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Shantaram

Gregory David Roberts

 

Verlag Goldmann, 2009

ISBN 9783641012175 , 1088 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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9,99 EUR

  • Millionär - Der Roman
    Die Feuchtwangers - Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis
    Der Täuscher - Ein Lincoln-Rhyme-Thriller
    Kalte Zeiten
    Verdammnis - Roman
    Schrödingers Katze auf dem Mandelbrotbaum - Durch die Hintertür zur Wissenschaft
    Geheime Gärten - Die neue arabische Welt
    Die Geisha - Roman
 

 

Viel Zeit und viel Welt brauchte ich, um zu lernen, was ich weiß über die Liebe, über das Schicksal und über die Entscheidungen, die wir treffen, doch das Wesentliche verstand ich in einem einzigen Augenblick, als ich an eine Wand gekettet war und gefoltert wurde. Trotz der Schreie in meinem Kopf wurde mir plötzlich bewusst, dass ich, gefesselt, blutend und hilflos, noch immer meine Freiheit besaß - die Freiheit, jene Männer, die mich quälten, zu hassen oder ihnen zu vergeben. Ich weiß, das klingt nicht großartig. Doch wenn Ketten ins Fleisch schneiden und man nichts anderes mehr hat, verheißt diese Freiheit ein ganzes Universum von Möglichkeiten. Ob man den Hass wählt oder die Vergebung, bestimmt die weitere Geschichte des eigenen Lebens.
In meinem Fall ist diese Geschichte lang und vielfältig. Ich war ein Revolutionär, der seine Ideale dem Heroin opferte, ein Philosoph, der seine Glaubwürdigkeit im Gefängnis einbüßte, ein Dichter, dem seine Seele im Hochsicherheitstrakt verloren ging. Als ich über die von zwei Wachtürmen flankierte Frontmauer aus diesem Gefängnis flüchtete, wurde ich zum meistgesuchten Mann meines Landes. Das Glück loh mit mir und begleitete mich quer durch die Welt nach Indien, wo ich mich der Mafia von Bombay anschloss. Ich verdiente mein Geld als Waffenschieber, Schmuggler und Fälscher. Ich wurde auf drei Kontinenten in Ketten gelegt, verprügelt, mit Messern traktiert und ausgehungert. Ich zog in den Krieg und geriet unter feindliches Feuer. Und ich überlebte, während andere Männer neben mir starben. Die meisten von ihnen waren bessere Menschen als ich, Männer, deren Leben versehentlich zertreten wurde, fortgeworfen im falschen Augenblick - aus Hass, Liebe oder Gleichgültigkeit. Ich begrub diese Männer - zu viele von ihnen -, und in meiner Trauer verwob ich ihre Geschichte und ihr Leben mit meinem eigenen.
Doch meine Geschichte beginnt nicht bei ihnen und auch nicht bei der Mafia; sie beginnt mit jenem ersten Tag in Bombay. Das Schicksal brachte mich dort ins Spiel. Das Glück teilte die Karten aus, die mich zu Karla Saaranen führten. Und dieses Blatt begann ich auszuspielen, vom ersten Moment an, als ich in ihre grünen Augen blickte. So beginnt diese Geschichte also wie alles andere - mit einer Frau, einer Stadt und ein klein wenig Glück.
Was ich zuerst bemerkte, an jenem ersten Tag in Bombay, war der besondere Geruch der Luft. Ich roch sie bereits, bevor ich Indien sah oder hörte, roch sie schon in dem Korridor, der das Flugzeug wie eine Nabelschnur mit dem Gebäude verband. Berauscht von der weiten Welt und meiner Flucht aus dem Gefängnis, fand ich den Geruch aufregend und wunderbar, doch ich konnte ihn nicht deuten. Heute weiß ich, dass es der süße, saftige Duft der Hoffnung ist, des Gegenteils von Hass; und es ist der säuerliche stickige Geruch der Gier, des Gegenteils von Liebe. Es ist der Geruch von Göttern, Dämonen, Weltreichen und Kulturen in ihrer Wiederauferstehung und ihrem Verfall. Es ist der blaue Hautgeruch des Meeres, allgegenwärtig in der Inselstadt, und der blutig-metallische Geruch von Maschinen. Die Luft riecht nach der Unruhe und dem Schlaf und dem Unrat von sechzig Millionen Tieren, von denen mehr als die Hälfte Menschen und Ratten sind. Sie riecht nach gebrochenen Herzen, dem Kampf ums Überleben und den entscheidenden Irrwegen und Lieben, aus denen unser Mut erwächst. Sie riecht nach zehntausend Restaurants, fünftausend Tempeln, Schreinen, Kirchen und Moscheen und nach hundert Basaren, in denen es nur Duftwasser, Gewürze, Räucherwerk und frische Blumen zu kaufen gibt. Karla nannte diesen Geruch einmal den übelsten Wohlgeruch der Welt, und damit hatte sie recht, so wie sie auf ihre Art immer recht hat. Und wenn ich heute nach Bombay zurückkehre, ist es dieser Geruch, vor allem anderen, der mich willkommen heißt und mir bedeutet, dass ich wieder zu Hause bin.
Dann erst bemerkte ich die Hitze. Ich stand in einer Schlange, der klimatisierten Flugzeugluft kaum fünf Minuten entwöhnt, und die Kleider klebten mir am Leib. Mein Herz hämmerte. Jeder Atemzug war ein zorniger kleiner Sieg. Bald wusste ich, dass der Dschungelschweiß nie versiegt, weil die Hitze, die Tag und Nacht die Stadt regiert, eine feuchte Hitze ist. Die erstickende Feuchtigkeit verwandelt uns alle in Bombay in Amphibien, die mit der Luft gleichzeitig auch Wasser atmen; man lernt in diesem Zustand zu leben und beginnt ihn zu mögen. Oder man verlässt Bombay.
Und dann waren da die Menschen. Assamesen, Jats und Punjabis; Menschen aus Rajasthan, Bengal und Tamil Nadu; aus Pushkar, Cochin und Konarak; Angehörige der Kriegerkaste, Brahmanen und Unberührbare; Hindus, Muslime, Christen, Buddhisten, Parsen, Jainas, Animisten; helle und dunkle Haut, grüne und goldbraune und schwarze Augen; jegliche Gesichtsform dieser verschwenderischen Vielfalt, dieser unvergleichlichen Schönheit, Indien.
All die Millionen Einwohner von Bombay, und noch ein weiterer. Die beiden besten Freunde des Schmugglers sind das Maultier und das Kamel. Maultiere transportieren heiße Ware durch die Grenzkontrolle. Kamele sind ahnungslose Touristen, die dem Schmuggler behilflich sind, über die Grenze zu kommen. Wenn sie mit falschen Papieren reisen, heften sich Schmuggler zur Tarnung an andere Reisende - die Kamele -, die sie dann durch Flughafen- oder Grenzkontrollen schleusen, ohne es zu ahnen.
Von alldem wusste ich damals nichts. Die Schmugglerkunst erlernte ich erst viele Jahre später. Bei dieser ersten Reise nach Indien folgte ich nur meinem Instinkt und schmuggelte nur eine einzige Ware: mein Selbst, meine zerbrechliche und gehetzte Freiheit. Ich hatte einen gefälschten neuseeländischen Pass bei mir, mit meinem Foto anstelle des Originals. Das Passbild hatte ich selbst ausgetauscht, und die Fälschung war alles andere als makellos. Bei einer Routinekontrolle kam ich wohl damit durch, aber wenn jemand Verdacht schöpfte und bei der neuseeländischen Hochkommission nachfragte, würde die Fälschung sofort auffliegen. Auf dem Flug von Auckland nach Indien streifte ich durch die Reihen und hielt Ausschau nach geeigneten Neuseeländern. Ich stieß auf eine kleine Gruppe Studenten, die bereits zum zweiten Mal auf den Subkontinent reisten. Ich drängte sie, mir von ihren Erfahrungen zu berichten und mir Reisetipps zu geben, und schloss mich ihnen an, als wir von
Bord gingen. So kam ich unbehindert durch die Flughafenkontrolle.