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Das Scherbenhaus - Psychothriller

Susanne Kliem

 

Verlag carl’s books, 2017

ISBN 9783641197438 , 336 Seiten

Format ePUB

Kopierschutz Wasserzeichen

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7,99 EUR


 

1

Die Häuser der alten Stadt duckten sich zusammen in der Kälte. Ihre Farben verschwanden mit jeder Stunde mehr, das Braun der Backsteinfassaden, das Rot der Dachpfannen, die bunten Tupfer der Autodächer. Der Schneesturm hatte am frühen Morgen eingesetzt, er trieb die Flocken in fast waagerechten Strichen durch die Straßen und fing sie ein im Hafenbecken am Fischmarkt. Weiter draußen, auf den Wiesen und Feldern, tobte er sich aus, peitschte den Flusslauf entlang, pfiff durch die Baumwipfel.

Carlas Bauernhaus stand allein, seine jahrhundertealten Holzbalken stemmten sich den Windstärken entgegen, und die niedrige, blau-weiß lackierte Holztür versteckte sich unter dem Reetdach. In der Küche brannte Licht, ein gelb leuchtendes Rechteck im eisigen Grau.

Drinnen roch es nach Zimt und Koriander, Carlas orientalisches Stew aus Kichererbsen köchelte auf dem Herd. Sie sah hinaus. Die Scheibe war leicht beschlagen und das Schneetreiben so stark, dass sie kaum etwas im Garten erkannte. Nur einzelne Spitzen des Holzzaunes, den sie im Sommer grün gestrichen hatte, lugten hervor. Im Sommer … als ihr Leben noch in Ordnung gewesen war.

Sie betrachtete die Eiskristalle auf der Fensterbank. Wie zart sie aussahen, bizarre Sterne, jeder einzigartig geformt. Doch durch die Wärme des Hauses würden sie bald tauen, miteinander verschmelzen. Und in der Nacht zu einer Eisschicht gefrieren.

Sie nahm eine Limette, rieb die Schale in eine Glasschüssel und sog den Geruch mit geschlossenen Augen ein.

Ein Motorgeräusch wurde lauter, zweimal kurzes Hupen, dann stapften Schritte auf der anderen Seite des Hauses, die Klappe am Briefkasten schepperte. Die Limette rutschte Carla aus der Hand, rollte über die Kante der Arbeitsfläche, fiel auf den Boden. Sie hob sie mit zittrigen Fingern auf, ging durch den Flur, öffnete die Haustür.

»Moin, Carla!« Der Briefträger stieg schon wieder in den Wagen.

»Moin, Ole! Und danke!«

Sie blieb unter dem Schutz des Daches, sah zu, wie er zurücksetzte und wegfuhr, machte einen tiefen Atemzug. Die Luft war so kalt, dass sie in der Lunge schmerzte. Ihre Stimme hatte fest und munter geklungen. Ole wusste nichts von ihrer Angst, hatte keine Ahnung davon, wie viel Überwindung es sie immer noch kostete, die Post aus dem Kasten zu holen. Ein ganzer Stapel heute. Sie entdeckte einen hellbraunen Umschlag, er war dicker und größer als die anderen. Mit klammen Fingern drehte sie ihn um. Dabei ließ sie die übrigen Briefe fallen. Und atmete ihre Erleichterung in eine weiße Atemwolke. Der Großbrief kam von ihrer Krankenkasse, nur eine Infobroschüre.

Er schreibt nicht mehr. Er hat es aufgegeben.

Carla fischte die anderen Umschläge aus dem Schnee, die Kanten waren schon durchweicht. Sie entdeckte den Briefkopf des Dachdeckers. Die nächste Rechnung. Sie seufzte und sah nach oben zum frisch reparierten Reetdach, das jetzt von Schnee bedeckt war. Resthof, zum Verkauf, renovierungsbedürftig, so lautete damals die Annonce. Sie hatte das letzte Wort verdrängt, denn sie war längst verliebt in die Idee, in einem alten Bauernhaus zu wohnen, vor den Toren von Stade, ihrer Heimatstadt.

Ein Groschengrab, wie schon der erste Handwerker warnend bemerkte.

Die Wärme des Ofens umarmte sie im Inneren. Sie schloss die Tür ab. Vier Wochen war es nun her, seit der Fremde ihr zum letzten Mal geschrieben hatte. Dann war er aus ihrem Leben verschwunden. Seine letzten Briefe hatte gar nicht Ole gebracht. Er musste sie selbst eingeworfen haben. In allen Fällen war sie zu Hause gewesen, hatte aber kein Auto gehört. Also war er zu Fuß gekommen.

Wie oft hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen, ohne irgendeine Erkenntnis! Und immer noch reichte ein kleiner Auslöser, und die Gedanken kamen zurück, die alten Fragen brannten in ihr. Wie oft war er hier gewesen? Hatte er sie von der Straße aus belauert? In ihr Schlafzimmer gesehen?

Das Bauernhaus der Nachbarn, etwa hundert Meter entfernt und reetgedeckt wie ihr eigenes, verbarg sich hinter einer mannshohen Hecke. Carla hätte auch so einen Sichtschutz anpflanzen sollen, einen noch höheren. Dann wäre es unmöglich für ihn gewesen, überhaupt etwas zu sehen. Es sei denn, er wäre in ihren Garten gekommen.

Trotz der Wärme fröstelte sie bei dem Gedanken, rieb sich über die Arme, legte die Post auf das Tischchen im Flur. Dann öffnete sie den hellbraunen Umschlag, warf einen Blick auf das Cover der Broschüre über Vorsorgemaßnahmen, warf beides in den Papierkorb. Für die anderen Briefe war später noch Zeit.

Angefangen hatten seine Nachstellungen mit einer Freundschaftsanfrage auf Facebook. Er hatte sich Sven Petersen genannt, ein norddeutsch und irgendwie vertraut klingender Name, sie fand auch ein winziges Foto von ihm, auf dem aber wenig zu erkennen war. Ein großer, schlanker Mann in Regenkleidung vor einem Segelboot. Seine Profilseite gab auch nicht viel her. Immerhin, als Heimatort hatte er Stade angegeben, nach seinem Geburtsjahr musste er vierunddreißig sein.

»Na, endlich mal ein Verehrer! Du hast es gut«, hatte Carlas Freundin Jule damals gewitzelt. »Vielleicht kannst du ihn bald mal treffen?«

»Merkwürdig, wenn der ungefähr in unserem Alter ist, müssten wir ihn doch längst mal hier gesehen haben, so groß ist Stade doch nicht!«, hatte Carla entgegnet.

Das war der Anfang gewesen.

Sven Petersen schien immer online zu sein, und sobald Carla sich meldete oder einen Schnappschuss postete, kommentierte er, charmant und humorvoll. Sie sah kein Problem darin, ihm zu erzählen, wo sie wohnte und ihm ihre persönliche E-Mail-Adresse zu geben. Natürlich war sie auch neugierig, was er ihr so dringend zusenden wollte.

Er schickte ein Foto. Carla erkannte nicht, was darauf abgebildet war, es schien einfach eine beige, leicht fleckige Oberfläche zu sein. Als sie ihn fragen wollte, gab es Svens Profil nicht mehr. Er war von Facebook verschwunden. E-Mails an ihn kamen zurück, die Adresse war ungültig. Und im Stader Telefonverzeichnis gab es keinen Mann mit diesem Namen, deutschlandweit dafür unzählige. Carla war zuerst beunruhigt, doch er meldete sich nicht noch einmal bei ihr. Etwa zwei Wochen später, als sie gerade aufgehört hatte, an den Vorfall zu denken, kam das nächste Foto per E-Mail. Dasselbe rätselhafte Motiv. Dazu nur ein Gruß, Dein Sven. Am selben Abend ein Anruf, bei dem sich niemand zu erkennen gab.

Carla ging zur Polizei, und was die Techniker herausfanden, machte ihr Angst. Die Fotos zeigten menschliche Haut. Stark vergrößert und deshalb fast nicht erkennbar.

Carla änderte ihre E-Mail-Adresse, löschte ihr Facebook-Profil, beantragte eine geheime Telefonnummer, die sie nur ihrer Familie und engsten Freunden mitteilte. Danach war Ruhe. Genau so lange, bis sie sich wieder sicher fühlte. Dann kam der erste Brief per Post an. Gruß, Sven. Dein Verehrer.

Sie warf einen Blick auf die unterste Schublade im Küchenschrank. Verborgen hinter dem wurmstichigen Holz, unter den gefalteten Tischdecken lagen weitere Briefe und Fotos, die immer diese Ausschnitte von Haut zeigten.

Sie hatte sie zerreißen und wegwerfen wollen, doch die Polizei riet ihr, sie aufzubewahren, damit sie irgendwann als Beweismittel dienen konnten. Falls der Absender einen Fehler machte und seine wahre Identität preisgab.

Eines Morgens riss Carla einen neuen Umschlag auf und stieß auf das Foto, das ihren Atem zum Stocken brachte. Wieder Haut. Aber diesmal klaffte eine Schnittwunde darin, und ein dünnes Rinnsal Blut lief heraus.

Nach diesem Vorfall kam Jule fast täglich vorbei, um die Post für sie zu öffnen. Sie verschwieg Carla, was auf den Fotos zu sehen war, ließ sie einfach verschwinden. Aber Carla fand sie, in Jules Wohnung versteckt. Sie musste Bescheid darüber wissen, was der Fremde trieb. Sie sah, dass die Schnitte größer und tiefer wurden, dass das Blut längst kein dünnes Rinnsal mehr bildete, und ihre Angst wuchs immer mehr. Wessen Haut war das auf den Bildern? Hatte er jemanden in seiner Gewalt, den er quälte? Vielleicht sogar zu Tode folterte? Oder waren das seine Fantasien, das, was er mit ihr machen wollte?

Der Horror steigerte sich weiter. Mit einem Brief, der mehr als den üblichen knappen Gruß enthielt: Alles geht irgendwann zu Ende. Auch meine große Liebe. Bald ist mein Herz frei für dich. Die Worte hatten sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Und sein letztes Foto. Wieder ein Stück Haut. Eine klaffende Wunde, in der ein Messer steckte. Blut lief heraus.

Das Messer auf dem Bild hatte ungewöhnlich ausgesehen, mit einem leicht gebogenen Holzgriff. Ein Zeichen war eingeprägt. Vielleicht ein Buchstabe oder eine Zahl? Ein Firmenlogo? Das Foto war unscharf. Aber die Polizei hatte Techniker, Spezialisten. Das Messer musste ihnen einen Hinweis auf den Täter geben! Das hatte Carla damals gehofft. Aber sie hatte sich getäuscht.

Das Telefon läutete, und Carla schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie lief in den Flur und sah auf das Display. Eine Berliner Vorwahl. »Brendel?«

»Carla, bist du das?« Eine Frauenstimme, die ihr bekannt vorkam. Sehr vertraut sogar … »Ja?«

»Ich bin es, Ellen! Deine Mutter hat mir deine neue Nummer gegeben.«

Wie lange war das her, dass ihre Halbschwester und sie telefoniert hatten? Mindestens ein Jahr … »Wie schön, dass du dich meldest. Wie geht es dir?«

»Gut. Danke. Richtig gut. Und dir?« Ellens Stimme klang merkwürdig, nach aufgesetzter Munterkeit, Carla spürte die Anstrengung dahinter. Sie antwortete im selben...