dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Das Herz des Verräters - Die Chroniken der Verbliebenen. Band 2

Mary E. Pearson

 

Verlag Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2017

ISBN 9783732540808 , 527 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

9,99 EUR

Für Firmen: Nutzung über Internet und Intranet (ab 2 Exemplaren) freigegeben

Derzeit können über den Shop maximal 500 Exemplare bestellt werden. Benötigen Sie mehr Exemplare, nehmen Sie bitte Kontakt mit uns auf.


 

ICH SPRANG AUF DIE FÜSSE und starrte in die Schatten, um herauszufinden, woher das Geräusch kam.

»Hier.«

Ich wirbelte herum.

Umrisse nahmen in einem schmalen Lichtstreif Gestalt an, als jemand nach vorn in den sanften Schein trat.

Eine dunkle Strähne. Ein Wangenknochen. Seine Lippen.

Ich konnte mich nicht bewegen. Ich starrte ihn an – alles, was ich je gewollt hatte, und alles, wovor ich je davongelaufen war, war mit mir im selben Gefängnis eingesperrt.

»Prinz Rafferty«, flüsterte ich endlich. Es war nur ein Name, aber sein Klang fühlte sich hart, fremd und widerwärtig in meinem Mund an. Prinz Jaxon Tyrus Rafferty.

Er schüttelte den Kopf. »Lia …«

Seine Stimme durchfuhr mich wie ein Erdbeben. Alles, woran ich mich Tausende Meilen lang geklammert hatte, geriet in Unordnung. All die Wochen. Tage. Er. Ein Landarbeiter, der sich nun als Prinz entpuppt hatte – und als listiger Lügner. Ich konnte all das in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht erfassen. Meine Gedanken waren Wasser, das mir durch die Finger rann.

Er trat noch einen Schritt vor, wobei der Lichtschein auf seine Schultern glitt, doch ich hatte bereits sein Gesicht gesehen, seine Schuldgefühle darin gelesen. »Lia, ich weiß, was du jetzt denkst.«

»Nein, Prinz Rafferty. Du hast keine Vorstellung von dem, was ich denke. Ich bin mir ja nicht einmal selbst sicher, was ich denke.« Alles, was ich wusste, war, dass mein Blut selbst jetzt, da ich vor Zweifeln erschauerte, heiß wurde und bei jedem Wort und Blick von ihm in Wallung geriet; dasselbe Gefühl wie damals, als wir noch in Terravin waren, flatterte in meinem Bauch, als ob sich nichts verändert hätte.

Er machte einen Schritt nach vorn, und zwischen uns war plötzlich kein Raum mehr. Ich spürte die Hitze seiner Brust. Seine starken Arme legten sich um mich; seine Lippen waren warm und weich und genauso süß, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich saugte ihn in mich auf, erleichtert, dankbar – wütend. Die Lippen eines Landarbeiters, die Lippen eines Prinzen – die Lippen eines Fremden. Die einzige Wahrheit, die zu wissen ich geglaubt hatte, war dahin.

Ich drängte mich an ihn und sagte mir, dass ein paar Lügen im Vergleich zu allem anderen keine Rolle spielten. Er hatte sein Leben für mich aufs Spiel gesetzt, indem er hierhergekommen war. Er war noch immer in schrecklicher Gefahr. Vielleicht würde keiner von uns beiden die Nacht überleben. Aber eines stand zwischen uns: Er hatte gelogen. Er hatte mich manipuliert. Zu welchem Zweck? Welches Spiel spielte er? War er wegen mir oder Prinzessin Arabella hier? Ich schob ihn weg. Sah ihn an. Holte aus. Das harte Klatschen meiner Hand auf seinem Gesicht hallte durch die Zelle.

Er rieb sich die Wange und drehte den Kopf zur Seite. »Ich muss zugeben, dass das nicht ganz die Begrüßung war, die ich mir vorgestellt hatte, nachdem ich dir über den ganzen Kontinent nachgejagt bin. Können wir vielleicht zu dem Teil zurückkehren, wo wir uns küssen?«

»Du hast mich angelogen.«

Ich sah, wie er die Wirbelsäule aufrichtete. Die Haltung eines Prinzen; ganz die Person, die er wirklich war. »Ich meine, mich zu erinnern, dass das hier auf Gegenseitigkeit beruht.«

»Aber du wusstest die ganze Zeit, wer ich bin.«

»Lia …«

»Rafe, das mag nicht wichtig für dich sein, aber für mich ist es das sehr wohl. Ich bin aus Civica geflohen, weil ich einmal im Leben dafür geliebt werden wollte, wer ich bin – nicht dafür, was ich bin, und nicht, weil ein Stück Papier es befiehlt. Ich bin am Ende des heutigen Tages vielleicht tot, aber mit meinem letzten Atemzug muss ich es wissen. Warum bist du hergekommen?«

Sein bestürzter Gesichtsausdruck wurde irritiert. »Ist das nicht offensichtlich?«

»Nein!«, sagte ich. »Wenn ich wirklich nur ein Schankmädchen wäre, wärest du mir trotzdem gefolgt? Welchen Wert habe ich in Wahrheit für dich? Hättest du mir auch nur einen zweiten Blick geschenkt, wenn du nicht gewusst hättest, dass ich Prinzessin Arabella bin?«

»Lia, das ist eine Frage, die ich unmöglich beantworten kann. Ich bin nur nach Terravin gereist, weil …«

»Weil ich eine einzige politische Peinlichkeit war? Eine Provokation? Weil ich eine Kuriosität bin?«

»Ja!«, blaffte er. »Genau das warst du! Eine Provokation und eine Peinlichkeit! Zuerst. Aber dann …«

»Was, wenn du Prinzessin Arabella niemals gefunden hättest? Was, wenn da nur ein Schankmädchen namens Lia gewesen wäre?«

»Dann wäre ich jetzt nicht hier. Ich wäre in Terravin und würde das nervtötendste Mädchen küssen, das ich je zu Gesicht bekommen habe, und nicht einmal zwei Königreiche könnten mich von ihr trennen.« Er trat erneut näher und nahm zögernd mein Gesicht in seine Hände. »Aber Tatsache ist: Ich bin um deinetwillen gekommen, Lia. Unabhängig davon, wer oder was du bist, und es kümmert mich nicht, welche Fehler ich gemacht habe. Oder du. Ich würde jeden einzelnen davon noch einmal machen, wenn das die einzige Möglichkeit wäre, mit dir zusammen zu sein.« Seine Augen sprühten vor Enttäuschung. »Ich will dir alles erklären. Ich will ein ganzes Leben mit dir verbringen und meine Lügen wiedergutmachen, aber jetzt haben wir keine Zeit dafür. Sie können jederzeit kommen und einen von uns holen. Wir müssen das jetzt hintanstellen. Wir brauchen einen Plan!«

Ein ganzes Leben. Meine Gedanken schmolzen dahin, und die Wärme der Worte ein ganzes Leben durchströmte mich. Die Hoffnungen und Träume, die ich unter Schmerzen weggeschoben hatte, stiegen wieder in mir auf. Natürlich, er hatte recht. Am wichtigsten war herauszufinden, was wir tun sollten. Ich hätte es nicht ertragen, auch ihn sterben zu sehen. Der Tod von Walther und Greta und einem ganzen Trupp Männer war bereits zu viel.

»Es kommt Hilfe«, sagte er, in Gedanken bereits einen Schritt weiter. »Wir müssen nur durchhalten, bis sie hier sind.« Er war zuversichtlich, seiner selbst sicher, wie es vermutlich Prinzenart war. Oder Soldatenart. Wie hatte ich diese Seite vorher an ihm übersehen können? Seine Truppen kamen.

»Wie viele?«, fragte ich.

»Vier.«

Ich fühlte, wie meine Hoffnung wuchs. »Viertausend?«

Er wirkte ernüchtert. »Nein. Vier.«

»Du meinst vierhundert?«

Er schüttelte den Kopf.

»Vier? Nicht mehr?«, wiederholte ich.

»Lia, ich weiß, wie das klingt, aber vertrau mir, diese vier – sie sind die Besten.«

Meine Hoffnung schwand so rasch, wie sie aufgekeimt war. Vierhundert Soldaten konnten uns nicht befreien. Was sollten da vier schon ausrichten? Ich war nicht in der Lage, meine Skepsis zu verbergen, und ein schwaches Lachen entrang sich meiner Kehle. Ich ging in dem kleinen Raum im Kreis herum und schüttelte den Kopf. »Wir sitzen an diesem Ufer eines wilden Flusses in der Falle, bei Tausenden von Menschen, die uns hassen. Was können da vier Personen ausrichten?«

»Sechs«, verbesserte er mich. »Mit dir und mir sind wir zu sechst.« Er klang nicht gut, und als er auf mich zuging, zuckte er zusammen und griff sich an die Rippen.

»Was ist passiert?«, fragte ich. »Du bist verletzt.«

»Nur ein kleines Andenken von den Wachen. Sie haben nichts übrig für Schweine aus Dalbreck. Sie wollten sichergehen, dass ich das weiß. Mehrmals.« Er hielt sich die Seite und atmete vorsichtig ein. »Nur Prellungen. Mir geht’s gut.«

»Nein«, sagte ich. »Ganz offensichtlich nicht.« Ich schob seine Hand fort und zog sein Hemd hoch. Selbst im Dämmerlicht konnte ich die blauen Flecken sehen, die seinen Brustkorb bedeckten. Ich korrigierte die Rechnung: fünf gegen Tausende. Ich zog den Stuhl heran und hieß ihn, sich zu setzen, dann riss ich Streifen von meinem ohnehin schon zerfetzten Hemd ab. Ich begann vorsichtig, seine Mitte mit den Binden zu umwickeln, um seine Bewegungen abzustützen. Ich fühlte mich an die Narben auf Kadens Rücken erinnert. Diese Menschen waren Wilde. »Du hättest nicht kommen dürfen, Rafe. Das hier ist mein Problem. Ich habe selbst dafür gesorgt, als ich …«

»Mir geht’s gut«, wiederholte er. »Hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich habe schon schlimmere Stürze von meinem Pferd erlebt, und das hier ist nichts im Vergleich zu dem, was du durchgemacht hast.« Er streckte den Arm aus und drückte meine Hand. »Es tut mir so leid, Lia. Sie haben mir von deinem Bruder erzählt.«

Ein bitterer Geschmack stieg in meiner Kehle auf. Es gab Dinge, von denen ich nie gedacht hätte, dass sie passieren würden, geschweige denn, dass ich sie würde mit ansehen müssen. Zuzusehen, wie mein Bruder vor meinen Augen niedergemetzelt wurde, war das Schlimmste von allem. Ich zog die Hand weg und wischte sie an meinem ramponierten Hemd ab. Es fühlte sich falsch an, Rafes Wärme an den Fingern zu spüren, wenn ich von Walther sprach, der kalt unter der Erde lag. »Du meinst, sie haben über meinen Bruder gelacht. Ich habe unterwegs mit angehört, wie sie sich fünf Tage lang diebisch darüber gefreut haben, wie leicht sie alle gefallen sind.«

»Sie sagten, du hast sie begraben. Alle.«

Ich stierte auf die schwachen Lichtstreifen, die durch die Ritzen hereindrangen, und versuchte, etwas anderes zu sehen als Walthers blicklose Augen, die in den Himmel starrten, und meine Finger, die sie zur letzten Ruhe schlossen. »Ich wünschte, du hättest ihn gekannt«, sagte ich tonlos. »Mein Bruder wäre eines...