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Der Drahtzieher - Detektivstories um Lew Archer

Ross Macdonald

 

Verlag Diogenes, 2016

ISBN 9783257607802 , 144 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

{7}Vorwort
Der Schriftsteller als Detektiv-Held


Ein Filmproduzent, der letztes Jahr mit der Idee spielte, eine TV-Serie mit meinem Privatdetektiv Lew Archer in der Hauptrolle zu drehen, fragte mich beim Lunch, ob Archer aus irgendeiner lebenden Person hervorgegangen sei. »Ja«, antwortete ich, »aus mir.« Er schenkte mir einen jener halb bedauernden Hollywood-Blicke. Ich versuchte zu erklären, daß Archer sozusagen aus meinem Innersten entsprungen sei, während ich einige mir bekannte, ausgezeichnete Detektive bei der Arbeit beobachtet hätte. Ich wäre, genau genommen, nicht Archer, aber Archer wäre ich.

Von da an ging es mit unserer Unterhaltung bergab, als hätte ich ein ehrenrühriges Eingeständnis gemacht. Aber ich glaube, die meisten Verfasser von Detektivgeschichten würden dieselbe Antwort gegeben haben. Eine enge väterliche oder brüderliche Beziehung zwischen dem Schreibenden und seinem Detektiv ist eine hervorstechende Eigenart dieser Form. Im Laufe seiner bisherigen Geschichte, von Poe bis Chandler und über diesen hinaus, hat der Detektiv als Held seinen Schöpfer repräsentiert und dessen Wertmaßstäbe in die Gesellschaft getragen.

Poe, der Erfinder der modernen Detektivgeschichte, und sein Detektiv Dupin sind gute Beispiele dafür. Poes hervorragender, aber von Schuldkomplexen gequälter Geist befand sich in schmerzlichem Konflikt mit den Realitäten im Amerika der Vorbürgerkriegszeit. Dupin ist ein deklassierter Aristokrat, wozu Poe alle seine Helden neigen läßt, ein offensichtliches Gegenstück zu dem Künstler-Intellektuellen, der seinen Platz in der Gesellschaft und seine sichere Stellung in der Tradition verloren hat. Dupin hat kein {8}Gesellschaftsleben, sondern nur einen Freund. Er unterscheidet sich von anderen Menschen durch seinen überlegenen Verstand.

In seiner Erschaffung Dupins fand Poe gewiß einen Ausgleich für sein Versagen, das zu werden, wozu seine außergewöhnlichen Geisteskräfte ihn geschaffen zu haben schienen. Er hatte von einer intellektuellen Hierarchie mit ihm selbst an der Spitze geträumt, die das kulturelle Leben der Nation leitete. Wie Dupin einen skrupellosen Politiker in Der entwendete Brief hinters Licht führt, seine ›Lösung‹ eines wirklichen New Yorker Falles in Das Geheimnis der Marie Rogêt, sein wiederholtes Übertrumpfen der Karten des Polizeipräfekten, das alles sind Poes Ersatzdemonstrationen der Überlegenheit über eine mittelmäßige, gleichgültige Gesellschaft und ihre Beamten.

Natürlich gaben Poes Detektivgeschichten dem Schreiber – und geben dem Leser – etwas Tieferes als eine so oberflächliche Befriedigung. Er verfaßte sie als ein Mittel, Schuldgefühl und Grauen zu verbannen oder im Zaum zu halten. Der verstorbene William Carlos Williams setzte in einem tiefgründigen Essay Poes Gefühl von Schuld und Grauen jener schrecklichen Bewußtheit eines überempfindsamen Menschen gleich, der nackt und zitternd auf einem neuen Kontinent steht. Dieses Schuldbewußtsein wurde von Poes angstvoller Einsicht in das Unbewußte verdoppelt. Es mußte mit irgendeiner vernünftigen Methode in Grenzen gehalten werden, und die Detektivgeschichte, die auf rationaler Schlußfolgerung aufbauende Geschichte, bot eine solche Methode.

Die Erzählung von den blutigen Morden in der Rue Morgue, Poes erste Detektivgeschichte (1841), ist eine wahre Hymne auf den analytischen Verstand, mit der Poe beabsichtigte, wie er später schrieb, »einige sehr bemerkenswerte geistige Charakterzüge meines Freundes, des Chevalier Auguste C. Dupin, herauszustellen«. Dupin verkörpert deutlich die Vernunft, Poes Hauptstütze gegen die den Geist {9}bedrängenden Schreckgespenster. Diese letzteren werden von dem mörderischen Affen dargestellt: »Zähnefletschend und mit funkelnden Augen stürzte er sich auf das junge Mädchen, grub seine furchtbaren Krallen in ihren Hals und drückte zu, bis sie tot war.«

Dupins logisch arbeitender Verstand bezwingt den Affen und erklärt das Unerklärliche – die verwüstete Wohnung hinter der verschlossenen Tür, die in den Rauchfang hinaufgestopfte Leiche des jungen Mädchens –, aber nicht, ohne einen Rest von Grauen zurückzulassen. Das Alpdruckhafte kann nicht ganz wegerklärt werden und widersteht den Zähnen der Vernunft. Ein unstabiles Gleichgewicht zwischen logischem Denken und primitiveren menschlichen Eigenschaften ist charakteristisch für die Detektivgeschichte. Für Schriftsteller und Leser ist sie eine Arena der Vorstellungskraft, wo derartige Konflikte sicher und unter künstlerischer Kontrolle ausgetragen werden können.

Die erste Detektivgeschichte hat noch andere archetypische Merkmale, besonders in der Art, wie sie erzählt wird. Der Berichterstatter ›Ich‹ ist nicht der Detektiv Dupin. Die Aufspaltung der Hauptfigur in einen Erzähler und einen Detektiv hat gewisse Vorteile: sie hilft, das Nebensächliche auszuklammern und die Lösung hinauszuschieben. Wichtiger noch, der Autor kann seinen sich selbst verkörpernden Helden ohne übermäßige Verlegenheit präsentieren und gefährlich gefühlsbefrachteten Stoff zwei oder mehr Stufen von sich selbst abgerückt behandeln, wie Poe das in der Rue Morgue tut.

Die Nachteile der gespaltenen Hauptfigur kommen deutlicher bei dem schon zur Legende gewordenen Nachfolger Dupins zum Ausdruck, nämlich bei Sherlock Holmes. Eine Projektion des Autors, der Erzähler, muß eine Haltung fast blinder Bewunderung für die zweite Projektion des Autors einnehmen, den Detektiv-Helden, und der Leser ist {10}eingeladen, Dr. Watsons Anbetung des großen Mannes zu teilen. Ein Element narzißtischer Phantasie, unzufrieden mit den Grenzen des eigenen Ichs, scheint in diese Form der traditionellen Detektivgeschichte eingewoben zu sein.

Ich vergesse nicht, daß Holmes’ modus operandi sich auf die Arbeitsweise eines lebenden Mannes stützte, auf die von Conan Doyles Freund und Lehrer Dr. Joseph Bell. Wenngleich seine ›Wissenschaft‹ letzten Endes gewöhnlich auf sorgfältige Beobachtungen hinausläuft – was Dr. Bells Stärke war –, ist Holmes doch ganz der wissenschaftliche Kriminologe. Dieser Held der Wissenschaftlichkeit könnte in der Tat der dominierende Kulturheros unserer technologischen Gesellschaft sein.

Obgleich Holmes ein in Chemie und Anatomie spezialisierter Naturwissenschaftler ist, während Dupin sich mit literarischer und psychologischer Analytik befaßte, kann man Holmes leicht als direkten Abkömmling Dupins erkennen. Seine auffälligste Eigenschaft, seine Fähigkeit, Gedanken aufgrund assoziativer Schlußfolgerungen lesen zu können, ist eine direkte Anleihe bei Dupin. Und wie Dupin ist auch er eine Projektion des Autors, der zur Zeit von Holmes’ Erschaffung ein nicht sonderlich beschäftigter junger Arzt war. Wie sein Sohn Adrian berichtet, gestand Conan Doyle auf dem Sterbebett ein: »Wenn jemand Sherlock Holmes ist, dann bin ich es.«

Holmes hatte noch andere Ahnen und indirekte Verwandte, die den Gedanken bestärken, daß er ein Porträt des Künstlers als großer Detektiv ist. Seine Drogen, seine Verschwiegenheit und Zurückgezogenheit, seine zuweilen deprimierte Stimmung (eine Eigenart, die er mit Dupin teilte) sind die Kennzeichen des romantischen Rebellen damals wie heute. Hinter Holmes stehen die Gestalten von Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts, Byron ganz sicher, wahrscheinlich Baudelaire, der Poe übersetzte und Poes Schuldbewußtsein zu neuen Grenzen vortrieb. Ich habe mich einmal für die {11}Theorie eingesetzt (und Anthony Boucher hat mir nicht widersprochen), daß ein großer Teil der Entwicklung der modernen Detektivgeschichte von Baudelaire stammt, seinem ›Dandyismus‹ und seiner Vision der Stadt als Inferno. Conan Doyles London, das Eliots Dichtung Das wüste Land beeinflußt hat, besitzt etwas von dieser Qualität.

Doch Holmes’ romantische Exzesse sind nicht der Angelpunkt seines Charakters. Sein baudelairscher Spleen und seine Rauschgiftsucht sind nur Idiosynkrasien des Genies. Holmes hat von beiden Welten das Beste mitbekommen und bleibt ein englischer Gentleman, den man auch in der höchsten Gesellschaftsschicht akzeptiert. Gedanken und Sprache von Conan Doyles Geschichten sind durchdrungen von einem Hauch froher Zufriedenheit mit einem Gesellschaftssystem, das auf Privilegien errichtet ist.

Dieses offensichtliche Merkmal ist erwähnenswert, weil es fest in einen Zweig dieser Form eingebaut ist. Nostalgie für eine privilegierte Gesellschaft ist in erster Linie verantwortlich für die Anziehungskraft der traditionellen englischen Detektivgeschichte und ihre zahllosen amerikanischen Gegenstücke. Weder Kriege noch die Auflösung von Regierungen oder Gesellschaftsschichten können jenes lange Wochenende im Landhaus stören, das oft mit mehr oder weniger unbewußter Symbolik durch irgendein Versagen der Verkehrs- oder Telefonverbindungen von der Außenwelt abgeschnitten wird.

Die zeitgenössische Welt ist das spezielle Betätigungsfeld des hartgesottenen amerikanischen Geschichtendetektivs. Dashiell Hammett, Raymond Chandler und die anderen Schriftsteller, die für das Kriminalmagazin Black Mask arbeiteten und diese Art der Detektivgeschichte entwickelten, reagierten damit bewußt gegen die anglo-amerikanische Schule, die – wie etwa in den Werken von S.S. van Dine ersichtlich – den Kontakt mit dem täglichen Leben und dessen {12}Umgangssprache verloren hatte. In der Widmung einer Sammlung seiner frühen Erzählungen (1944) an den Herausgeber von Black Mask charakterisiert Chandler jene Art Prosaliteratur, die sie abzulösen versuchten: »Für...