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Da waren's nur noch neun

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607338 , 272 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{5}1


Miss Isobel Seton vergrub das Kinn im Kragen ihres Zobelmantels und entwarf, wie sie es in Momenten großer Anspannung gewöhnlich tat, im Geiste einen gepfefferten Brief. Ihre Lippen bewegten sich leise, während sie nach einem guten, kraftvollen Anfang suchte.

Sehr geehrte Herren Abercrombie & Fitch,

ich bin von Ihrer angeblich so renommierten Firma gnadenlos betrogen worden. Letzte Woche kaufte ich in Ihrem Geschäft ein Paar Ski für die Summe von fünfundsiebzig Dollar. Dabei vertraute ich dem Manne, der mich beriet, an, daß ich noch nie auf Skiern gestanden habe. Aber er versicherte mir, das sei alles nur eine Sache gebeugt gehaltener Knie. Falls dieser Mann typisch für Ihr Team ist, na, dann kann ich nur sagen, dem möchte ich mal die Knie beugen …

»Zu persönlich«, murmelte Miss Seton selbstkritisch in ihren Kragen. »Ich muß knapper sein.«

Meine Herren,

per Hundeschlitten sende ich Ihnen ein Paar Ski zurück, für das ich am vierzehnten Januar unüberlegterweise fünfundsiebzig Dollar bezahlt habe. Ich finde, Ihre Angestellten müßten der Allgemeinheit gegenüber mehr Verantwortung zeigen und nicht einfach an jedermann Ski verkaufen, der danach fragt. Es macht mir, nachdem {6}ich zehn Jahre lang in New York gelebt habe, ja nichts mehr aus, hemmungslos betrogen zu werden, aber gegen den Mangel an Bürgerverantwortung habe ich sehr wohl etwas.

Bloß weil einer Ihrer unverantwortlichen Angestellten mich nicht daran gehindert hat, mir ein Paar Ski zu kaufen, sitze ich hier in etwas, das diese verdammten Kanadier Schneebus nennen, was bedeutet, daß ein Bus einen an einem Schneezug abholt und einen zu einem Schneehotel befördert. Und hier sitze ich nun, verraten und verkauft in der Wildnis von Quebec inmitten eines rasenden Schneesturms. Meine Nase ist rot, ich bin fünfunddreißig – kein Alter für Zugeständnisse –, ich habe Hunger, der Busfahrer hat Pickel im Genick, die Fenster sind dichtgefroren, und ich sitze zusammengepfercht mit diversen anderen Unglücklichen, von denen keiner die Umsicht besessen hat, etwas Alkoholisch-Belebendes mitzubringen …

»Bei Gott«, murmelte Miss Seton, »und ob ich persönlich werden will!«

Auf der Bank hinter ihr nahm das Flitterwochenpärchen den Streit wieder auf, den sie auf dem Bahnhof in Montreal begonnen hatten. Die Stimme der Frau war laut, aber den Tränen nahe.

»Flitterwochen auf Skiern! Warum nicht gar auf dem Motorrad? Oder in einem U-Boot?«

»Aber mein Engel«, sagte der Mann, »aber Maudie!«

»Zum Teufel mit dem Engel«, zischte Maudie.

»Aber …«

»Zum Teufel auch mit dir!«

Miss Seton, ihrerseits just in einer Bausch-und-Bogen-Verdammnis befangen, verspürte einen Hauch Mitleid. Sie {7}bewegte ihr Ohr ein ganz klein wenig näher an die Oberkante der Sitzbank heran.

»Dies sind die schlimmsten Flitterwochen, die ich je hatte, Herbert«, klagte Maudie. »Sieh dir doch bloß diese Leute an, mit denen ich mich hier abgeben muß. Sieh dich doch bloß mal um, Herbert.«

Miss Seton schrumpfte wieder in ihren Zobel, während Herbert sich vermutlich umsah.

»Diese Sportskanonen«, fuhr Maudie fort. »Ich wette, die können’s gar nicht abwarten, bis sie ihre Vitamine kriegen.«

»Vitamine«, meinte Herbert vorsichtig, »sind doch ganz in Ordnung.«

»Mit Tom die Riviera, mit dem armen Jack die Bermudas, und ein Schneebus mit dir, Herbert. Also, weiter sag ich nichts – das spricht für sich selbst.«

Unter dem Vorwand, sich in eine bequemere Stellung zu räkeln, manövrierte Miss Seton ihren Kopf so, daß sie die Oberkante der Lehne in Augenhöhe hatte.

Herbert tat, als sei er angelegentlich damit beschäftigt, die Landschaft zu bewundern, obgleich die Scheiben wie Milchglas waren. Selbst unter Seelenqualen trug sein Gesicht den Stempel der Gutmütigkeit. Es war dick und rosig, wie frisch gescheuert, und schien unentschlossen, ob es weinen oder lachen sollte. Er trug eine Schirmmütze aus Cordsamt, die Kopf und Ohren bedeckte.

Ich wette, der ist kahl wie ein Ei, dachte Miss Seton und wandte ihre Aufmerksamkeit Maudie zu.

Maudie schniefte in ein feuchtes, halbgefrorenes Taschentuch. Miss Seton warf einen raschen Blick in ein winziges, tränenüberströmtes Gesicht mit großen, traurigen blauen Augen und auf ein paar blaßgoldene Haarsträhnen, {8}die unter dem weißen Pelz ihrer Anorakkapuze hervorlugten. Anscheinend hatte Maudie irgendwann in letzter Zeit durchaus nichts gegen Skiflitterwochen einzuwenden gehabt, denn sie hatte keine Mühe gescheut, sich so elegant wie möglich herauszuputzen. Ihr Skianzug war aus hellblauem Wildleder, auf dem weißer Pelzbesatz sprießte.

Tief beschämt über ihren Zobelmantel und ihren Sally-Victor-Hut, lächelte Miss Seton Herbert zu und zog den Kopf ein. Über das Heulen des Windes hinweg hörte sie Herberts hoffnungsvolle Stimme: »Siehst du, Maudie? Ich wette, die da ist nicht voller Vitamine.«

»Die ist voller Backpflaumen«, sagte Maudie entschieden.

Miss Seton war zutiefst befremdet von dieser Ungerechtigkeit. »Ich hab keine Backpflaumen mehr gegessen, seit ich vor fünfzehn Jahren das Internat verlassen habe«, murmelte sie vor sich hin. »Fünfzehn Jahre, o mein Gott!«

Sie war durch diesen Gedanken so deprimiert, daß sie neuerlich die Stellung wechselte. Diesmal rückte sie in ihrem Sitz geschickt nach vorn. Es war weit schwieriger, etwas von dem aufzuschnappen, was das Paar vor ihr sagte. Wenn sie überhaupt etwas sagten, so geschah es im Flüsterton. Gewöhnlich war es der Mann, der redete, und das Mädchen blickte ihn nicht mal an. Sie fummelte an ihrer Handtasche herum oder schob die Hände abwechselnd in ihre Jackentaschen hinein oder wieder heraus.

Ihre nervösen Bewegungen paßten gar nicht zu der ruhigen Unnahbarkeit ihres Gesichtsausdrucks oder zu der Nonchalance, mit der sie ihren abgeschabten Skianzug trug. Sie hatte die Kapuze zurückgeschoben, und der hellrote Stoff ließ ihr Haar blauschwarz erscheinen und ihr Gesicht geradezu totenmaskenweiß.

{9}Möcht mal wissen, warum die so blaß ist, dachte Miss Seton und wandte wiederum den Kopf, um die Gepäckablage zu begutachten, wo die Skier des Mädchens verstaut waren. Die Skier sahen ebenso vielbenutzt aus wie der Skianzug und waren einmal, so schätzte Miss Seton, teuer gewesen. Neben den Skiern stand die Reisetasche des Mädchens auf der Ablage, und auch die schien irgendwie fehl am Platze. Sie war sehr neu und sehr billig.

Ihr Name war Paula, wußte Miss Seton. Der Mann sagte den Namen nämlich so oft, als fasziniere ihn schon allein der Name, ungeachtet der Tatsache, daß er zu dem Mädchen gehörte. Obwohl er flüsternd sprach, klang er verärgert.

»… daß es dir leid tut, Paula.«

Das Mädchen zuckte nur die Achseln und erwiderte nichts. Miss Seton zog eilends den Hutschleier von den Ohren und beugte sich noch ein wenig weiter vor. Aber der Wind war wieder stärker geworden und ließ die Fensterscheiben klappern. Als er sich endlich wieder ein wenig gelegt hatte, redete der Mann über Christianias und Stemmbögen. Seine Stimme war jetzt lauter, und er wandte den Kopf herum und bedachte Miss Seton mit einem langen, kalt starrenden Blick. Miss Seton errötete und bückte sich, um eine imaginäre Laufmasche in ihrem Strumpf in Augenschein zu nehmen.

»Was für eine wild dreinblickende Kreatur«, sagte sie zu sich selbst. »Vermutlich von Werwölfen gesäugt.«

Sie betrachtete sein Profil mit neu erwachtem Interesse. Es war ein schroffes Profil, über dem ein Strohdach aus sehr kurz geschnittenem roten Haar saß. Das einzige Nichtschroffe an dem jungen Mann waren seine Augenwimpern. Die waren lang und gebogen, und er schämte {10}sich ihrer wohl sehr, wie Miss Seton aus der Heftigkeit schloß, mit der er damit zwinkerte.

Miss Seton zog sich in ihren Pelzkragen zurück und schrieb ihm einen Brief.

Lieber Mr. Werwolf,

ich habe keine Backpflaumen mehr gegessen, seit ich vor fünfzehn Jahren das Internat verlassen habe. Dies mag zwar unerheblich erscheinen, aber ich wollte Ihnen eine Vorstellung meiner derzeitigen Geistesverfassung vermitteln. Ich habe soeben Ihre Augenwimpern betrachtet und finde sie hinreißend. Übrigens, sind Sie verheiratet? Ich bin gar nicht so schlecht. Ich habe braunes Haar und braune Augen. Ich bin fünfunddreißig und habe ein bescheidenes Einkommen …

»Nein, ich kann ihm doch schließlich keinen Antrag machen«, murmelte Miss Seton träumerisch.

Der Werwolf war sowieso viel zu jung und wahrscheinlich auch gerade im Begriff, Paula zu heiraten oder sich von ihr scheiden zu lassen. Nichts sonst konnte der Grund sein für die Heftigkeit seines Blickes, befand Miss Seton – außer er war Kommunist! Vielleicht gehörte er aber auch einfach nur zum intensiven Typ der Jugend, im Gegensatz zu der seit Geburt gelangweilten Variante wie etwa dem Mädchen dort schräg gegenüber.

Das Gepäck dieses anderen Mädchens war auffällig neu, auffällig teuer und auffällig etikettiert: ›Miss Joyce Hunter, Westmount, Quebec‹. Wie die tränenreiche Maudie und die unnahbare Paula war sie zum Skilaufen gekleidet. Sie trug einen Anzug aus weißem Grenfelltuch, und über den Kragen ihres Anoraks wuchsen drei schwarze, glänzende Locken, ebenso gelangweilt und makellos, wie Joyce selbst es war.

{11}Joyces Makellosigkeit war jedoch lediglich visuell. Reden konnte das Mädchen, soweit Miss Seton wußte, nämlich nicht. Während der ganzen Fahrt hatte sie in makellosem Schweigen dagesessen, hatte gelegentlich verhalten gegähnt,...