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Nachtblau - Ein historischer Roman

Simone van der Vlugt

 

Verlag HarperCollins, 2017

ISBN 9783959676670 , 352 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz DRM

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8,99 EUR


 

1

De Rijp, März 1654

Eine Woche nach dem Begräbnis verspüre ich noch immer vor allem Erleichterung. Ich weiß, ich sollte trauern, aber es ist mir unmöglich.

Mit verschränkten Armen stehe ich an der Tür, deren oberer Teil offen ist. Vor mir erstrecken sich Wiesen und Äcker, doch mein Blick ist nach innen gerichtet.

Im Nachhinein begreife ich nicht, was an jenem Abend vor etwas über Jahresfrist in mich gefahren war. Bis dahin war Govert für mich einfach nur ein Dorfbewohner gewesen, kein Mann, für den ich mich interessierte und der je meine Gedanken fesselte. Dabei war er keineswegs hässlich, auf eine bestimmte Weise sah er sogar gut aus. Das fiel mir beim Jahrmarkt auf, als er mich bei der Hand nahm und auf den Tanzboden führte. Zwar hatte ich Wein getrunken, aber nicht so viel, dass mir entgangen wäre, wie nah sein Körper dem meinen kam und wie schwer sein Atem ging.

Bei den Drehungen berührten sich unsere Hüften, und mit jedem Mal umfasste er mich fester. Es war ein erregendes Gefühl. Mir wurde klar, dass er in mich verliebt war. Mit einem Mal verstand ich, dass sein durchdringender Blick unter zusammengezogenen Brauen bei früheren Begegnungen nicht Missbilligung, sondern Begehren ausgedrückt hatte.

Schmeichelte mir seine Aufmerksamkeit? Hatte ich in der Hoffnung auf den einzig Wahren zu viele Verehrer abgewiesen und musste fürchten, als alte Jungfer zu enden? Oder war ich an jenem Abend ebenfalls verliebt?

Wie auch immer … Als er mich zwischen den anderen Tanzpaaren hindurch ins Freie führte, in einen stillen Winkel des Obstgartens, widersetzte ich mich nicht.

Govert freute sich, als ich ihm sagte, ich sei in anderen Umständen, und war sofort bereit, mich zu heiraten. Als gut gestellter Witwer, der auf die vierzig zuging, war er keine schlechte Partie – wenngleich nicht das, was mir vorgeschwebt hatte.

Außerdem blieb mir ja keine Wahl. Ein Moment der Unbesonnenheit, der Gefühlsverwirrung beim Jahrmarkt, und meine Zukunft war besiegelt. Vertan war die Möglichkeit, jemals aus dem Dorf fortzukommen und ein anderes Leben zu beginnen, verloren meine Träume.

Am schlimmsten war, dass ich hinterher nicht mehr sagen konnte, was ich damals in Govert gesehen hatte. Was auch immer es gewesen sein mochte, es hatte sich schon am Morgen darauf verflüchtigt.

Wir heirateten, und sechs Wochen später endete meine Schwangerschaft mit einer Frühgeburt. Das Kind – es war ein Junge gewesen – kam tot zur Welt. Das ist mittlerweile fast ein Jahr her.

Und nun liegt Govert unter der kalten dunklen Erde. Der einzige Spiegel im Hause hängt umgedreht an der Wand, die Fensterläden waren lange geschlossen. Heute habe ich sie wieder aufgemacht und genieße das einfallende Morgenlicht. In der Stube, wo sich noch vor Kurzem die Trauergäste drängten, ist es ungewohnt still.

Mein ganzes bisheriges Leben habe ich in De Rijp verbracht, und ich war froh, auf den Beistand meiner Familie sowie einiger Nachbarn und Bekannten zählen zu können. Nur meine Schwiegereltern haben sich nicht blicken lassen. Wahrscheinlich ärgert es sie, dass ich nach so kurzer Ehe Goverts gesamten Besitz erbe. Verständlich, aber so ist es nun einmal. Und das Erbe habe ich, weiß Gott, verdient.

Ich drehe mich um und lasse den Blick durch den Raum schweifen, vom runden Tisch am Fenster zu den Schränken und Kommoden, die ich selbst bemalt habe. Das Sonnenlicht zeichnet ein Muster auf den Steinboden und bringt Wärme ins Haus, ein wenig nur, denn es ist erst Anfang März. Der Rauch von der Feuerstelle zieht an den Balken vorbei, an denen Würste und Speckseiten hängen, und steigt dann empor bis zum Boden, wo noch einiges an Wintervorräten lagert.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, allein im Haus zu sein, aber viel Zeit, darüber zu sinnieren, habe ich nicht. Die Arbeit ruft, jetzt, da Govert nicht mehr ist, umso dringender.

Auch wenn ich eine Magd und einen Knecht beschäftige, bleibt noch genug Arbeit für mich. Alle Tage verlaufen gleich: Ich melke die Kühe, füttere die Schweine und die Hühner, verrichte Gartenarbeit und stelle Butter und Käse her. Die wenigen Mußestunden verbringe ich mit Flicken, Spinnen und Weben, und hin und wieder male ich.

Wenn ich zufällig mein eigenes Spiegelbild in einem glänzenden Kupferkessel erblicke, kommt es mir vor, als sähe ich das Gesicht meiner Mutter. Ich trage das Haar – genau wie sie – geflochten und züchtig unter einer weißen Haube verborgen. Sie ist immerzu tätig, immerzu müde. Obwohl ich erst fünfundzwanzig bin, komme ich mir ebenso alt vor wie sie.

Eine Weile noch, denke ich auf dem Weg in den Stall, die Trauerzeit dauert nur sechs Wochen, das werde ich schon überstehen.

Jacob, der Knecht, hat bereits mit dem Melken begonnen. Er grüßt mich, indem er leicht das Kinn hebt. Und ich nicke ihm zu.

„Wahrscheinlich kann ich bei Abram Groen anfangen“, sagt er, als ich auf dem Melkschemel sitze.

„Das ist gut.“

„Nur Jannetge hat noch keine neue Arbeit.“

„Das wird schon. Wenn nicht hier im Dorf, dann bestimmt in Graft.“

Eine Zeit lang arbeiten wir schweigend. Meine Hände bewegen sich flink, die Milch schäumt im Eimer.

„Wann gehen Sie fort?“, fragt Jacob schließlich.

„Sobald alles verkauft ist. In Kürze findet die Versteigerung statt.“

Er nickt. „Jannetge hätte gern das kleine Holzfass. Damit sie selber buttern kann.“

„Tut mir leid, das habe ich schon meiner Mutter versprochen.“

„Schade.“ Jacob zieht den vollen Eimer unter der Kuh hervor und richtet sich auf. Unschlüssig steht er da, er scheint noch etwas sagen zu wollen.

„Da wär noch was … wegen dem Bauer …“

„Was denn?“

„Sein Bruder verbreitet Gerüchte über Sie.“

Ich höre auf zu melken. „Was für Gerüchte?“

Er zögert.

„Nun red schon, Jacob!“ Mein Tonfall ist ungeduldig und schärfer als beabsichtigt.

„Ach, das wissen Sie doch selber …“ Er dreht sich um und geht aus dem Stall.

Gestern habe ich aus Buttermilch Quark gemacht. Heute, am Mittagstisch, bestreiche ich eine Scheibe Roggenbrot damit. Jacob und Jannetge sitzen mir gegenüber. Keiner sagt etwas, alle drei hängen wir unseren Gedanken nach.

Am Nachmittag überlasse ich den beiden die Arbeit, schlüpfe in meine Überschuhe und mache mich auf den Weg zu meinen Eltern. Mein Hof liegt in einer feuchten Niederung, der meiner Eltern am anderen Ende des Dorfs, und der kürzeste Weg führt mitten durch den Ort. Ich gehe die Oosteinde und dann die Rechtestraat entlang, wo statt bescheidener Katen stattliche grün und rot gestrichene Häuser stehen. Weiter zur Dorfmitte hin folgen ein paar hohe Steinhäuser mit Treppengiebeln, die sich ausnehmen wie aus der Stadt hierher versetzt.

Unterwegs nicke ich Bekannten zu, die den Gruß zögerlich erwidern.

Weichen sie mir aus? Starren sie mich an?

Meine Vermutung bestätigt sich, als ich bei der Stadtwaage ankomme, wo rege Betriebsamkeit herrscht. Man wirft mir scheele Blicke zu und fängt an zu tuscheln, kaum dass ich vorbei bin. Wenige nur erkundigen sich nach meinem Ergehen oder fragen, ob ich denn tatsächlich fortwolle.

In De Rijp pflegt man den Heimatstolz, das ist seit jeher so. Fortgehen ist etwas Unerhörtes, grenzt beinahe an Verrat. Aber weil ich schon immer als aus der Art geschlagen gegolten habe, dürfte mein Vorhaben niemanden sonderlich wundern.

„Die Kommode, die du so schön angemalt hast, gibst du wohl nicht her, oder?“ Die Aufkäuferin Sybrigh sieht mich hoffnungsvoll an. „Ansonsten würd ich die nämlich gern nehmen.“

„Die Versteigerung ist kommende Woche“, sage ich unverbindlich und lächle ihr freundlich zu, bevor ich weitergehe.

Durch die Kerkstraat gelange ich zum Dorfrand und sehe in der Ferne den elterlichen Bauernhof. Auf dem vom Regen aufgeweichten Feldweg beschleunige ich den Schritt.

„Mart war gerade hier.“ Meine Mutter steht bei der Pumpe und spült die Milchkannen aus. Im harten Winterlicht wirkt ihr Gesicht alt und verhärmt, und beim Aufrichten fasst sie sich an den schmerzenden Rücken. „Er wollte mit dir reden, hat aber so rumgeschrien, dass ich ihn fortgejagt habe.“

Ich greife nach einer Milchkanne und stelle sie unter die Pumpe.

„Er hat gehört, dass du fortwillst, Catrijn. Furchtbar zornig war er deswegen.“

„Warum? Das ist doch meine Angelegenheit.“

„Schon, aber ausgerechnet jetzt, so kurz nach dem Tod deines Mannes … Die Leute meinen, das schickt sich nicht. Und was willst du überhaupt in Alkmaar? Du hast geerbt und könntest dich nach einer Weile neu verheiraten. Wenn du den Gerrit nehmen würdest und ihr euren Besitz zusammenwerft …“

„Ich will aber in die Stadt“, unterbreche ich sie.

„Und dort im Haushalt arbeiten, wo du doch hier deine Freiheit hast!“

Ich seufze. „Wir haben schon so oft darüber geredet, Mutter. Ich habe nicht vor, auf Dauer im Haushalt zu arbeiten. Ich will sparen und mir ein eigenes Leben aufbauen.“

„Ja, in die Stadt hat es dich seit jeher gezogen. Schon als kleines Mädchen warst du immer gern dabei, wenn der Käse auf den Markt gebracht wurde. Von deinen Geschwistern hätte keins vier Stunden Weg hin und zurück auf sich genommen, bloß um ein Weilchen in der Stadt zu sein.“

„Stimmt. Und jedes Mal habe ich geweint, wenn es wieder zurückging, weil ich so gern länger geblieben wäre.“

...