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Fragt morgen nach mir

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607369 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{9}1


Spätnachmittag. Marco döste im Rollstuhl; die langen trägen Sonnenstrahlen berührten die Schädeldecke, strichen über die spärlichen grauen Härchen des gesunden Arms und verloren sich in den Falten des Hausmantels. Gilly stand im Türrahmen und sah zu ihrem Mann hinüber. Sie wartete auf ein Zeichen, daß er ihre Anwesenheit wahrnahm.

»Marco? Hörst du mich?«

Er konnte nur wenige Teile seines Körpers bewegen, und davon rührte sich keiner. Kein Fingerzucken der rechten Hand, die den Rollstuhl in Gang setzte, kein Vibrieren der einen Mundseite, kein Flattern des rechten Augenlids, das sich normal zu öffnen und zu schließen vermochte. Das andere Auge blieb wie immer: das Lid halb geschlossen, die Pupille reglos in der Mitte. Auch wenn er wach war, konnte niemand sicher sagen, was er gerade ansah oder wieviel er überhaupt sah. Manchmal kam es Gilly vor, als starre das Auge sie anklagend und direkt an, und manchmal schien es geradezu belustigt, als amüsiere es sich über ein Witzwort aus vergangener Zeit oder über einen zukünftigen Scherz. »Das Auge sieht nichts«, hatte der Arzt ihr gesagt. »Ich glaube, Sie irren sich, Doktor. Er betrachtet manche Dinge.« – »Nein, das Auge ist tot.«

{10}Das tote Auge, das nichts sah, blickte Gilly an, die jetzt ins Zimmer trat. Man hörte nichts; wie Gras schluckte der Teppich das Geräusch der Schritte.

»Du tust nur so, als ob du schläfst, nicht wahr, Marco? Weil du mich los sein willst. Ich gehe aber nicht. Ich will nicht gehen, siehst du?«

Nein – das tote Auge sah nichts, und das lebende blieb unter dem Lid verborgen.

Gilly berührte die Stirn ihres Mannes. Sie war von Falten durchzogen, als habe ein Kannibale angefangen, das Fleisch zu verzehren, und dabei seine Nägel eingegraben, die Spuren wie von einer Gabel hinterließen.

»Ich vertrag’s nicht, wenn Leute nur so tun. Ich werde gleich schreien.«

Aber sie schrie nicht. Jedesmal wenn sie schrie, kam Marcos Pfleger Reed angelaufen, der Airedale des Gärtners fing an zu jaulen, und die Haushälterin Violet Smith brach zusammen. Einer ihrer Zusammenbrüche war noch unvergessen.

»Violet Smith sagt, wir essen zuviel Fleisch. Heute abend gibt es Fisch.« Das mußte ihn aufrütteln – er haßte Fisch. »Marco –?«

Weder der angedrohte Schrei noch der Fisch unterbrachen das rhythmische Atmen.

Gilly blieb wartend stehen. Es war heiß; sie hätte gern eine Weile draußen im Patio gesessen, wo fast jeden Nachmittag um diese Zeit vom Ozean her eine Brise aufkam. Aber der Patio war allein Marcos Reich. Sie hatte ihn zwar entwerfen und bauen lassen, aber sie fühlte sich dort nicht recht wohl. Vielleicht lag es an den Pflanzen, die überall wucherten: sie standen in steinernen Urnen und Holzkästen auf dem Boden und hingen {11}in Terrakottaschalen und mit Draht zusammengehaltenen Seegras- und Palmfiberkörben von den Deckenbalken herab.

Marco bewegte sich mühelos mit dem Rollstuhl durch das Pflanzengewirr, aber Gilly stieß immer wieder mit dem Schienbein an die Fuchsientöpfe und verfing sich mit dem Haar in den Ranken der Spinnenpflanze. Bequem war der Patio nur für Leute im Rollstuhl oder für Kinder und Zwerge. Normale Erwachsene mochten ihn nicht. Der Pfleger fluchte, wenn er sich an den versteckten Dornen des Spargelfarnkrauts oder den tückischen Spikes der Windmühlenpalme verletzte; und selbst Violet Smith, die niemals fluchte, ließ einen sinngemäßen Ausruf fahren, wenn sie in den Wasserlilienteich trat, weil sie den schwingenden Armen des Polypodiums ausweichen wollte.

Für Kinder und Zwerge, und für Krüppel wie Marco, war der Patio ideal: hier konnte man Erwachsenen eine Falle stellen und normale Leute zum Narren halten. Aber natürlich bekam ihn kein Kind und auch kein Zwerg jemals zu sehen. Nur Gilly und Reed und Violet Smith und manchmal der Arzt, der nicht viel sagte oder tat, denn es blieb ihm nicht mehr viel zu sagen, nachdem er Gilly beigebracht hatte, wie man Injektionen verabreicht. (Sie hatte es mit Orangen geübt, bis es ihr ganz natürlich vorkam, die Nadel in eine weiche und doch resistente Materie einzustechen. »Also, so wahr mir Gott helfe«, hatte Violet Smith gesagt, »das ist doch wirklich sündhaft, gute Orangen für so etwas zu verschwenden, wo Sie genausogut an sich selber üben könnten.« – »Halten Sie den Mund, sonst übe ich’s an Ihnen«, sagte Gilly darauf.)

{12}Die Schiebetür zum Patio stand offen; von den Pflanzen kam ein leises Schwirren und Wispern, als flüsterten sie untereinander. Vielleicht mochten sie den Fischgeruch nicht, der über den Rasen aus der Küche kam. Es waren Marcos Pflanzen, vielleicht liebten sie den Fisch genauso wenig wie er, und ihr Protest war genauso schwach und schwer verständlich wie seiner. Aber er hätte auch nicht viel genützt: Violet Smith war kürzlich den Heiligen Sabbatäern beigetreten und legte sich jede Woche ein neues Credo zu. Diese Woche war es Fisch.

»Gleich kommt sie mit deinem Dinner, Marco.«

Sein Atem ging etwas schneller; sie war jetzt ganz sicher, daß er wach war und einfach von ihr und vom Essen nichts wissen wollte.

»Wenn du’s nicht magst, bringe ich dir was anderes, wenn Violet Smith weg ist; sie geht zu ihrem Gebetsabend. Hast du Hunger?«

Die eine Seite des Mundes bewegte sich, ein Geräusch entstand, das weder nach einem Tier noch nach einer der Pflanzen draußen auf dem Patio klang. Es war ein Laut von einem vegetierenden Lebewesen. »Er ist wirklich eine klägliche Gestalt«, sagte Violet Smith oft in Marcos Gegenwart, als habe der Schlaganfall, der seine Stimmbänder und den größten Teil seines Körpers gelähmt hatte, ihn auch taub gemacht. Das war nicht der Fall: er hatte, wie Gilly sehr wohl wußte, Ohren wie ein Luchs. Sie und Reed mußten sehr vorsichtig sein und ihre Zusammenkünfte stets nach Marcos Tabletten und Injektionen abstimmen.

»Möchtest du heute vielleicht im Ferrari essen?« Gilly belegte den Rollstuhl stets mit irgendwelchen Namen von Sportwagen – teils um Marco zu amüsieren und {13}teils, um für sich selber die unvermeidliche und dominierende Gegenwart des Krankenstuhls ein wenig zu mildern. Die Namen bekam sie von Reed, die meisten kannte sie gar nicht: Maserati, Lotus Europa, Aston Martin, Lamborghini.

Er öffnete das rechte Auge langsam und mit Mühe, als sei das Lid während des Nachmittagsschlafs festgeklebt. Aus dem Ausdruck des Auges ließ sich nicht schließen, ob er belustigt war oder nicht. Wahrscheinlich nicht; es war ein schwacher Scherz gewesen und er war ein sehr kranker Mann. Aber Gilly versuchte es immer wieder. Sie mußte – es entsprach ihrer Natur, so wie das Aufgeben Marcos Natur entsprach. Er hatte schon lange vor dem Schlaganfall aufgegeben. Der Schlaganfall war nichts als ein Interpunktionszeichen, der Schlußstrich am Ende eines Satzes.

»Na schön, also der Ferrari. Der Lamborghini ist sowieso in der Werkstatt, wird überholt … Gleich kriegst du etwas Fisch, damit du bei Kräften bleibst … Mußt du aufs Klo?«

Die Finger der rechten Hand lehnten ab.

»Der Arzt meint, du müßtest mehr Wasser trinken, wenn du kannst.«

Nein, er konnte nicht. Er wollte auch nicht. Er hatte aufgegeben. Hunger hatte er nur nach den Tabletten, Durst nur nach der Flüssigkeit in der Injektionsnadel.

Violet Smith kam mit einem Tablett ins Zimmer und schob die Tür mit dem knochigen Hinterteil zu. Sie war eine hochgewachsene hellhäutige Indianerin aus Süd-Dakota oder Oklahoma oder Michigan oder Arizona, das hing ab von ihrer Stimmung und von dem Staat, der gerade Schlagzeilen machte. Nach einem Wirbelsturm in {14}Oklahoma hörte man von ihr Geschichten aus ihrer Kindheit, die sie in steter Gefahr und auf der Flucht von einem Schutzkeller zum andern verbracht hatte. Dann fingen die stumpfen braunen Augen an zu glänzen wie polierte Bronze, und das ruhig-feierliche Gesicht leuchtete vor Erregung. Sie vergaß dann sämtliche Formulare und alles, was sie in der Agentur angegeben hatte, die sie zu Gilly geschickt hatte, vor knapp einem Jahr. Dort hieß es einfach: Violet Smith, zweiundvierzig Jahre alt, geboren, aufgewachsen und bisher angestellt in Los Angeles. Gilly vermutete, daß sie nie weiter nach Osten als Disneyland gekommen war und auch nicht weiter nach Norden als Santa Felicia, wo sie jetzt noch war.

»Hier – diesen Rotbarsch habe ich heute morgen am Hafen gekauft, ganz frisch.« Violet Smith trug das Tablett mit dem silbernen Deckel wie einen Schild vor sich her, halb stolz, halb defensiv. »Wir sollen das essen, was der Herr uns in seinen Meeren und Flüssen bereithält, und nicht Kühe und Schweine erst aufziehen und dann schlachten.«

»Bloß keine Konversionsversuche«, sagte Gilly.

»Versteh ich nicht.«

»Verstehen Sie sehr wohl.«

»Hab ich das verstanden, Mr. Decker? Was sie da sagt? … Nein? Nein. Mr. Decker sagt nein, und er weiß, was er sagt. Ein Jammer, daß er nicht lesen kann. Wenn ein Mensch nicht die Bibel lesen kann, wird er sehr klein.«

»Er hat gar keine.«

»Es ist noch nicht zu spät. Er könnte noch im allerletzten Moment gerettet werden, so wie ich, gelobt sei Jesus Christus.«

{15}»Stellen Sie das Tablett hin, und halten Sie den Mund.«

»Er könnte noch gerettet werden, ganz sicher.«

»Na schön, versuchen Sie’s mal in Ihrer Betstunde heute abend, aber geben Sie bitte nicht unseren Namen an. Ich will nicht, daß ein paar Verrückte in aller Öffentlichkeit über uns herziehen und laut singen, wir müßten errettet werden, weil wir Gottweißwas für Sünden begangen hätten. Sonst...