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Die Süßholzraspler

Margaret Millar

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607420 , 288 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{15}Zweites Kapitel


Wenn Galloway seine Freunde in ihrer Gesamtheit erwähnte, bezeichnete er sie immer als ›die Burschen‹. Zwei der ›Burschen‹, Bill Winslow und Joe Hepburn, fuhren zusammen von Toronto hinauf und kamen gegen zehn Uhr bei der Hütte an, die ein paar Kilometer hinter Wiarton an der Georgian Bay lag. Ein dritter, Ralph Turee, traf ein paar Minuten später ein.

Sie wurden vom Hausmeister eingelassen, und jeder widmete sich sofort einer bestimmten Aufgabe. Turee trug das Gepäck nach oben, Hepburn entzündete ein Feuer in dem riesigen Kamin, Winslow öffnete gewaltsam das Schloß des Barschränkchens, und alle begannen sich, wie Esther vorausgesagt hatte, zu betrinken.

Es waren Galloways spezielle Freunde, ungefähr in seinem Alter und mit der gemeinsamen Absicht, es sich so gut wie möglich gehen zu lassen, wenn sie sich dem Druck der Geschäfte und der Familie entzogen hatten: Bill Winslow, Geschäftsführer in den Mühlenwerken seines Vaters, Joe Hepburn, Leiter einer Plastikspielzeug-Fabrik, und Ralph Turee, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Toronto. Von Turee abgesehen, waren sie Männer von durchschnittlicher Intelligenz und überdurchschnittlichem Einkommen. Turee ließ sie das nie vergessen. Chronisch in finanziellen Schwierigkeiten, machte er sich über ihr Geld lustig und lieh es von ihnen; selbst von überlegener Bildung, lachte er über ihre Unwissenheit und benutzte sie zu seinem eigenen Vorteil. Aber im großen und ganzen harmonierte die Gruppe, besonders, wenn sich die kleinen Differenzen in Alkohol aufgelöst hatten.

Turee war der erste, dem auffiel, daß die Zeit vergangen {16}war, ohne daß Harry Bream und Galloway aufgetaucht waren. »Seltsam, daß Galloway noch nicht da ist. Er ist doch sonst so betont pünktlich.«

»Ich hasse Pünktlichkeit«, erklärte Winslow. »Sie ist das Idol beschränkter Gemüter. Habe ich nicht recht, Freunde?«

Hepburn sagte, die Keuschheit sei das Idol beschränkter Gemüter, aber Turee korrigierte – wie gewöhnlich – beide und meinte, daß dies die Beharrlichkeit sei, aber schließlich kamen sie wieder auf Galloway zu sprechen.

»Galloway hat mich gestern abend angerufen«, sagte Turee, »und mir mitgeteilt, daß er Harry in Weston abholen und gegen neun Uhr dreißig hier sein werde.«

»Da haben wir’s ja«, sagte Winslow.

»Was haben wir?«

»Den Grund. Harry. Harry kommt immer und überall zu spät.«

Dies war eine ebenso logische wie annehmbare Theorie, und sie tranken alle auf das Wohl von Harry, als dieser unbeabsichtigt den ganzen Spaß verdarb, indem er um elf Uhr dreißig hereinkam. Er trug einen Regenmantel und eine Jagdmütze und hielt sein Angelgerät in der Hand.

»Tut mir leid, daß ich so spät komme«, sagte er munter. »Hinter Owen Sound war irgendwas mit der Benzinpumpe nicht in Ordnung.«

Sie starrten ihn alle auf eine eigentümlich unzufriedene Art an. Dies fiel selbst Harry, der nicht besonders feinfühlend war, auf.

»Was ist los mit euch, Freunde? Habe ich euch etwa gestört?«

»Wo ist Galloway?« fragte Turee.

»Ich dachte, der wäre hier.«

»Wolltet ihr nicht zusammen kommen?«

{17}»Ursprünglich ja, aber ich wurde dringend in ein Krankenhaus drunten in Mimico gerufen und hinterließ bei Thelma die Nachricht, daß Galloway ohne mich fahren sollte. Ich weiß, daß er es haßt, zu spät zu kommen. Ihr glaubt doch nicht, daß Thelma übergeschnappt ist?«

Die anderen waren sich darüber einig, daß Thelma von Geburt an übergeschnappt war, aber niemand wollte Harry verletzen. Harry betete seine Frau an. Ihre kleinen Überspanntheiten waren eine Quelle der Faszination für ihn, und er pflegte seine Freunde mit eingehenden Berichten über ihre Ansichten und Erfahrungen zu unterhalten.

Harry, einziger Sprößling seiner Eltern, hatte erst geheiratet, als diese tot waren. Danach hatte er aber keine Zeit verloren. Seine Heirat – er war inzwischen Fünfunddreißig geworden – mit einer Frau, die als Praxishilfe bei einem Arzt gearbeitet hatte, war ein Schock für seine Freunde gewesen, vor allem für Galloway, der sich daran gewöhnt hatte, daß Harry immer zu seiner Verfügung stand.

Der heitere Junggeselle Harry war plötzlich dem hoffnungslos verheirateten Harry gewichen, der Regeln und Beschränkungen unterworfen und Launen und Sorgen preisgegeben war. Obwohl Thelma und Esther nicht sehr gut miteinander auskamen, blieben die beiden Männer die besten Freunde, teils, weil Thelma Galloway zu mögen schien und Harry ermutigte, sich mit ihm zu treffen, teils, weil sich die beiden seit frühester Jugend kannten. In der letzten Klasse der Oberschule war Harry Klassensprecher gewesen, und er besaß noch immer das Jahrbuch mit der Inschrift: Henry Ellsworth Bream. Wir sagen unserem Harry, dem wir immer einen warmen Platz in unserem Herzen bewahren werden, eine große Zukunft voraus.

Der warme Platz war ihm in vielen Herzen erhalten {18}geblieben, aber mit der Zukunft haperte es. Er hatte eine Reihe von Gelegenheiten verpaßt – um Meter oder Minuten, durch Launen des Schicksals wie einen Reifenschaden, eine Verkehrsstockung, eine falsche Wendung, einen verlegten Schlüssel, einen plötzlichen Schneesturm, eine falsche Telefonnummer.

»Armer Harry«, pflegte seine Umgebung zu sagen. »Er hat einfach Pech.«

Als seine Eltern starben, erwartete man allgemein, daß das Schicksal für Harry nun eine Glückssträhne bereithielte, um ihn für all sein Pech zu entschädigen. Und für Harrys Verhältnisse tat es das auch. Das Glück war Thelma.

»Wahrscheinlich hat sie es ihm nicht ausgerichtet«, sagte Turee. »Vielleicht beschloß sie plötzlich, ins Kino oder sonstwohin zu gehen, und Galloway sitzt noch immer dort und wartet auf dich.«

Harry schüttelte den Kopf. »So was würde Thelma nie tun.«

»Natürlich nicht absichtlich.«

»Auch nicht aus Versehen. Thelma hat ein wunderbares Gedächtnis.«

»Ja?«

»Sie hat in ihrem Leben noch nichts vergessen.«

»Ist gut. Es wäre jedenfalls eine Erklärung gewesen.«

Inzwischen war es Mitternacht geworden, und Bill Winslow, der keinen Alkohol vertrug, gab das Übermaß an Flüssigkeit, das er zu sich genommen hatte, in Form von Tränen wieder von sich:

»Armer alter Galloway, nun sitzt er da auf seinem Hintern – seinem armen, alten, einsamen Hintern, während wir hier seinen Bourbon trinken und es uns gut gehen lassen. Das ist nicht fair. Freunde, ich frage euch, ist das fair?«

{19}Turee warf ihm einen finsteren Blick zu. »Um Himmels willen, hör mit dem Gejammer auf, ja! Ich versuche nachzudenken.«

»Armer alter Galloway. Nicht fair. Wir lassen es uns hier gut gehen, und er sitzt dort auf seinem armen, alten –«

»Hepburn, sieh zu, ob du ihn nicht ins Bett befördern kannst.«

Hepburn schob die Hände unter Winslows Achseln und stellte ihn auf die Füße. »Komm schon, Billy, mein Junge. In die Heia.«

»Möcht nicht ins Bett. Möcht hierbleiben und es mir gut gehen lassen mit euch.«

»Hör zu, Billy, wir lassen es uns nicht gut gehen.«

»Nicht?«

»Nein. Komm schon. Wo hast du deinen Koffer?«

»Weiß nicht.«

»Ich habe ihn mit meinem zusammen hinaufgetragen, ins Zimmer neben dem Galloways«, sagte Turee.

»Ich möcht nicht ins Bett. Ich bin traurig.«

»Das sehe ich.« Winslow versuchte, mit dem Unterarm die Feuchtigkeit von seinen Wangen wegzustreichen. »Ich muß immer an den armen alten Galloway denken und die kleine Prinzessin Margaret.«

»Was hat Prinzessin Margaret damit zu tun?«

»Soll Townsend heiraten, Kinder haben, glücklich sein. Alle sollen glücklich sein.«

»Na sicher.«

»Ich bin glücklich.«

»Na sicher.«

Während die Tränen noch aus seinen Augen quollen, stolperte Winslow durchs Zimmer und begann, die Treppe auf allen vieren hinaufzuklettern wie ein dressierter Hund {20}die Leiter. Auf halbem Weg klappte er zusammen, und Hepburn mußte ihn vollends hinaufzerren.

Turee legte einen neuen Klotz in das Feuer und stieß ungeduldig mit dem Fuß dagegen. »Was tun wir jetzt?«

»Weiß nicht«, sagte Harry düster. »Es sieht Ron gar nicht ähnlich, die Leute warten zu lassen.«

»Vielleicht hat er einen Unfall gehabt.«

»Er ist ein guter Fahrer. Und er schwört auf Sicherheit, Sitzgurte und alles mögliche.«

»Auch gute Fahrer haben gelegentlich Unfälle. Der springende Punkt ist, daß wir, wenn ihm was passiert sein sollte, nichts davon erfahren, es sei denn, Esther schickt uns ein Telegramm nach Wiarton, das hierhergebracht wird.«

»Esther würde viel zu aufgeregt sein, um an so etwas zu denken.«

»Na schön, dann gibt’s noch eine andere Möglichkeit: vielleicht hatte er Bauchweh und beschloß, gar nicht zu kommen.«

»Das ist schon eher möglich«, sagte Harry voller Enthusiasmus. »Das letztemal, als ich ihn sah, klagte er über seinen Magen. Ich gab ihm ein paar von diesen neuen Ulcus-Tabletten, die meine Firma herausgebracht hat.«

»Galloway hat kein Magengeschwür.«

»Vielleicht doch. Die Tabletten haben Wunder gewirkt.«

Turee wandte sich mit dem Ausdruck des Abscheus ab. Er war der einzige aus dem Kreis, der sich weigerte, persönlich etwas mit Harrys Diagnosen oder Harrys Tabletten zu tun zu haben.

»Schon gut. Galloways Magengeschwür hat sich bemerkbar gemacht, und er ist ins Krankenhaus gegangen. Wie klingt das?«

»Großartig«, sagte Harry strahlend.

Als Hepburn zurückkehrte, wurde eine Konferenz {21}abgehalten und entschieden, daß Turee,...