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Es liegt in der Familie

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607352 , 256 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{7}Ein finanzielles Problem


Um sieben Uhr am Samstagmorgen begannen die goldenen Stunden. Sobald Priscilla die Augen öffnete, spürte sie instinktiv, daß Samstag war. Die Luft roch anders, und sie schien in froher Erwartung zu zittern. Die rosafarbenen Tapetenrosen sahen rosiger aus, und der Hügel unter der Decke des anderen Bettes war nicht einfach die Becky, die sie an jedem Wochentag mit in die Schule schleppen mußte, sondern es war die Samstags-Becky, Teilhaberin an allen möglichen verwegenen Plänen. Sie selbst war die Samstags-Priscilla, und wenn sie in den Spiegel blickte (bevor sie die Jalousie hoch- und das Licht hereinließ), sah sie schemenhaft und geheimnisumwittert aus, wie eine berühmte Sängerin in ihrem langen Abendkleid oder eine Meerjungfrau mit wallendem Seegrashaar oder die Lady von Shalott, die nach Camelot herabschwebt. Schweben, schweben, schweben. Sie schwebte in ihre Kleider und durch den Flur und die Treppe hinunter in die Küche, wo Edna ihr wunderschönes Seegrashaar zu harten, unromantischen Flechten zusammenpreßte und bemerkte, daß der Hals der Lady von Shalott schmutzig sei.

»Großpapa sagt, ein wenig Schmutz hat noch niemandem geschadet«, erwiderte Priscilla. »Jedenfalls müssen {8}wir alle fünfzehn Pfund Schmutz essen, bevor wir sterben.«

»Wer sagt das?« fragte Edna mißtrauisch.

»Niemand sagt das. Es ist einfach eine Regel.«

»Das klingt mir nicht gerade nach einer Regel.«

»Dann frag doch irgend jemanden. Frag Gott.«

»Unsinn«, sagte Edna.

Edna war morgens immer mürrisch, solange sie ihr heißes Wasser mit Zitrone, um ihren Teint und ihren Körper im allgemeinen zu kräftigen, noch nicht getrunken hatte. Über Nacht hatte es geregnet, und Ednas Haarwelle war herausgegangen. Das kurze dunkle Haar stand ihr gerade vom Kopf, und sie fuhrwerkte auf ihren kurzen Beinen in der Küche herum wie ein grimmiger Pygmäe.

»Du gehst jetzt rauf und wäschst dich«, sagte Edna, »und steh nicht herum und fall mir auf die Nerven!«

»Ich habe noch nicht mal meinen Mund aufgemacht.«

»Das wolltest du gerade.«

»Wollte ich nicht, ich habe bloß nachgedacht.«

»Tra la«, sagte Edna. Sie preßte den Saft einer Zitrone in eine Tasse heißes Wasser und nippte daran. Augenblicklich spürte sie, wie ihre Haut sich verbesserte und ihr Körper im allgemeinen gekräftigt wurde.

»Ich dachte daran«, sagte Priscilla, »wie gut ich mich vor fünfzehn Minuten gefühlt habe.«

»Ach wirklich?«

»Und dann, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, fiel mir etwas ein. Ich brauche ein Zehncentstück.«

»Zehn Cent? Ich frage dich, wo sollte ich wohl ein Zehncentstück herkriegen? Außerdem hat deine Mama gesagt, {9}daß ich euch Kindern kein Geld mehr geben soll. Sie sagte, daß ihr, du und Becky, selbst sehen sollt, wie ihr zurechtkommt.«

»Becky ist ein Geizkragen«, entgegnete Priscilla düster. »Die würde für zwei Dollar dem Teufel ihre Seele verkaufen.«

Priscilla hätte gegen eine solche Transaktion nichts einzuwenden gehabt, nur hielt sie es für sehr unwahrscheinlich, daß Becky dazu überredet werden könnte, von den zwei Dollar etwas abzugeben.

»Wie du sprichst«, sagte Edna. »Meine Güte, das klingt nicht sehr damenhaft. Dem Teufel seine Seele verkaufen. Warte nur, bis deine Mutter das hört.«

»Edna?«

»Kein Zehncentstück, nee, nee!«

»Es ist eine Kleinigkeit, mir das Geld zu leihen«, sagte Priscilla hochmütig. »Es ist doch nicht so, als würde ich dich bitten, es mir zu schenken.«

»Es ist gehupft wie gesprungen, wenn du mich fragst«, sagte Edna. »Und als ich elf war und zehn Cent brauchte, suchte ich mir eine Zehn-Cent-Arbeit.«

»Mir fällt keine Zehn-Cent-Arbeit ein, außer brav zu sein.«

»Fürs Bravsein wird man in dieser Welt nicht bezahlt. Jetzt geh und fall mir nicht auf die Nerven. Ich muß Frühstück machen.«

»Du hast ein Herz aus Stein«, sagte Priscilla. Und nach diesem Seitenhieb zum Abschied marschierte sie wieder die Treppe hinauf, um die nächstbeste Geldquelle, ihren Bruder Paul, aufzusuchen.

{10}Paul war im Badezimmer. Er war dort schon seit fast einer halben Stunde, und Priscilla hatte den Verdacht, daß er sich rasierte. Paul war sechzehn, und eigentlich brauchte er sich nur einmal in der Woche zu rasieren, am Sonntagmorgen vor der Kirche, aber manchmal rasierte er sich auch am Samstag, um seine Barthaare zu stimulieren. Paul hatte mehrere Barthaare, und durch Bemerkungen über deren rasches Wachstum gelang es Priscilla gelegentlich, ihm ein Fünf- oder Zehncentstück zu entlocken.

Priscilla brachte ihren Mund an das Schlüsselloch der Badezimmertür und flüsterte: »Wetten, daß ich weiß, was du tust?«

»Ach, zieh Leine«, sagte Paul mit einer angespannten, nervösen Stimme, die verriet, daß er den heikelsten Teil seiner Arbeit, die Oberlippe, erreicht hatte. Hier war das Wachstum am spärlichsten, und jedes Haar mußte einzeln aufgespürt und niedergemäht werden.

»Ich wette, du rasierst dich.«

»Ach ja?«

»Ich wette, es war nötig. Ich habe gestern abend mit meinen eigenen Augen gesehen, daß dein Bart wie Vaters wird.«

Das war die perfekte Methode, und sie hätte sicher funktioniert, wenn Vater nicht aus seinem Zimmer gekommen wäre. Vaters Bart war in der Nacht gewachsen, und er sah grimmig und finster und gut aus, wie Black Douglas.

»Was zum Teufel macht er da drin?« sagte Vater und hämmerte mit der Faust an die Badezimmertür. »Paul! Paul!«

»Allmächtiger Gott«, fluchte Paul. »Heiliger Strohsack, {11}kann man denn nicht mal fünf Minuten im Badezimmer verbringen, ohne daß einen gleich jeder anbrüllt?«

»Fünf Minuten«, sagte Vater. »Allie! Hörst du das, Allie?«

»Ich höre es«, erwiderte Mutter und kam in den Flur. Das helle Haar fiel ihr lang den Rücken herab. Manche der modebewußteren Damen in der Woodlawn Avenue hatten sich eine Kurzhaarfrisur zugelegt, und Mutter mußte sich fast jeden Tag etwas Neues einfallen lassen, um ihre mangelnde Eleganz zu rechtfertigen. Zu Vater sagte sie, daß ein Bubikopf unweiblich sei und daß eine Dame keinen Frisiersalon betreten sollte. Edna teilte sie mit, daß der Bubikopf eine vorübergehende Mode sei, und die Mädchen, Becky und Priscilla, erinnerte sie daran, daß sie auf ihrem Haar sitzen konnte (auf die Gefahr hin, sich den Hals auszurenken). Doch der eigentliche Grund, warum sie sich das Haar nicht abschneiden ließ, war, daß es ihr im Winter Hals und Schultern im Bett warm hielt.

Es war nicht mehr Winter, aber es war noch immer kalt. Mutter drapierte sich die Haare um den Hals wie einen Schal und sagte: »Beeil dich, Paul. Dein Vater kommt zu spät ins Büro, und du weißt, wie durcheinander er dann ist.«

»Schon gut, schon gut«, murmelte Paul. »Regt euch nicht auf, ich komme.«

»Durcheinander?« wiederholte Vater. »Wer ist durcheinander?«

»Habe ich ›durcheinander‹ gesagt?« Mutter lächelte unbestimmt freundlich. »Ich meinte nur ›beunruhigt‹. Du weißt schon, ›aufgeregt‹.«

{12}»Hysterisch«, sagte Priscilla, die immer bereit war, anderen Leuten dabei zu helfen, sich auszudrücken. »Das Gegenteil von ruhig. Letzte Woche in der Schule hatten wir entgegengesetzte Begriffe, und die Lehrerin fragte, was das Gegenteil von ruhig sei, und ich meldete mich und sagte ›hysterisch‹, und die Lehrerin meinte, das sei sehr klug, aber falsch. Sie behauptete, man könne nicht sagen ›der See ist heute sehr hysterisch‹. Aber ich habe Großpapa gefragt, und Großpapa sagte, man könne doch sagen ›der See ist heute sehr hysterisch‹. Er hat ’ne Menge hysterischer Seen gesehen, und damit basta. Großpapa weiß Bescheid.«

»In Ordnung, in Ordnung«, sagte Vater und sah noch grimmiger und finsterer aus als sonst. »Du hast es bewiesen. Ich bin überzeugt. Das Thema ist abgeschlossen. Trotzdem darf ich vielleicht den folgenden Punkt hinzufügen, daß jeder, der in diesem Haus Gerechtigkeit erwartet, zweifellos hysterisch ist. Gerechtigkeit, hörst du, Allie? Das ist alles, was ich verlange. Ein Badezimmer und sieben Leute, und ich bin der siebte.«

»Oh, das glaube ich nicht«, sagte Mutter sanft und entfernte sich wieder ins Schlafzimmer.

Priscilla, Auge in Auge mit Black Douglas, wich nicht zurück.

»Mrs. Bartons Bruder ist der siebte Sohn eines siebenten Sohns, und er könnte die Zukunft vorhersagen, wenn er nicht tot wäre. Er starb, als er noch ein Baby war, bevor er sprechen konnte, deshalb hat er nie jemandem die Zukunft vorhergesagt.«

»Ist das wirklich wahr?« fragte Vater.

{13}»Weißt du, was? Wir könnten zwei Badezimmer haben. Dann kämen auf eins nur dreieinhalb Leute. Großpapa und Edna und ich könnten eins haben und du und Mutter und Paul das andere, und Becky könnte abwechselnd unseres und eures benutzen. Becky ist noch so klein, die zählt sowieso nur halb.«

Der Gedanke an Becky erfüllte Priscilla zwangsläufig mit Bitterkeit. Becky hätte ihr finanzielles Problem in einer Minute lösen können, wenn sie wollte und wenn Priscilla ihr nicht schon siebzehn Cent und acht Weingummis schulden würde. Becky schaffte es immer, von ihrem Taschengeld zu sparen. Sie war nicht richtig geizig, aber sie konnte mit Geld umgehen. Überall im ganzen Haus gab es Zehncent- und Fünfcentverstecke, in Taschen, in Schuhspitzen, in Schubladenecken, auf Bettleisten und, getarnt mit Knetmasse, im Spielzeugregal. Diese Verstecke verliehen Becky, ansonsten ein unbedeutendes Etwas von sieben Jahren, eine große Macht. Wenn Priscilla, verarmt wie gewöhnlich, spürte, daß sie unmöglich ohne ein Schokoladeneis...