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Dornröschen

Ross Macdonald

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607550 , 400 Seiten

2. Auflage

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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10,99 EUR


 

{5}1


An einem Mittwochnachmittag flog ich von Mazatlán nach Hause. Während des Landeanflugs auf Los Angeles sah ich aus der Mexicana-Maschine zum ersten Mal den Ölfleck auf dem Meer.

Wie ein unförmiger Teppich, einige Kilometer breit und etliche Kilometer lang, bedeckte er das blaue Wasser vor Pacific Point. Unweit der Küste ragte eine Bohrinsel auf wie der Metallgriff eines Dolches, in den Bauch der Erde gerammt, damit sie schwarzes Blut verströme.

Der mexikanische Flugbegleiter schritt durch den Gang, um zu prüfen, ob wir alle zum Landen bereit waren. Ich fragte ihn, was mit dem Meer passiert sei. Der Latino gestikulierte und zuckte nur die Achseln, als erübrige sich die Frage von alleine angesichts des sattsam bekannten Leichtsinn der Amis.

»Die Explosion war am Montag.« Er beugte sich vor und schielte am Flügel vorbei nach unten. »Heute ist es noch schlimmer als gestern. Schnallen Sie sich bitte an, Señor. Wir landen in fünf Minuten.«

Im Flughafen kaufte ich eine Tageszeitung. Der Ölteppich beherrschte die Titelseite. Ein gewisser Jack Lennox, der das Unternehmen managte, das die Bohrinsel betrieb, prophezeite, das Problem werde innerhalb von vierundzwanzig Stunden unter Kontrolle sein. Lennox war, dem {6}Foto nach, ein gutaussehender Mann, was nicht heißen musste, dass ihm über den Weg zu trauen war.

Pacific Point war einer meiner Lieblingsorte an der Küste. Während ich mich auf den Weg zu meinem Auto machte, drückte die den Strand bedrohende Ölpest wie ein heranziehendes Tief auf meine Stimmung.

Anstatt zu meiner Wohnung nach West Los Angeles fuhr ich südwärts, an der Küste entlang in Richtung Pacific Point. Die Sonne stand schon tief, als ich zur Anhöhe über dem Hafen gelangte, von wo aus ich den riesigen Ölteppich sehen konnte, der das Meer einschwärzte, als wäre die Nacht vor der Zeit angebrochen.

Er hatte sich der Küste bis auf etwa tausend Meter genähert; noch bildete der dunkelbraune Seetang eine natürliche Schutzwehr. Löschboote waren unterwegs, um den Teppich von den Rändern her mit Chemikalien einzusprühen. Weit und breit war sonst kein Boot zu erkennen. Ein weißes Plastikband versperrte den Hafeneingang, darüber tanzten Möwen wie vom Wind aufgewirbelte Schnipsel.

Ich stieg zum öffentlichen Strand hinab und schlenderte die Landzunge mit Blick auf den Hafen entlang. Einige Menschen, vor allem Mädchen und Frauen, standen am Ufer und blickten aufs Meer hinaus. In ihrer Reglosigkeit sahen sie aus, als erwarteten sie den Weltuntergang oder als wäre dieser bereits eingetreten und sie dabei zu Salzsäulen erstarrt.

Die Wellen schwappten träge heran. Ein schwarzer Vogel mit spitzem Schnabel versuchte verzweifelt, sich über Wasser zu halten. Er hatte orangerote, wie in heller {7}Wut glühende Augen, doch war er so verunstaltet vom Öl, dass ich ihn erst auf den zweiten Blick als Renntaucher identifizierte.

Eine Frau in weißer Bluse und langer Hose watete bis zu den Oberschenkeln ins Wasser, um den Vogel zu bergen. Geschickt hielt sie ihn so, dass er nicht nach ihr hacken konnte. Sie war jung und hübsch, wie ich feststellte, als sie sich zum Ufer zurückwandte. Ihre Augen funkelten ebenso zornig wie die des Vogels. Die schmalen Füße hinterließen anmutige Abdrücke im nassen Sand.

Ich fragte sie, was sie mit dem Renntaucher vorhabe.

»Mit nach Hause nehmen und säubern.«

»Ich fürchte, er wird auch dann nicht überleben.«

»Nein, aber ich vielleicht.«

Sie entfernte sich, das zappelnde schwarze Wesen gegen die weiße Bluse gedrückt. Ich folgte ihren zierlichen Abdrücken. Als sie es bemerkte, drehte sie sich um.

»Was wollen Sie?«

»Mich entschuldigen. Es war nicht meine Absicht, Sie zu entmutigen.«

»Schon gut«, sagte sie. »Es stimmt ja, dass die wenigsten Vögel überleben, wenn sie so viel Öl abbekommen. Aber während der Ölpest von Santa Barbara konnte ich einige retten.«

»Sie sind offenbar eine Vogelexpertin.«

»Das ist reiner Selbstschutz. Meine Familie ist im Ölgeschäft.«

Sie deutete mit dem Kopf zur Bohrinsel. Dann drehte sie sich abrupt um und ließ mich stehen. Ich sah ihr nach, {8}wie sie über den Strand eilte. Den ramponierten Renntaucher trug sie im Arm wie eine Mutter ihr Kind.

Ich folgte ihr bis zum Kai am Südende des Hafens. Eins der Arbeitsboote hatte die Sperre geöffnet, um die anderen Löschboote einzulassen. Sie machten längs der Kaimauer fest.

Der Wind hatte gedreht, der Geruch des ausgelaufenen Öls stieg mir in die Nase. Es roch wie etwas Abgestorbenes, das niemals mehr aus der Welt zu schaffen war.

Es gab ein Restaurant auf dem Kai, »Blanche’s Seafood«, wie die blinkende Leuchtschrift auf dem Dach verkündete. Da ich Hunger hatte, hielt ich darauf zu. Auf der anderen Seite des langgestreckten Gebäudes stapelten sich Chemiekalienbehälter, Bohrlochummantelungen und allerlei Gerätschaften. An einem Landesteg stiegen Männer aus ihren Booten.

Ich trat zu einem älteren Arbeiter mit sonnengegerbtem Gesicht unter dem roten Helm und erkundigte mich nach dem Stand der Dinge.

»Wir sollen nicht drüber reden. Das Reden übernimmt die Firma.«

»Lennox?«

»So heißt sie wohl.«

Ein bulliger Vorarbeiter schaltete sich ein. Er hatte schwarze Flecken auf der Kleidung, und seine hochhackigen Cowboystiefel waren über und über mit Öl beschmiert.

»Sind Sie von der Presse?«

»Nein. Bin nur ein normaler Bürger.«

Er musterte mich misstrauisch. »Hier aus der Gegend?«

{9}»L.A.«

»Dann haben Sie hier nichts zu suchen.«

Er bugsierte mich mit seinem dicken Bauch beiseite. Die Männer ringsum verstummten. Es waren rauhe Burschen, müde, frustriert und sichtlich bereit, ihre Wut an allem auszulassen, was sich bewegte.

Ich ging zum Restaurant zurück. Ein Mann, der mit seiner gerippten Wollmütze wie ein Fischer aussah, wartete gleich hinter der nächsten Ecke. Unter der Mütze sahen struppige Haare und der offene Blick eines jungen Menschen hervor.

»Legen Sie sich bloß nicht mit denen an«, sagte er.

»Hatte ich nicht vor.«

»Gut die Hälfte kommt aus Texas, aus dem Landesinnern. Wasser ist für die nur ein Ärgernis, weil man es nicht für zwei oder drei Dollar das Barrel verkaufen kann. Die interessieren sich einzig und allein für das Öl, das ihnen durch die Lappen geht. Die Lebewesen im Meer oder die Menschen hier vor Ort sind ihnen völlig gleichgültig.«

»Läuft immer noch Öl aus?«

»Aber klar. Am Montag, dem Tag der Explosion, dachten sie zuerst, sie hätten alles unter Kontrolle. Es war ein wildes Toben, als Bohrschlamm und Kohlenwasserstoffnebel in die Luft geschossen sind, dreißig, vierzig Meter hoch. Man hat das Gestänge im Bohrloch versenkt und die Absperrschieber darüber geschlossen und war der Meinung, damit wäre alles abgedichtet. Das Hauptbohrloch war es auch. Aber der Meeresboden hat nicht dicht gehalten, und rings um die Plattform ist ein {10}brodelndes Gemisch aus Gas und Öl nach oben gestiegen.«

»Hört sich so an, als hätten Sie’s mit eigenen Augen gesehen.«

Zwinkernd nickte der junge Mann. »Das stimmt. Ich habe einen Reporter in meinem Boot mit rausgenommen – einen Mann namens Wilbur Cox, von der Lokalzeitung. Als wir ankamen, wurde die Plattform gerade evakuiert, wegen der Brandgefahr.«

»Gab es Tote?«

»Nein, Sir. Wenigstens das ist uns erspart geblieben.« Durch die Haare hindurch sah er mich forschend an. »Sie sind nicht zufällig auch Reporter?«

»Nein, es interessiert mich einfach nur. Wissen Sie, was den Blow-out verursacht hat?«

Mit dem Daumen deutete er zuerst zum Himmel, dann aufs Meer. »Es kursieren ganz unterschiedliche Erklärungen. Unzulängliche Ummantelungen zum Beispiel. Aber irgendetwas stimmt auch nicht mit dem Untergrund. Das ist alles porös. Es ist, als würde man ein Stück Kuchen aushöhlen, um darin Wasser zu halten. Man hätte gar nicht erst anfangen dürfen, dort draußen zu bohren.«

Die Ölarbeiter aus den Booten kamen angetrottet wie die versprengten Überreste einer geschlagenen Armee. Der Fischer stand stramm und salutierte mit breitem Grinsen. Er erntete aber nur mitleidige Blicke, als wäre er ein armer Irrer, der nicht kapierte, was auf dem Spiel stand.

Ich betrat das Restaurant. Aus der Bar drangen {11}Stimmen, angeheitert und verhängnisvoll, der Speisesaal dagegen war fast leer. Eingerichtet war er in einer Art Marinelook für Landratten, mit Bullaugen anstelle von Fenstern. Zwei Männer standen an der Kasse und wollten zahlen.

Sie fielen mir auf, weil sie ein seltsames Duo darstellten. Der eine war jung, der andere alt und klapprig. Vater und Sohn schienen sie allerdings nicht zu sein. Sie machten nicht einmal den Eindruck, als ob sie vom selben Stern kämen.

Der Alte hatte fast keine Haare, dafür bleiche Narben auf dem Kopf, die auch die Schläfen seines Gesichts maserten. Er trug einen alten grauen, offenbar maßgeschneiderten Tweedanzug, in dem sein schmächtiger Körper allerdings fast verschwand. Entweder, so meine Vermutung, war der Anzug ursprünglich für jemand anders bestimmt, oder er hatte ihn sich schneidern lassen, als er noch jünger und von kräftigerer Statur gewesen war. Er bewegte sich, als wäre er aus der Welt und aus der Zeit gefallen.

Der jüngere Mann trug Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, der seinen kräftigen Oberkörper betonte. Über den breiten Schultern wirkte der Kopf geradezu winzig. Als er meinen Blick bemerkte, starrte er zurück. Sein Blick jedoch war der eines Verlierers, wie ich schon so viele gesehen hatte, eines Menschen, der die Welt durch...