Grüße an deine Familie.«

Ferdinand verneigte sich leicht und schaute Cosmina offen an. Die große dunkelhaarige Frau ist sehr schön, hatte seine Frau gesagt, und er war ihrer Meinung.

»Es tut mir leid, dass Red Alert verloren hat«, sagte er.

»Mir auch. Es war ein schöner Hahn. Aber dein Verlust ist größer als meiner.«

Ferdinand verneigte sich noch einmal und ging dann langsam in die Dunkelheit hinein. Sie schaute seinem krummen Rücken hinterher und dem toten Hahn, der in seiner Hand baumelte. Vielleicht hätte ich die Einladung doch annehmen sollen?, überlegte sie. Ihm zuliebe. Sie zündete sich eine Zigarette an und ging in die andere Richtung, um ihr dreirädriges Motorrad zu holen. Sie spürte den lauen Wind vom Meer in die Gasse hineinziehen. Er brachte ein wenig Abkühlung mit sich. Die dünne blaue Bluse klebte ihr am Körper, die Feuchtigkeit und die drückende Hitze waren selbst jetzt, mitten in der Nacht, beschwerlich.

Hahnenkämpfe? Offiziell waren sie verboten, aber die Polizei duldete sie aus einem einzigen Grund: Sie ließ sich nicht gern in den schmalen Gassen von Puerto Galera blicken. Nicht so spät am Abend. Zu dieser Zeit blieben die Polizeibeamten lieber daheim, erschöpft in den Armen ihrer eigenen Frau oder der eines anderen. Das wussten alle. Deshalb fanden die Kämpfe an einigen Nächten im Monat statt.

So wie in dieser.

Sie ging zu ihrem dreirädrigen Bike und startete den Motor. Sie liebte dieses Fahrzeug. Es war zu allen Seiten hin offen und hatte ein Plastikdach, das gegen den Regen schützte, der ein paar Mal am Tag fiel. Und beim Fahren war es angenehm kühl. Sie legte einen Gang ein und wollte gerade auf die Gasse rollen, als ein Mann ein Stück vor ihr auf den Weg trat.

»Hei! Nimmst du mich mit?«

Cosmina sah sofort, dass er nicht hier aus der Gegend war. Nicht einmal ein Philippiner. Dieser Mann war mindestens genauso groß wie sie, mit kurzen Haaren, breitschultrig, in einer hübschen grauen Jacke.

»Und wohin?«

»Zu irgendeiner Bar, die nachts offen hat.«

Der Sitz des Fahrzeugs war breit genug für mindestens drei Personen, Platzmangel war also nicht der Grund, warum sie zögerte. Eher lag es wohl am Zeitpunkt und Ort, mitten in der Nacht in einer schlecht beleuchteten Gasse. Wer fährt da als Anhalter mit? Sie nahm einen Zug von ihrer Zigarette und schaute den Mann an, schaute hinter ihn, um zu sehen, ob dort noch andere Männer standen, aber da gab es nur die Dunkelheit. Sie stieß den Rauch aus und trat die Kippe mit dem Fuß auf dem Lehm aus.

»Dann spring auf.«

Der Mann stieg aufs Rad und setzte sich, rutschte aber an den Rand und hielt einen halben Meter Abstand zu ihr. Wofür sie dankbar war. Sie fuhr die Gasse hinunter zu der größeren Straße, dort hielt sie an. Ein paar bunte Taxis fuhren vorbei.

»Zu welcher Bar willst du denn?«, fragte sie. »Es gibt welche links oder rechts.«

»Kannst du eine empfehlen?«

Cosmina war keine große Kneipengängerin. Wenn sie mal ausging, dann in der Regel immer in denselben Laden, eine Kombination aus Bar und Restaurant an der Küstenstraße, nur einen Kilometer von ihrem Haus entfernt. Eine sympathische Location mit freundlichem Personal. Selten tauchten neben den Leuten aus dem Viertel Fremde dort auf. Die Regale hinterm Tresen waren genauso gut gefüllt wie die in den schicken Bars in der Nähe der Hotels, die weiter zu den Stränden hin lagen, aber hier war es deutlich billiger.

»Es gibt eine gute Bar im Norden, an der Straße«, sagte sie. »Dahin fahre ich sowieso.«

»Okay.«

Cosmina bog auf die große Straße ein und gab Gas. Sie spürte, wie der Meereswind ihr langes Haar flattern ließ und das Gesicht kühlte. Nur wenige Autos waren unterwegs, fast keine Radfahrer. Sie hatte die Straße für sich. Als sie das Zentrum ein Stück hinter sich gelassen hatte, endete die Straßenbeleuchtung, und das einsame Licht ihres Motorrads musste den Weg in der Dunkelheit weisen. Ab und zu sprang ein Hund über die Straße und zwang sie zu bremsen, aber das war sie gewohnt. Die Gegend wimmelte nur so von herrenlosen Hunden und Katzen. Links von ihr lag das Ufer, dahinter das Meer mit einzelnen Lichtern nachtfischender Boote. Sie huschten an kleinen Menschengruppen vorbei, die am Strand um Lagerfeuer saßen. Die meisten von ihnen wohnten hier, zwischen den Palmen ein paar Meter vom Meeresufer entfernt, unter provisorischen Wellblechdächern oder Planen. Rechts standen Holzhäuser eng nebeneinander, niedrige Hütten in kräftigen Farben. In ihnen wohnten die etwas Bessergestellten dieser Gegend, die einen eigenen Stand hatten, an dem sie tagsüber den nächtlichen Fang verkauften oder die morgendliche Ernte von Kräutern und Gemüse.

»Ich heiße Cosmina«, sagte sie, nachdem sie schon eine...