dummies
 

Suchen und Finden

Titel

Autor/Verlag

Inhaltsverzeichnis

Nur ebooks mit Firmenlizenz anzeigen:

 

Die lauschenden Wände

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607475 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

Geräte

7,99 EUR


 

{7}1


Von ihrem Ruheplätzchen in der Besenkammer aus hörte Consuela die beiden amerikanischen Damen von 404 diskutieren. Die Kammer war so schmal wie der Weg zum Himmel und roch nach Möbelpolitur und Chlor und nach Consuela selbst. Aber es war nicht die Unbequemlichkeit, die ihre Siesta störte; es war die Anstrengung, die es sie kostete, zu verstehen, worüber die Amerikanerinnen diskutierten. Geld? Liebe? Was war da noch, fragte sich Consuela und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken, mit einem der sauberen Handtücher, die sie genau um sechs Uhr in die Badezimmer hätte bringen sollen.

Es war jetzt sieben. Sie faltete das Handtuch wieder zusammen und legte es auf den Stapel zurück. Der Geschäftsführer war vielleicht ein wenig pingelig, was saubere Handtücher und genau eingehaltene Zeiten betraf, aber Consuela war es nicht. Ein paar Bazillen hatten noch niemandem geschadet, besonders wenn keiner wußte, daß sie da waren, und was war eine Stunde früher oder später angesichts der Ewigkeit?

Jeden Monat holte Señor Escamillo, der Geschäftsführer, die Hotelangestellten in einem der Bankettsäle zusammen und kläffte sie an wie ein nervöser Terrier.

»Jetzt hört mal her. Es hat Beschwerden gegeben. Ja, {8}Beschwerden. Also sind wir wieder einmal hier versammelt, und ich erkläre euch einmal mehr, daß die Amerikaner unsere besten Kunden sind. Wir müssen dafür sorgen, daß sie es bleiben. Gut. Was ist den Amerikanern am tiefsten verhaßt? Bazillen. Also gibt es bei uns keine Bazillen. Bei uns gibt es saubere Handtücher. Zweimal täglich saubere Handtücher, absolut bazillenfrei. Gut. Und jetzt das Wasser. Die Amerikaner werden nach dem Wasser fragen, und ihr werdet sagen, daß dieses Leitungswasser das reinste Wasser in ganz Mexico City ist. Gut. Irgendwelche Fragen?«

Consuela hatte eine Reihe von Fragen, etwa warum der Geschäftsführer in seinem Büro Wasser aus Flaschen benutzte, aber ihr Selbsterhaltungstrieb ließ sie schweigen. Sie brauchte den Job. Ihr Freund hatte ein Händchen dafür, auf der Rennbahn aufs falsche Pferd zu setzen, bei der Lotterie auf die falschen Nummern und in der quiniela auf den falschen Jai-alai-Spieler.

Die Diskussion zwischen den beiden Damen ging weiter. Sprachen sie über Liebe? Nicht sehr wahrscheinlich, entschied Consuela. Pedro, der Fahrstuhlführer und beste Spion im Hotel, sprach die beiden amerikanischen Damen mit Señora an, vermutlich hatten sie also irgendwo Ehemänner und machten Urlaub in Mexico City.

Geld? Auch nicht sehr wahrscheinlich. Beide Damen sahen wohlhabend aus. Die größere (ihre Freundin nannte sie Wilma) besaß einen langen, echten Nerzmantel, den sie ständig trug, sogar wenn sie zum Frühstück herunterkam, und wenn sie durch den Flur ging, klimperte sie wie ein Straßenbahnwagen, so viele Armbänder trug sie. Sie ließ nie etwas in ihrem Zimmer zurück außer einem verschlossenen Koffer. Consuela hatte rein {9}gewohnheitsmäßig die Kommodenschubladen durchsucht, aber sie waren alle so leer wie das Herz eines Sünders. Der verschlossene Koffer und die leeren Schubladen waren natürlich eine große Enttäuschung für Consuela, die ihre Garderobe beträchtlich erweitert hatte während der Monate, die sie im Hotel arbeitete. Hier und da gelegentlich ein Kleidungsstück verschwinden zu lassen war nicht wirklich Diebstahl. Es war mehr eine Sache des gesunden Menschenverstandes, sogar der Gerechtigkeit. Wenn einige Leute sehr reich waren und andere sehr arm, mußten die Dinge ein bißchen ausgeglichen werden, und Consuela trug ihren Teil dazu bei.

»Alles verschlossen«, murmelte Consuela zwischen den Besen. »Und all die Armbänder. Klimper, klimper, klimper.«

Sie nahm vier Badetücher vom Stapel, schwang sie sich über die linke Schulter und trat hinaus in den Korridor, eine gutaussehende junge Frau mit stolz zurückgeworfenem Kopf. Ihr selbstsicherer Gang und die lässige Art, die Handtücher zu tragen, ließen sie wie eine Sportlerin aussehen, die nach einem ausgefüllten Tag auf dem Tennis- oder Sportplatz auf dem Weg zu den Duschen ist.

Vor 404 machte sie eine kurze Pause, um zu lauschen, aber es war, selbst für jemanden mit den Ohren eines Fuchses, nichts anderes zu hören als der Verkehrslärm von der avenida weiter unten. Jedermann in der Stadt schien auf dem Weg irgendwohin zu sein, und Consuela hatte den drängenden Wunsch, die Hintertreppe hinunterzulaufen und sich ihnen anzuschließen. Ihre Füße, groß und flach in den espadrilles aus Stroh, sehnten sich danach zu laufen. Aber statt dessen standen sie still vor 404, bis die größere der Damen, Wilma, die Tür öffnete.

{10}Sie wollte zum Abendessen ausgehen und trug ein Kostüm aus roter Seide. Jede Locke, jeder Ring, jedes Armband befand sich am richtigen Platz, aber erst das halbe Make-up war aufgelegt, so daß das eine Auge stumpf und blaß wie das eines Fisches aussah, während das andere mit einem goldenen Lid und einer leuchtend schwarzen Umrandung unter einer auf heitere Art unmöglich gewölbten Braue strahlte. Wenn die Anmalerei beendet war, würde Wilma, das mußte Consuela zugeben, beeindruckend wirken, die Art von Frau, die sich nicht erst bemühen mußte, die Blicke eines Kellners zu erhaschen, weil sie bereits auf ihr ruhten.

Aber sie ist nicht hembra, dachte Consuela. Sie hat nicht mehr Busen als ein Stier. Soll sie doch ihre Unterwäsche einschließen. Sie würde mir sowieso nicht passen. Und Consuela, die bemerkenswert hembra war, um nicht zu sagen ausgesprochen dick, wölbte die Brust vor und schob die Hüften im Rumbatakt durch die Tür.

»Oh, Sie sind es«, sagte Wilma. »Schon wieder.« Verärgert drehte sie sich um und wandte sich an ihre Begleiterin. »Es kommt mir vor, als ob hier jedesmal, wenn ich Luft hole, jemand herumschleicht und Betten aufdeckt oder die Badetücher wechselt. Man hat hier etwa so viel Privatleben wie auf einer Krankenhausstation.«

Amy Kellogg, die am Fenster stand, gab einen Laut verlegenen Protestes von sich, eine Art Kombination zwischen Pst und O je. Das Geräusch war Amys eigene Erfindung, es gab ihre Persönlichkeit wieder, und ein Experte hätte in ihm ein Echo all der Dinge erkennen können, die sie ihr ganzes Leben lang nicht zu sagen gewagt hatte, zu ihren Eltern, zu ihrem Bruder Gill, ihrem Ehemann Rupert und ihrer alten Freundin Wilma. {11}Sie wurde nicht jünger, wie ihr Bruder Gill häufig betonte. Es wurde Zeit, daß sie einen festen Standpunkt einnahm, entschieden und sachlich auftrat. Laß die Leute nicht auf dir herumtrampeln, sagte er oft, während seine eigenen Stiefel trampelten, knirschten, zermalmten. Fälle deine eigenen Entscheidungen, sagte er, aber jedesmal wenn sie eine Entscheidung fällte, wurde sie ihr aus der Hand genommen und verworfen oder verbessert, als gehe es um ein Spielzeug, das ein Kind gemacht hatte, unfertig und grotesk.

Wilma sagte, während sie sich zu einem zweiten goldenen Lid verhalf: »Ich habe das Gefühl, jemand spioniert mir nach.«

»Sie versuchen nur, für guten Service zu sorgen.«

»Die Handtücher, die sie heute morgen reingelegt hat, stanken.«

»Das habe ich nicht bemerkt.«

»Du rauchst ja auch. Dein Geruchssinn ist beeinträchtigt. Meiner nicht. Sie stanken.«

»Ich wünschte, du würdest nicht … findest du es richtig, vor diesem Mädchen so zu reden?«

»Sie versteht es nicht.«

»Aber im Reisebüro haben sie gesagt, alle in dem Hotel sprechen Englisch.«

»Das Reisebüro ist in San Francisco. Wir sind hier.« Wilma ließ hier klingen wie ein Synonym für Hölle. »Wenn sie Englisch spricht, warum sagt sie dann nichts?«

Das würdest du wohl gern wissen, dachte Consuela und ließ nachlässig kaltes Wasser in das Waschbecken plätschern. Sie und nicht Englisch sprechen, ha! Sie, die schon in Los Angeles gelebt hatte, bis die Einwanderungsbehörde sie und ihren Vater erwischt und die ganze {12}Familie mit einer Busladung von illegalen Einwanderern zurückgeschickt hatte; sie, die einen echt amerikanischen Freund hatte und von der ganzen Nachbarschaft beneidet wurde, weil sie eines Tages, mit Hilfe der richtigen Pferde, Nummern und Jai-alai-Spieler, nach Los Angeles zurückkehren und sich zwischen den Filmschauspielern bewegen würde. Nicht Englisch sprechen! Haha, daß ich nicht lache, Wilma, mit nicht mehr Busen als ein Stier!

»Sie ist eigentlich sehr hübsch«, sagte Amy. »Findest du nicht?«

»Ist mir nicht aufgefallen.«

»Aber sie ist hübsch. Schrecklich hübsch«, wiederholte Amy, während sie Consuelas Bild forschend im Badezimmerspiegel betrachtete, nach einem Zeichen suchte, daß das Mädchen sie verstand, einem Erröten, einem Aufglitzern der Augen. Aber Consuela hatte mehr Erfahrung im Sichverstellen als Amy im Aufdecken von Verstellungen. Sie verließ das Badezimmer lächelnd, höflich, deckte nacheinander die beiden Einzelbetten auf und schüttelte die Kissen zurecht. Für Consuela war die Verstellung wie ein Spiel. Es konnte ein gefährliches Spiel werden, wenn die Amerikanerinnen sich bei dem Geschäftsführer beschwerten, der wußte, daß sie perfekt Englisch sprach. Aber sie konnte nicht widerstehen, ebensowenig wie sie dem Mitgehenlassen von einem hübschen Nylonslip, einem bunten Gürtel oder einem Paar Spitzenhöschen widerstehen konnte.

Amy, die sich in Spielen auch ein wenig auskannte, fragte: »Wie heißt du? Sprichst du Englisch?«

Consuela lächelte, zuckte mit den Schultern und breitete die Hände aus. Dann drehte sie sich so rasch um, daß ihre espadrilles protestierend quietschten, und Sekunden...